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Kapitel 2 - Unterwegs

Ich kam zu mir, obwohl ich das Gefühl hatte, schon eine ganze Weile in einem Dämmerungszustand einiges wahrgenommen zu haben. Mit dem Gesicht nach unten lag ich auf einer harten Fläche, die stark vibrierte. Ein tiefes, eintöniges Geräusch dröhnte in meinem Kopf. Ich nahm die Hände, die sich halb auf meinem Rücken befanden, hoch und presste mir die Ohren zu. Das schwingende Geräusch ließ sich dadurch etwas abdämpfen, aber es drang nach wie vor in meinen Körper ein. In meinem Mund und meiner Nase hing diese kreideartige Substanz, die ich schon beim Eintauchen in den Nebel auf dem Feld wahrgenommen hatte. Eigentlich hätte ich mich fragen müssen, wo ich war, doch das tat ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Ich tastete mich mit verminderter Wahrnehmung schrittweise in diese mir unbekannte Atmosphäre hinein, krampfhaft bemüht, mich zu orientieren, wobei ich bewegungslos in derselben Stellung, Gesicht nach unten, liegen blieb. Selbst die Augen öffnete ich nicht. Geräusche, Geschmack, Vibrationen und eine ganze Anzahl undefinierbarer Dinge, die in meinem Rücken lauerten, ergaben für mich zwar eine Art Bild, das mir aber nicht klarmachen konnte, was um mich herum geschah. Ich kämpfte mit mir selbst, rang mir Vorstellungen ab, mühsam atmend, beide Ohren zugepresst, die Augen geschlossen, bis ich begriff, dass ich mich damit wehrlos auslieferte.

Aber wem lieferte ich mich aus? Ich musste damit beginnen, die Realität der Situation – und somit auch die Realität der Bedrohung, der ich sicher ausgesetzt war – zu erfassen.

Vorsichtig drehte ich meinen Kopf, öffnete die Augen. Eine starke, grellweiße Helligkeit blendete mich, und mein Blick kehrte in die rötlich-dumpfe Abschirmung meiner Lider zurück, nicht ohne dort einem stetig wiederkehrenden Blitzen ausgesetzt zu sein. Woher kam diese Helligkeit? Ein solches Licht kannte ich nicht. Ich öffnete die Augen nochmals. Diesmal schafften sie es, der Lichtwand standzuhalten. Außer diesem intensiven Weiß konnte ich jedoch nichts sehen, weil es sonst offenbar nichts gab – ich starrte gewissermaßen in ein weißes Nichts hinein.

Ich musste einen Weg finden, mich aus meiner Wehrlosigkeit zu befreien. Ohne Orientierung war das schwer. Sollte ich mich bewegen? Und wenn jemand über mir stand, der mich für tot hielt? Vielleicht lebte ich nur noch, weil sie mich für tot hielten. Sie? Natürlich, die Männer, die mich eingefangen hatten! Sie beobachteten mich bestimmt in diesem Augenblick. Und Martina? Ich spürte den Zwang, nach ihr zu rufen. Ihr Name quälte mich, saß eingezwängt fest, wollte mir laut entschlüpfen. Aber ich nahm mich zusammen, hielt ihn zurück.

Unmöglich! Ich konnte nicht ewig so liegen bleiben und in dieses grelle Weiß blicken. Dazu folterte mich das brummige Dröhnen. Stellenweise glaubte ich, das Geräusch habe seinen Ursprung in meinem Schädel. Doch das war nicht so, der ganze Boden unter mir vibrierte ja mit.

Plötzlich war da eine eigenartige Stimme. Ihr Klang schien vorwiegend mit der Nase erzeugt zu sein und aus dieser richtiggehend herausgepresst zu werden. Das erstaunte mich jedoch nicht so sehr wie die Worte, die, soweit ich das verstand, ausschließlich aus Vokalen wie A, E und O zusammengesetzt waren. Die einzelnen Sätze – wenn es überhaupt Sätze waren – wurden sie sehr schnell gesprochen. Ich fragte mich, was das zu bedeuten hatte.

Die Männer, drei oder vier, soweit ich das erahnen konnte, schienen dicht bei mir zu stehen. Wieder sprach einer. Ein anderer antwortete. Die Stimmen unterschieden sich voneinander, nicht stark, doch ich konnte sie auseinanderhalten.

Vorsichtig nahm ich die Hände von meinen Ohren weg, drehte mich langsam. Meine Augen hatten sich an das grelle Weiß gewöhnt, ich konnte mich nun, ohne weiterhin so stark geblendet zu werden, umschauen. Das weiße Nichts hatte an Weite verloren. Ich nahm eine Art Steinwand wahr, die eine fremdartige Leuchtkraft zu besitzen schien. Die Art dieses Steins, der stellenweise sehr porös schien, und das mehlige Gefühl in meinem Mund, in meiner Nase und inzwischen auch in meinem Rachen, passten irgendwie zusammen. Soviel begriff ich. Und die Männer? Ich hatte mich bereits bewegt. Sie reagierten nicht darauf. Also bewegte ich mich weiter, bis ich fast auf dem Rücken lag.

Nun konnte ich sie sehen. Sie standen tatsächlich nur wenige Schritte von mir entfernt nebeneinander. Drei waren es. Sie trugen schwarze Gewänder aus grobmaschigem Tuch, das mit einer feinen, weißen Schicht bestäubt war. Ihre Gesichter hatten eine leicht bronzefarbene Tönung, zum Teil mit dunkelbraunen Flecken. Ihre Augen konnte ich kaum erkennen, da sie sehr klein waren. Mir fielen ihre schmalen Lippen auf, die einen sehr breiten Mund zeichneten, und das bei allen drei. Überhaupt hatten sie eine starke Ähnlichkeit, wenn ich vereinzelt auch kleine Unterschiede, vor allem was die braunen Flecken betraf, wahrnahm. Der eine gab wieder diese von As, Es und Os geprägte Sprache von sich. Die anderen hörten ihm zu.

Gab er irgendwelche Befehle, Befehle, die gar mich betrafen? Ich sah mich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Aber dazu musste ich erst einmal wissen, wo ich mich befand. Sie hatten mich vom Feld her in diesen Nebel gestoßen. Mit dem Kopf war ich gegen etwas Hartes geprallt. Hatte ich eine Verletzung? Ich spürte keinen Schmerz. Wie lange war es her, seit sie mich festgenommen hatten? Hielt ich mich in einem Raum auf? Es sah ganz so aus. Sollte ich versuchen, mich zu erheben? Wie würden die Männer darauf reagieren? Sie blickten nie in meine Richtung, das fiel mir auf. Verfügten sie über die Sicherheit, mich in ihrer Hand zu haben?

Warum zweifelte ich plötzlich daran? Es war mehr als bloß eine Idee. Die Frage tauchte klar und deutlich auf, schrie mich an: Waren diese Männer überhaupt Menschen? Sie sahen irgendwie wie Menschen aus, aber eben nur irgendwie.

Zwei der Männer debattierten nun heftig miteinander. Der eine bewegte dazu seine Arme, die nackt seitlich unter dem schwarzen, grobmaschigen Gewand herausragten. Warum ließ man mich unbeachtet? Meine Angst wurde größer. Was genau war geschehen? Wie lange hatte ich das Bewusstsein verloren? Und wo war Martina? Die Männer hatten uns mitten im Liebesakt überrascht. Meine Hände fassten an meinen Oberkörper, der nackt war. Ansonsten trug ich nur eine Hose. Die Schuhe hatte ich also auch zurückgelassen. Und mein Wagen? Dieser weiße Raum hatte bestimmt einen Ausgang. Und von dort aus könnte ich vielleicht zu meinem Wagen fliehen.

Ich rutschte auf den Knien näher zur Wand hinter mir hin, erhob mich dann. Ich stand nicht sehr sicher auf den Füßen, wagte es aber nicht, mich an der Wand abzustützen. Obwohl ich nichts von dieser Substanz, die sich wie feingemahlene Kreide anfühlte, auf meiner Haut entdecken konnte, kam es mir vor, als sei ich an meinem ganzen Körper damit in Berührung gekommen. Dass ich schwitzte, verstärkte diesen Eindruck noch. Das Vibrieren des Geräusches, das nun für meinen Eindruck etwas höher schwang, kribbelte durch meine Füße und pflanzte sich bis zu meinen Knien fort. Ich machte einen Schritt, wartete ab. Wohin sollte ich gehen? Ich sah nur Wände um mich. Doch konnte ich mich täuschen. Möglich, dass das Licht eine mögliche Lücke überstrahlte. Die Gewissheit, in den Raum hineingekommen zu sein, und die Anwesenheit von drei Männern, die aus diesem bestimmt auch wieder herauswollten, gaben mir eine schwache Hoffnung.

Was mich mehr beschäftigte, war die Tatsache, dass die Männer so taten, als sähen sie mich nicht. Das machte mich unsicher. Es kam mir vor, als hätten sie die Absicht, mit mir ein gemeines Spiel zu treiben. Und wieder die Frage: Waren diese Männer überhaupt Menschen? Wenn nicht, was waren sie dann? Natürlich kannte auch ich, wie die meisten Menschen, den Gedanken, dass es irgendwo andere intelligente Lebewesen geben könnte. Außerirdische, wie sie oft bezeichnet wurden. Doch hier nun tatsächlich mit sogenannten Außerirdischen konfrontiert zu sein, schien mir, trotz der Eigenartigkeit meiner Lage, einfach absurd. Trieb gar jemand einen Scherz mit mir? Martina war verheiratet. Vielleicht steckte ihr Mann dahinter?

Nein, es war kein Scherz, das begriff ich beim Anblick der drei Männer. Es war echt, außer ich fiel auf ein schier unglaubliches inszeniertes Machwerk herein. Doch wer würde um meinetwillen schon so etwas veranstalten! Nicht einmal die tief in mir pochende Angst konnte eine solche Vermessenheit herauf beschwören.

Einer der Männer schritt davon, die zwei anderen folgten ihm. Sie traten an einer Stelle durch das Weiß hindurch, die ich vorhin als Wand zu sehen geglaubt hatte.

Ich ging ihnen nach. Tatsächlich gab es in der weißen Wand eine nicht sehr breite, jedoch ziemlich hohe Öffnung. Ich achtete noch immer darauf, nicht mit dem leuchtenden Stein in Kontakt zu kommen. Ich machte einige Schritte, blieb unmittelbar vor der Öffnung stehen, um einen genügend großen Abstand zu den drei Männern zu halten. Sie befanden sich in einem Raum nebenan, der genauso weiß war wie derjenige, in dem ich mich noch aufhielt. Ich schlich mich durch die Öffnung. Keiner der Männer beachtete mich. Einer sprach wieder. Ich beobachtete sie voller Aufregung. Mir fielen ihre Haare auf, die sehr kurz geschnitten waren, schwarze Stoppeln, die weit in den Nacken hineinwuchsen und an dessen Spitzen diese mehlige Substanz haftete.

Warum machte ich mich nicht bemerkbar? Sie wussten doch, dass ich hier war. Also mussten sie mich zur Kenntnis nehmen. Ihr Spiel der Ignoranz verfehlte zwar nicht seine Wirkung. Doch war ich überhaupt bereit, sie herauszufordern? Und in mir brannte die Frage nach dem Sinn meiner Gefangennahme. Ich hatte ein Recht, zu erfahren, warum sie mich festhielten.

Meine angstgebundene Vernunft blockierte selbst ein schwaches Räuspern, das ich von mir geben wollte, und ich verhielt mich weiterhin still. Ab und zu blickte einer der Männer in meine Richtung, doch es schien mir, als starre er mehr durch die Öffnung, vor der ich stand. Sie regten sich in ihrer seltsamen Sprache auf, so hörte es sich für mich jedenfalls an. Hatten sie ein Problem? Ein Problem mit mir? Wussten sie nicht, ob sich mich gleich töten sollten? Oder zuerst foltern? Was dachte ich da! Gut, sie hatten mich gewaltsam festgenommen. Seit ich mich aber hier in diesen weißen Räumen befand, griff mich niemand mehr an. Irgendwie hatte ich sogar das Gefühl, dass wenn ich einen Ausgang fände, sie mich ohne Widerstand gehen lassen würden. Doch ich fand keinen Ausgang, oder besser, mir fehlte der Mut, mich auf die Suche danach zu machen.

Noch immer konnte ich nur drei Männer sehen. Wo aber waren die anderen? Soweit ich mich erinnerte, hatten uns auf dem Feld draußen einige mehr direkt oder indirekt bedroht. Gab es noch weitere solche Räume. Ich vermutete es. Vielleicht gab es sogar ein ganzes System von Räumen. Unterirdische Räume? Möglich, denn ich war bisher noch keinem Fenster begegnet.

Die Männer verließen auch diesen Raum durch eine von Licht überblendete Öffnung. Ich eilte ihnen nach, denn sie bewegten sich sehr schnell voran. Wir passierten zwei weitere weiße Räume. Ich hatte mich also nicht getäuscht. Nirgends trafen wir auf andere Männer. Das Vibrieren dröhnte ununterbrochen fort, doch ich begann mich daran zu gewöhnen. Da ich barfuß war, kam ich praktisch geräuschlos voran. Worauf ich bisher allerdings nicht geachtet hatte, war der Boden. Er bestand nämlich aus demselben weißen Material wie die Wände, und meine Füße berührten ihn direkt. Ich empfand aber nichts Besonderes. Die Temperatur schien mir normal.

Seltsamerweise sah ich diesen kreideartigen Staub nur auf den Gewändern und den Haarspitzen der drei Männer. Versickerte er bei mir in der Haut? Es war der falsche Moment, mir darüber Gedanken zu machen. Vielmehr lag mir daran, die Männer im Auge zu behalten. Wenn sie auf dem Weg nach draußen waren, so bot sich mir damit garantiert eine Chance zur Flucht.

Im vierten Raum stießen auf andere Männer. Ich blieb stehen, wich ein wenig zurück, als könnte ich mich dadurch besser verbergen. Diese anderen Männer saßen auf rötlichen Würfeln, die einen Halbkreis bildeten. Auch sie trugen diese schwarzen Gewänder und schauten ähnlich aus wie die drei, denen ich bis hierher gefolgt war. Ich blieb stehen. Für einen Moment verlor ich sogar die ständig in mir bohrende Angst. Gab es das denn wirklich? Oder hatte ich mich in eine moderne Theateraufführung verirrt? Schon nahm die Angst in mir wieder ihren Platz ein. Der Raum mit den rötlichen Würfeln war ebenfalls von diesem leuchtenden Weiß erfüllt. Doch vor dem Halbkreis, wo die Männer, alle mit leicht vorgebeugten Oberkörpern, saßen, entdeckte ich auf dem Boden ein dunkles Quadrat. Das Vibrieren war hier um einiges schwächer. Doch was taten die Männer? Sie schauten in dieses dunkle, in dieses schwarze Quadrat hinein.

Mich überkam der Drang, näher zu treten. Doch dazu hätte ich an den drei Männern, die neben dem Durchgang standen, vorbeigehen müssen. Sie beachteten mich nach wie vor nicht. Vielleicht gehörte es zu ihrem Plan, mich nicht zu beachten. Einer der sitzenden Männer – fünf waren es insgesamt – hob den Kopf. Seine Augen waren nur zwei schmale Striche in dem bronzefarbenen Gesicht. Er gab ebenfalls diese seltsame Sprache von sich, wandte sich damit an die drei Männer. Dabei hätte er mich bemerken müssen. Aber er tat es nicht. Ich bewegte mich nicht von der Stelle. Vollkommen steif verhielt ich mich. Meine Hände waren eiskalt, im Gegensatz zu meinen nackten Füssen, die sich auf dem Boden angenehm warm anfühlten.

Bewegten wir uns, samt den Räumen? Daher dieses Geräusch. Warum trat ich nicht näher und schaute mir an, was die Männer da genau machten? Ich hatte nichts zu verlieren. Ganz vorsichtig versuchte ich es. Der Mann, der vorhin gesprochen hatte, hatte seinen Kopf wieder gesenkt und starrte in das schwarze Quadrat hinein. Nun war ich auf der Höhe der drei Männer angelangt. Jetzt mussten sie auf mich reagieren. Der eine drehte sich tatsächlich um. Kam er auf mich zu? Nein. Seine schmalen Augen würdigten mich keines Blickes. Auch die anderen beachteten mich nicht. Die drei Männer gingen knapp an mir vorbei und verließen den Raum. Warum dieses Spiel? Wollten sie mich damit verwirren?

Das schwarze Quadrat zog mich magisch an. Da die auf den Würfeln sitzenden Männer sehr beschäftigt wirkten, wagte ich es, mich ihnen und vor allem dem schwarzen Quadrat noch mehr zu nähern. Dann erstarrte ich.

Dieses schwarze Quadrat war ein Fenster, aber kein normales Fenster. Ich erkannte, ohne eine Sekunde zu zweifeln und fast schon wie in einem Schock, um es was es sich tatsächlich handeln musste! Es war ein Fenster zum Weltall! Die Unfassbarkeit dieser Feststellung war so ungeheuerlich, dass mir die Tränen in die Augen schössen. Ein starkes Gefühl von Verlassenheit und absoluter Einsamkeit schaffte eine schier unerträgliche Leere in mir. Von Abenteuer keine Spur. Mein Blick wurde von diesem Schwarz herab gerissen, ich drohte mit meiner ganzen Person vornüber zu kippen und abzustürzen.

Ein Fenster zum Weltall! Warum war ich mir so sicher, dass ich da nicht einfach in die Nacht hinausblickte? Und die seltsamen Männer auf ihren Würfeln? Steuerten sie ein Raumschiff? Verrückt war das! Ich hätte beinah laut lachen müssen. Dabei liefen mir die Tränen herunter. Allein im Weltall! Hatte ich davon nicht schon in unruhigen Nächten geräumt? Und nun hatte jemand den Strang durchgetrennt. Ich fiel von der Erde weg.

Nachdem die ersten inneren Erschütterungen ein wenig abgeklungen waren, fragte ich mich, ob ich in einer solchen Lage überhaupt überleben konnte, wobei ich schon wieder von der Unfassbarkeit meiner Situation eingeholt wurde.

Meine schlimmsten Visionen, die ich in meinem bisherigen Leben gehabt hatte, waren nichts dagegen. Jetzt saß ich mittendrin. Ich musste wieder weinen. Ob ich dabei Geräusche machte, wusste ich nicht. Vielleicht sprach ich auch mit mir selbst. Was interessierten mich die Männer auf ihren Würfeln! Sie würden nie Mitleid mit mir haben. Wer waren sie denn überhaupt? Außerirdische? Oder Menschen mit einer geheimen Mission, von der niemand auf der Erde etwas wissen durfte? Ich dachte das alles nicht wirklich. Ich schwamm in einer Flut von Ängsten, stieß gegen die Klippen des Schreckens. Mein Ich torkelte in einer kleinen Nussschale hin und her, immer hart an der Grenze umzukippen und unterzutauchen, hinab in dieses Schwarz, das da vor diesem Fenster lauerte.

Ich fiel auf die Knie. Wenn es eine Gerechtigkeit gab, so musste sie mich in diesem Augenblick erlösen. Die Hoffnung war umsonst. Es gab nur das Gesetz des Überlebens, meines Überlebens. Hatte ich denn nicht eben begriffen, dass ich mich in einem Raumschiff befand? Auf was wartete ich also noch? Warum erhob ich mich nicht? Die Stärke musste wiedergefunden werden. Ansonsten war ich hoffnungslos verloren. Unterwegs im Weltraum. Es holte mich erneut ein. Mein Geist war nicht dazu gemacht, dies so schnell zu verarbeiten. Es war zu viel. Ich stürzte seitlich zu Boden und verlor ein zweites Mal das Bewusstsein.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich dicht vor dem schwarzen Quadrat. Ich hob meinen Kopf, der sich schwer anfühlte, hoch und schaute mich um. Die fünf Männer saßen noch immer auf ihren Würfeln, doch nun sprachen sie miteinander. Ich stand auf, wobei mich sofort ein starkes Schwindelgefühl befiel. Meine Hand suchte seitlich Halt an der weißen Wand. Wie ich es schon die ganze Zeit an meinen Füssen erlebt hatte, verspürte ich nun auch in der Handinnenfläche keine Hitze oder dergleichen. Das Leuchten des Steines war also nicht mit einer Hitzeentwicklung verbunden.

Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich ja ganz normal atmen konnte. Ich hatte das bisher nicht in Frage gestellt. Nun aber, da ich wusste, wo ich mich jedenfalls mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit befand, fiel mir das auf.

Nachdem ich, wie zur eigenen Demonstration, einige Male kräftig die Luft durch Nase und Mund eingesogen und ausgestoßen hatte, drehte ich mich um und schritt auf den Durchgang zu. Die fünf Männer auf den Würfeln beachteten mich nicht. Wie ich vor dem Durchgang stand, wandte ich ihnen, mit einer halben Drehung des Oberkörpers, nochmals das Gesicht zu. Keiner zeigte auch nur das geringste Interesse an mir. Also verließ ich den Raum.

Ich ging den Weg, auf dem ich den drei Männern vorhin gefolgt war, zurück. Dabei tastete ich fast ununterbrochen nach der Wand, um zu überprüfen, ob sie sich hier genauso anfühlte wie in dem Raum mit den rötlichen Würfeln. Ich stellte, bis auf eine teilweise porösere Beschaffenheit, keinen Unterschied fest. Obwohl mir schwindelig war, fühlte ich neue Kraft in mir aufsteigen. Diese Männer – nein, ich durfte nun mit ziemlicher Gewissheit diese Außerirdischen sagen –, also diese Außerirdischen nahmen mich aus irgendeinem Grund einfach nicht zur Kenntnis. Lag nicht gerade darin meine Chance? Vielleicht hatten sie geglaubt, in mir jemand anderes festzunehmen, und nun, nachdem es sich als Irrtum entpuppt hatte, wollten sie nichts mehr von mir wissen? Und da wir schon unterwegs waren, konnten oder wollten sie das Raumschiff nicht mehr stoppen. Es hätte auch keinen Sinn gehabt, meinetwegen eine Mission zu unterbrechen. Die verrücktesten Geschichten reimte ich mir zusammen. Und gleichzeitig ging ich umher, tastend nach dem leuchtenden Stein, wie ein Kind, das sich an seiner nächsten Umgebung zu orientieren versucht, begleitet von einer Mischung aus Faszination und Angst.

Ich kam wieder in dem Raum an, in dem ich aus meiner ersten Bewusstlosigkeit erwacht war.

War ich der einzig Mensch in diesem Raumschiff, in dem es keinerlei Technik – zumindest keine für mich ersichtliche – gab. Dieses Vibrieren allerdings, das ich in diesem Raum wieder stärker wahrnahm, musste von einer technischen Apparatur stammen. Was mich allerdings erstaunte, war die Rechteckigkeit der Räume. Entsprach das der funktionstüchtigen Form eines Raumschiffs? Konnte damit überhaupt geflogen werden? Im All herrschte zwar kein Luftwiderstand. Doch mussten wir von der Erde gestartet sein. Eine andere Erklärung fand ich nicht.

Diese Fragen an mich zu stellen, beruhigte mich ein wenig. Ich fing an, mich systematisch mit den neuen Umständen auseinander zu setzen. Vier Räume hatte ich nun kennengelernt. Im vordersten saßen die fünf Männer auf ihren Würfeln. Dort konnte man durch ein Quadrat im Boden, dessen war ich mir sicher, in den Weltraum hinausblicken. Alle vier Räume waren gleichgroß. Und alle aus demselben Material. Das stand einmal fest. Doch das allein machte mit Bestimmtheit noch nicht das ganze Raumschiff aus. Bis jetzt hatte ich nur die Durchgänge, die die vier mir bekannten Räume miteinander verbanden, passiert. Es musste aber noch weitere solcher Durchgänge geben. Das bewies mir schon die Tatsache, dass ich den drei Männern nicht mehr begegnete. Wo hielten sie sich auf? Das helle Licht der Wände hatte mich schon einmal getäuscht. Das Schwarze Quadrat im vordersten Raum zeigte mir an, dass ich mich so ziemlich sicher in der untersten Zone aufhielt. Also vermutete ich seitlich oder über mir noch weitere Räume. Ich fasste den Entschluss, mich auf die Suche zu machen.

Möglichst ruhig schlich ich mich voran. Im zweiten Raum suchte ich Wände und Decke ab. Dabei berührte ich nichts mit meinen Händen, obwohl ich die Ungefährlichkeit des Steins vorhin ja selbst überprüft hatte. Doch er konnte andere, mir noch nicht bekannte Gefahren in sich bergen. Nirgends sah ich aber eine zusätzliche Öffnung. Ich kam in den dritten Raum, wobei ich mich nicht darum kümmerte, dass mich die fünf Männer, die im vierten Raum auf ihren Würfeln saßen, durch den Durchgang vielleicht sehen konnten.

Das helle Licht ergoss sich über die Wände und ließ sie ohne Lücke erscheinen. Aber es musste eine Lücke geben. Wenn nicht in der Wand, dann in der Decke. Angestrengt schaute ich hoch, bis mir der Nacken schmerzte. Ich fand nichts. Zwanghaft kniete ich mich auf den Boden und suchte dort auf allen vieren weiter.

Was war mit Martina geschehen? Hielt sie sich vielleicht auch hier im Raumschiff auf? Dieser Gedanke erwärmte mich für einige Sekunden. Niemals, Martina durfte nicht hier sein, schoss es mir durch den Kopf, denn das wäre ihr sicherer Tod. Wenn es mir schon enorme Mühe bereitete, mit diesen unfassbaren Umständen fertig zu werden, wie würde es da erst Martina ergehen! Ich beschwor mich selbst, eisern daran zu glauben, dass sie sich keinesfalls im Raumschiff befände. Damit konnte ich mich wirklich nicht auch noch belasten.

Ich legte mich auf den Boden, streckte mich aus, starrte zur Decke empor, die nicht besonders hoch und ebenfalls weiß war. Diese Eintönigkeit wirkte immer unangenehmer auf mich. Das Weiß drang in mich ein, schien mich von innen her auszubleichen. Unerwartet und mit absoluter Dringlichkeit fragte ich mich nach der Zeit in Stunden und Minuten. Wie spät war es? Natürlich, ich besaß ja eine Armbanduhr. In auf dem Boden liegender Stellung verharrend, hob ich den Arm hoch. Die Uhr befand sich noch an meinem Handgelenk. Ich drehte mir das Zifferblatt zu. Das Glas war an mehrere Stellen zersprungen, die Zeiger abgebrochen. Ging das auf den Kampf im Feld unten zurück? Oder hatte es andere Gründe? Doch es war sowieso unsinnig, mich im Weltall um die Tageszeit zu kümmern.

Würde es mir etwas nützen, zu wissen, dass es 22.30 Uhr ist? Mit zwei Fingern der anderen Hand griff ich unter das Lederband, mit dem die Uhr an meinem Arm befestigt war, und riss sie mit einem kräftigen Ruck weg. Den Schwung, sie gegen die Wand zu schleudern, konnte ich gerade noch abstoppen. Ich ließ sie, mit einer Geste der Gleichgültigkeit, neben mir auf den Boden fallen. Dann erhob ich mich, betrat den vierten Raum und schritt auf das schwarze Quadrat zu. Die Außerirdischen hatten ihre Köpfe darüber gebeugt.

Laut und deutlich fragte ich: »Wo bin ich hier?«

Meine Stimme klang seltsam dumpf in dem steinernen Raum. Einer der Außerirdischen hob den Kopf hoch, lauschte, zeigte dann mit ausgestrecktem Finger nach oben zur Decke.

»Was wollt ihr von mir?«, sagte ich weiter.

Ein anderer, und zwar der, der auf dem mittleren der fünf Würfel saß, sprach, ohne den Kopf hochzunehmen, einige Laute in dieser für mich unverständlichen Sprache. Meine Annahme, sie würden nun in irgendeiner Weise auf mich reagieren, verflog, denn sie vertieften sich gleich wieder ins schwarze Quadrat. Damit fand die ganze Aktion ihr Ende.

Verstanden sie mich nicht? Natürlich, sie unterhielten sich ja in einer eigenen Sprache, die sich von der meinen stark unterschied. Doch das allein konnte nicht der Grund für ihr Benehmen sein. Sie wollten offenbar nichts von mir wissen. Aber warum? Oder durften sie sich nicht mit mir abgeben? Ein Befehl von einer höheren Stelle, die anordnete, mich in Ruhe zu lassen?

»Könnt ihr mich verstehen?«, sprach ich die Außerirdischen nochmals an. »Oder dürft ihr nicht mit mir reden?« Es war Unsinn, was ich da tat. Sie starrten hinaus in den Weltraum, ohne sich auch nur für den Bruchteil einer Sekunde um mich zu kümmern. Der eine hatte aber vorhin nach oben zur Decke gezeigt. Bedeutete das nicht, dass sich dort etwas befand, das mit mir im Zusammenhang stand? Ich fragte mich zu viel. Wie sehr hätte es mich beruhigt, wenigstens mit einem der Außerirdischen sprechen zu können. Doch da war wohl nichts zu machen.

Ich drehte mich um, blieb noch eine Weile stehen, den Rücken dem schwarzen Quadrat zugewandt, bevor ich den Durchgang passierte. Dann blieb ich erneut stehen, ja, ich erstarrte.

Die Uhr? Wo war die Uhr? Sie lag nicht mehr auf dem Boden. Ich sackte in die Knie, streckte mich aus, die Arme weit nach vorne. Meine Finger griffen an der Stelle, wo ich die Uhr fallen gelassen hatte, ins Leere. Sie war nicht mehr da.

»Was habt ihr mit mir vor?«, rief ich laut.

Niemand gab mir eine Antwort.

Der Gedanke, noch längere Zeit hier in diesen Räumen verbringen zu müssen, erfüllte mich mit Schrecken, aber auch mit einer enormen Wut. Mein ganzer Körper fing zu zittern an, und das hatte nichts mit dem Vibrieren zu tun, dem ich nach wie vor ausgesetzt war. Warum geschah nichts? Hatte ich die ganze Zeit vorhin noch über dem Abgrund gehangen, den Blick zwar schon in die Tiefe gerichtet, so stürzte ich jetzt hilflos ab. Die Unerträglichkeit der Situation schlug erbarmungslos über mir zusammen. Ich rief, richtete mich auf, torkelte im hoffnungslosen Weiß des Raums herum. Wild schlug ich um mich, traf gegen den Stein, hämmernd, bis mir die Fäuste schmerzten. Die Erschöpfung holte mich sehr schnell ein, doch die Wut peitschte mich weiterhin voran. Das Gefängnis musste aufgebrochen werden! Sollte das Raumschiff nur bersten! Das Schwarz des Alls würde mich verschlucken – dann hätte wenigstens diese panische Ungewissheit ein Ende.

Keuchend lehnte ich mich an die Wand, mit hängenden Armen, gelockerten Fäusten. Wo war ich? Täuschte ich mich wirklich nicht? Gedanken sägten sich mit frostiger Klarheit durch den Morast meiner Gefühle, die mich in einen neuen Anfall hineinzutreiben drohten. »Was wollt ihr von mir!«, brüllte ich.

Mitten im Beischlaf hatten sie mich weggeraubt. Mit Gewalt entführt. Und nun überließen sich mich einfach mir selbst. Ich war allein, furchtbar allein. Hier weiter existieren zu müssen war das Gegenteil von Leben. Stunden, Tage, Monate, Jahre – was bedeutete das hier für mich! Die Zerstörung meiner Uhr zeigte doch an, dass es keine Zeit mehr gab. Löste ich mich dadurch nicht auf? Ich taumelte mit Lichtgeschwindigkeit durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Da waren keine Punkte mehr, auf die ich mich beziehen konnte.

Vielleicht stand ich stundenlang so da. Kein Hunger, nichts. Nur Luft, um zu atmen.

Ein neues Geräusch ließ mich aufhorchen. Ein höherer Klang mischte sich in das tiefe Vibrieren. Und immer deutlicher konnte ich die Richtung, aus der er kam, orten. Mein Blick fraß sich an der mir gegenüberliegenden Wand fest. Das Weiß flimmerte. Wurde die Helligkeit allmählich zu viel für meine Augen? Der Klang kam näher. Was war das? Ein feiner Staub schien sich vor der Wand, die ich ununterbrochen fixierte, auszubreiten. Das Flimmern verstärkte sich, der hohe Klang wurde lauter, viel lauter.

Es war kaum zu glauben, aber gegenüber erschienen hinter dem flimmernden Weiß die Gestalten der drei Außerirdischen von vorhin. In der Wand löste sich eine Fläche auf, durch die man hindurchtreten konnte. Der Stein, poröser und poröser werdend, wurde zu wirbelndem Staub. Die harte Materie verwandelte sich in eine Art Nebel. Der vorne und zugleich in der Mitte stehende Außerirdische hatte ein seltsames Gerät in der Hand. Ich begriff sofort, dass er damit diesen singenden Klang erzeugte. Es war ein schwarzer Trichter, der hinten einen ebenfalls schwarzen Resonanzkasten hatte, über den sich eine Saite spannte. Der Außerirdische zog mit einem dünnen und nicht sehr langen Bogen darüber. Auf diese Weise brachte er sie zum Schwingen. Der Trichter verstärkte den dabei entstehenden Klang und warf ihn gegen den weißen Stein. Ich nahm an, dass er sich infolge der Schwingung des Klangs auflöste.

Die drei Außerirdischen befanden sich nun in dem Raum, in dem ich, restlos erstaunt, an der Wand stand. Sie beachteten mich auch diesmal nicht, sondern passierten den Durchgang zum Raum mit den fünf Würfeln. Ich konnte meinen Blick nur kurz vom flimmernden Teil der gegenüberliegenden Wand losreißen. Gespannt wartete ich darauf, ob sich die Materie wieder verdichtete. Tatsächlich, der wirbelnde Staub zog sich zusammen, zeigte erste Spuren eines porösen Steins. Warum rannte ich nicht einfach los und versuchte, noch durch die frisch entstandene Öffnung hindurch zu schlüpfen? Stattdessen verharrte ich bewegungslos. Es war inzwischen auch zu spät, denn die Wand hatte sich wieder geschlossen.

Ich wagte einen Blick in den Nebenraum mit dem schwarzen Quadrat. Obwohl mir die drei Außerirdischen ihre Rücken zuwandten, sah ich, dass sie sich mit etwas beschäftigten. Vorsichtig löste ich mich von der Wand los und schritt auf den Durchgang zu. Einer der Außerirdischen hielt meine zerstörte Uhr in der Hand und streckte sie von sich. Was hatte er damit vor? Zwei der fünf auf den Würfeln sitzenden Außerirdischen hoben den Kopf. Dann wurde gesprochen. Meine Uhr blieb dabei zwischen ihnen.

Ohne dass ich es gehört hatte, mussten sie vorhin schon einmal den Raum, in dem meine Uhr lag, betreten haben, und zwar auf dieselbe Weise, also mit dem Klang der schwingenden Saite und dem Trichter. Vielleicht waren sie im ersten Raum – also in jenem, wo ich nach meiner Entführung das Bewusstsein wiedererlangt hatte – durch die Wand eingetreten. Dann hätte ich sie, durch das andere, tiefere und ständig vibrierende Geräusch, möglicherweise nicht hören können. Doch was nützte es, mir darüber Gedanken zu machen! Sie waren im Besitz meiner Uhr. Nur, warum interessierten sie sich dafür? Ich selbst stand ihnen doch zur Verfügung.

Es zog mich geradezu in den Raum hinein. Doch die drei Außerirdischen, von denen der in der Mitte sowohl den Trichter mit der Saite wie auch meine zerstörte Uhr in je einer Hand hielt, näherten sich mir.

Warum stellte ich mich ihnen nicht mit ausgebreiteten Armen in den Weg? Sie mussten mich dann doch zur Kenntnis nehmen! Länger konnte ich diese Nichtbeachtung nicht ertragen. »Meine Uhr, das ist meine Uhr«, sagte ich, als die drei Außerirdischen nur noch zwei Schritte von mir entfernt waren. Sie reagierten nicht darauf, sondern gingen stur weiter. Der mittlere prallte hart gegen mich, wobei ich nach hinten geworfen wurde und stürzte. Auf dem Boden liegend, schaute ich hoch. Die drei blieben dicht neben mir stehen, und einer sagte sehr laut etwas in dieser seltsamen Sprache. Dann setzte das Schwingen der Saite ein. Ich robbte mit schnellen Bewegungen davon, erhob mich auf der entgegengesetzten Seite des Raums. Der durch den schwarzen Trichter verstärkte Klang löste die steinerne Mauer auf. Wieder entstand ein Durchgang, der stehend von einem Mann passiert werden konnte. Die drei Außerirdischen traten hindurch.

Ich rannte los und folgte ihnen. Im Augenblick des Eintretens in die neblige Substanz hielt ich den Atem an und kniff die Augen zu. Dabei vergaß ich meinen nackten Oberkörper. Es war mir gleichgültig, ob ich ein Risiko auf mich nahm. Ich wollte nur eines: Raus aus diesen weißen Räumen. Und das hatte ich nun geschafft. Doch lief ich damit nicht in eine neue Falle? Die Antwort holte mich ein, kaum stand ich auf der anderen Seite, denn ich befand mich abermals in einem weißen Raum – genau in derselben Art und Größe wie derjenige, den ich soeben verlassen hatte.

Verzweiflung befiel mich und löschte die Erleichterung, die ich für kaum eine Sekunde über meinen geglückten Ausbruch empfunden hatte, aus. Dazu verspürte ich ein Ziehen auf meiner Haut, das ich jedoch kaum beachtete. Aufmerksam richtete ich meinen Blick auf die drei Außerirdischen, die durch eine runde Öffnung im Boden hintereinander hinabstiegen. Meine Haut spannte sich wie bei einem Sonnenbrand. Ich rieb mir flüchtig mit der flachen Hand über Schultern und Arme und trat an die runde Öffnung im Boden heran. Den Kopf nach vorne gereckt, schaute ich in sie hinein. Helles Weiß blendete mir entgegen. Gab es hier denn nichts anderes? Nachdem ich eine Weile gewartet hatte, stieg ich ebenfalls in die Öffnung ein. Meine nackten Füße ertasteten eine Treppe, die aus steil aufgeschichteten Steinen bestand. Das tiefe Vibrieren war hier kaum mehr zu hören. Doch meine Haut schmerzte nun. In der Enge der Öffnung fand ich jedoch keine Zeit, mich darum zu kümmern. Ich musste den drei Außerirdischen folgen. Der eine hatte mich vorhin sogar umgestoßen. So wenig bedeutete ich ihnen also! Und meine Haut, was war mit meiner Haut los? Meine Hand fuhr prüfend darüber. Sie fühlte sich nicht heiß an, nur staubiger. Von dieser weißen Substanz konnte ich aber nach wie vor nichts auf ihr entdecken. Warum haftete das Zeug an den Außerirdischen, doch nicht an mir?

Die steinerne Treppe endete in einem weiteren, weißen Raum. Mir fiel sofort auf, dass er nicht leer war. In der Mitte stand ein langer Tisch, der mich an einen Altar erinnerte. Er war ebenfalls aus diesem weißen Stein gefertigt. Da ich direkt daneben stand, legte ich meine Hand prüfend darauf. Er fühlte sich viel poröser als das Material der Wände an. Die drei Außerirdischen beschäftigten sich in einem weniger breiten Teil des Raumes mit einer Erhöhung, die durch schwarze Tücher genau aus demselben grobmaschigen Gewebe wie ihre Kleider abgedeckt war. Vorsichtig schritt ich auf sie zu. Ich sah, wie der eine ein rundliches Blatt in der Hand hielt, das von einer Pflanze stammen musste. Was mich allerdings verunsicherte, war die seltsame Farbe dieses, wie ich annahm, Teil eines Gewächses. Es schimmerte in einem aufdringlichen, stark glänzenden Purpurrot und wirkte prall, als wäre es mit einer Flüssigkeit gefüllt. Unter dem schwarzen Tuch entdeckte ich weitere dieser Blätter, die ganze Erhöhung bestand offenbar aus ihnen.

Sofort musste ich an Nahrung denken. Bestimmt aßen die Außerirdischen diese Blätter. Ohne einen Beweis dafür zu haben, war ich mir dessen absolut sicher. Und tatsächlich wurden einige der Blätter auf den langen Steintisch gebracht und aufgeteilt. Die einzelnen Portionen bestanden allerdings bloß aus zwei Blättern. Besonders hungrig schienen die Außerirdischen also nicht zu sein.

Ich schaute unter den Tisch, was mir Mühe bereitete, denn dort strahlte das Weiß besonders stark. Mitten im Licht entdeckte ich einen Trichter mit der Saite. Hatte ihn der eine Außerirdische vorhin dorthin gelegt? Oder gab es mehrere dieser Geräte, mit denen sich die Wände auflösen ließen?

Die drei Außerirdischen durchschritten den Raum und stiegen die Treppe zum oberen Raum hoch. Der Trichter mit der Saite blieb unter dem Tisch. Schon griff ich zu und nahm ihn an mich. Dabei glaubte ich gleichzeitig zu wissen, dass ich einen Fehler machte. Doch dieser Widerspruch hielt mich nicht davon ab, den Trichter in der Hand zu behalten, ja, ihn nicht mehr hergeben zu wollen. Ich blieb noch einige Sekunden stehen, bevor ich den drei Fremden folgte.

Das Spannen auf meiner Haut hatte nachgelassen, was mich ein wenig beruhigte. Dass ich den Trichter an mich genommen hatte, beschäftigte mich immer mehr. Sollte ich ihn also nicht besser zurücklegen? Nein, denn der Gedanke, mich damit frei im Raumschiff bewegen zu können, verlieh mir eine Sicherheit, die ich dringend brauchte. Überhaupt hatte ich mich momentan recht gut unter Kontrolle.

Wie ich den Kopf aus der runden Öffnung streckte, vernahm ich das Schwingen des kleinen Trichtergeräts mit der Saite. Es gab also mehrere davon. Die Wand verwandelte sich in weißen Staub, die drei Außerirdischen schlüpften hindurch, und zwar nicht in die vier Räume zurück, von wo wir gekommen waren, sondern in die entgegengesetzte Richtung.

Sollte ich warten, bis sich die Wand wieder verdichtet hatte, um einen Versuch mit »meinem» Trichter zu wagen? Das Risiko erschien mir zu groß, also trat ich unmittelbar hinter ihnen in den Nebel hinein. Meine Haut spannte sich sofort wieder, diesmal von einem Schmerz begleitet, der sich über die äußerste Schicht meines gesamten Oberkörpers verteilte.

Ich stand in einem weiteren dieser weißen Räume. Wozu dienten sie überhaupt? Sie waren doch fast alle leer. Daher überraschte es mich, nun plötzlich vor Gegenständen zu stehen, die mir sehr vertraut vorkamen. Allerdings erstaunte mich die Willkürlichkeit ihrer Zusammenstellung. Da gab es eine Schubkarre, ein offenbar eilig abgebrochenes Zelt, das halb an der Wand lehnte, zwei blecherne Abfalleimer, einen Kinderwagen, einen beschädigten Grabstein, eine Stehlampe, ein längliches Fenster, vermutlich von einem Treibhaus, eine kleine Kommode und ein abmontiertes Stoppschild.

Die drei Außerirdischen schritten im Raum umher und prüften diese Gegenstände der Reihe nach. Es sah aus, als vergewisserten sie sich, dass noch alles da war.

Was hatte das zu bedeuten? Ich bewegte mich, darum bemüht, den Fremden auszuweichen, auf den Kinderwagen zu, beugte mich über ihn. Er war leer, was mich erleichterte. Nachdem die drei ihre Runde abgeschlossen hatten, wurde die Saite des Trichters wieder in Schwingung versetzt, und sie verließen den Raum. Diesmal wartete ich ab, bis sich die Wand verdichtet hatte.

Es beruhigte mich, inmitten dieser irdischen Gegenstände zu stehen. Meine Hand berührte die Schubkarre, dann wandte ich mich den beiden Abfalleimern zu und hob ihre Deckel ab. Gestank schlug mir entgegen. Ich schloss sie sofort wieder, denn sie waren randvoll mit verfaulten Küchenresten. Der Grabstein lag auf dem Boden und war im untersten Teil ziemlich beschädigt. Die Inschrift konnte ich aber lesen. Sie enthielt den Namen eines gewissen Hermann Wolfs, der zwischen der Geburts- und Todesjahrzahl eingraviert war. Ich setzte mich neben das an der Wand stehende Zelt. Meine Haut schmerzte, doch ich zwang mich, nicht darauf zu achten. So verharrte ich längere Zeit.

Der Trichter mit der Saite lag neben mir. Der Bogen hing daran. Er ließ sich vermutlich nicht entfernen. Mein Blick wanderte immer wieder im Raum umher, von einem Gegenstand zum anderen. Diese Außerirdischen entführten offenbar nicht nur Menschen von der Erde, sondern auch Gegenstände verschiedenster Art. Wieso nahm ich an, sie hätten auch noch weitere Menschen entführt? Martina! Ich musste an sie denken, obwohl ich sie im Grunde die ganze Zeit nicht vergessen hatte.

Meine Hand griff nach dem Trichter. Erst jetzt hatte ich das Gefühl, ihn wirklich zu berühren. Er war total schwarz. Und dieses Schwarz bestand aus dem grobmaschigen Gewebe, aus dem auch die Gewänder der Außerirdischen und das Tuch über den Purpur-Blättern waren, nur in mehreren Lagen übereinander, also wesentlich dichter. Meine Finger fuhren in meine Hosentasche und zogen die Autoschlüssel hervor. Aufgeregt stieß ich ihn ins Gewebe hinein und versuchte es zu verschieben. Es gelang mir, wobei darunter ein mattes Weiß zum Vorschein kam. Der Trichter, der Resonanzkasten und der leicht gezackte Bogen bestanden aus demselben Material, aus dem die Wände hier waren, nur abgedeckt durch das schwarze Gewebe. Und die Saite? Ich tastete vorsichtig an ihr herum. Sie surrte unter einer heftigen Spannung. Eines ihrer Enden war in der Mitte des Trichters verknotet, um so die Schwingung optimal auf die Membrane zu übertragen. Die Saite fühlte sich an, als wäre sie aus dem schwarzen Gewebe gefertigt, eng zusammengedreht, wie ein dünnes Seil.

Ich erhob mich, stellte mich vor die Wand, genau an dieselbe Stelle, wo vorhin die drei Außerirdischen durchgestiegen waren. Meine Hand zitterte, als ich nach dem Bogen fasste. Noch zögerte ich, dann fing ich damit an, die Saite in Schwingung zu versetzen. Es war ganz leicht, denn ich brauchte bloß mit dem Bogen langsam hin und her zu fahren. Da ich das Gerät nun aber selber betätigte, drang der singende Klang in mich hinein. Möglicherweise geschah es vor Aufregung, aber mein ganzer Körper vibrierte mit. Mit trockenem Mund und weit geöffneten Augen starrte ich gegen den weißen Stein. Er begann zu flimmern, wurde zu leuchtendem Nebel. Jetzt konnte ich hindurchtreten. Ich tat es, ohne Rücksicht auf meine Haut. Und ich dachte auch keinen Moment daran, dass mich die Außerirdischen auf der anderen Seite überraschen könnten.

Der Raum nebenan war leer. Ich überlegte, ob ich durch die runde Öffnung im Boden nach unten steigen sollte. Was hatte ich sonst für Möglichkeiten? Andererseits, warum ging ich nicht erst einmal in die vier Räume mit den Durchgängen zurück. Dazu entschloss ich mich.

Auch dort traf ich nicht auf die drei Außerirdischen. Ich stellte mich in den Durchgang zu dem Raum mit dem schwarzen Quadrat. Die fünf Außerirdischen saßen noch immer auf ihren Würfeln. Sie reagierten nicht darauf, dass ich soeben mit dem Trichter nebenan durch die Wand gekommen war. Als ich mich aber umdrehte und die Saite erneut in Schwingung versetzte, nur um zu schauen, was passierte, erhob sich einer von ihnen und kam heran geeilt. Mitten im Raum, dicht neben mir, blieb er stehen. Seine gekniffenen Augen schauten stechend. Was suchte er? Mich? Aber ich stand doch neben ihm. Meine Finger umklammerten den Bogen. Ich bewegte ihn aber nicht mehr. Nach wenigen Sekunden ging der Fremde wieder in seinen Raum zurück und setzte sich auf den Würfel, als wäre nichts gewesen.

Ich musste weiter. Die Räume hier kannte ich inzwischen. Sie versetzten mich immer mehr in ein Gefühl absoluten Eingeschlossenseins. Ich zielte mit dem Trichter auf jene Wand, durch die ich noch niemanden hatte steigen sehen. Der Nebel der sich auflösenden Wand wirbelte um mich, ich stand mitten drin, die Haut meines Oberkörpers war schmerzhaft brennend gespannt, und schritt hindurch. Die Angst, unerwartet ins Weltall zu stürzen, saß mir im Nacken. Doch meine nackten Füße machten ein, zwei Schritte. Es war für mich der einzig mögliche Weg, selbst wenn er im Nichts enden sollte. Er endete aber nicht im Nichts.

Vor mir stand einer der Außerirdischen. Er war mir noch nie begegnet, das wusste ich genau, denn er hatte fast keine braunen Flecken in seinem leicht bronzefarbenen Gesicht und schien mich aufhalten zu wollen. Er wirkte nicht ungefährlich, wobei er allerdings weniger mich beachtete als das, was mit der Wand hinter mir passierte. Ich verhielt mich bewegungslos, irgendwie darauf gefasst, von ihm angegriffen zu werden. Das geschah aber nicht, denn der Außerirdische wandte sich abrupt von mir ab, schritt im Raum zwischen flachen, schwarzen Gegenständen umher, die mich an Liegen erinnerten, und gab einige Laute in dieser A-E-O-Sprache von sich. Da sonst niemand anwesend war, nahm ich an, er spreche mit sich selbst. Obwohl der Boden weiß strahlte, flimmerten die Wände in einem Rot, das eine farbliche Intensität wie die Purpurfarbe der welken Blätter besaß, die unten auf dem altarartigen Tisch vermutlich zum Essen bereit lagen.

Das Gefühl der Unwirklichkeit verstärkte sich in diesem Raum. Das nun farbige Licht ließ mich die Umgebung leicht unscharf sehen, als blickte ich durch ein in der Schärfe nur um Millimeter verstelltes Objektiv. Der Außerirdische benahm sich aufgeregt – zumindest nahm ich das an, denn ich konnte ja nicht sicher sein, dass sich die Gefühlswelt dieser Fremden mit der menschlichen vergleichen ließ. Immer wieder sprach er vor sich hin. Sollte ich mit ihm reden? Warum sagte ich nichts? Gut, ich hatte den Trichter mit der Saite entwendet. Doch eine solche Handlung war in meiner Situation nur zu verständlich. Ich musste endlich wissen, wo ich mich befand. Wenn ich schon nicht beachtet wurde, so hatte ich das Recht, mich selbst über meinen neuen Lebensraum zu informieren. An eine Fluchtmöglichkeit glaubte ich inzwischen nicht mehr. Wir waren von allem getrennt, eine Insel im Nichts, die sich zwar fortzubewegen schien – doch wohin?

Ich entdeckte im Boden ebenfalls eine runde Öffnung. Mir dämmerte langsam, dass es hier möglicherweise eine Symmetrie gab. Die vier Räume mit den Durchgängen bildeten die Mitte. Das hielt ich einfach mal so fest, ohne einen Beweis dafür zu haben. Es war wichtig, mir ein Bild zu machen, wenn auch nur provisorisch aus meiner Vorstellung heraus, an dem ich mich orientieren konnte. Wenn also die Mitte aus den vier Räumen bestand, so dachte ich mir rechts und links – vom zweitvordersten Raum aus – seitlich je drei weitere Räume, zwei auf derselben Höhe und eine weitere Ebene darunter. Vielleicht war die untere Ebene so groß wie die oberen Räume zusammen? Ich hielt mich nun auf der linken Seite im ersten oberen Raum auf, und genau wie drüben führte von dort aus eine runde Öffnung mit Treppe in den unteren hinunter.

Während ich mir das so vorstellte, fixierten meine Augen ununterbrochen den Außerirdischen. Dachte er nach? Vermochte er überhaupt zu denken? Natürlich: um mit einem Raumschiff ins All vorzudringen, musste man Überlegungen anstellen, also denken können. Oder war eine solche Annahme zu simpel? Sie sahen Menschen ähnlich. Auch die Art, wie sie lebten, zumindest hier in diesen weißen Räumen, war mit menschlicher Wahrnehmung nachvollziehbar. Ich selbst tat es ja. Sie atmeten dieselbe Luft. Also musste es dort, wo sie herkamen, eine Atmosphäre wie auf der Erde geben. Wie weit ich schon wieder dachte!

Wieso nahm ich an, diese Außerirdischen könnten einen Planeten bewohnen? Nur weil mir das logisch erschien? Vielleicht war ihre Heimat dieses Raumschiff hier, vielleicht suchten sie eine Möglichkeit, um sich irgendwo niederzulassen. Sie hatten es geschafft, auf der Erde zu landen, warum sollten sie es also nicht schaffen, sich dort anzusiedeln? Möglicherweise war das bereits geschehen.

Der Außerirdische stieg in die runde Öffnung hinein. Sobald ich seinen Kopf nicht mehr sah, bewegte ich mich von der Stelle. Mich interessierten diese schwarzen Liegen, die wie ich vermutete, zum Ausruhen dienten. Es musste sich um einen Schlafraum handeln, denn das grelle Weiß des Bodens wurde durch das flimmernde Rot der Wände und der Decke stark gedämpft. Ich schloss kurz die Augen, wie um zu prüfen, ob die Belastung des unscharfen Sehens dann aus meinen Augen wich. Unter meinen Lidern empfand ich aber keine Entspannung. Ein Feld von stumpfem, mit tief schwarzen Flecken vermischtem Rot breitete sich aus. Dazu verlor ich das Gleichgewicht. Ich musste aufpassen, dass ich nicht in die runde Öffnung hineinstürzte. Rasch riss ich die Augen auf.

Von unten vernahm ich Stimmen. Mindestens zwei der Außerirdischen sprachen miteinander. Ohne auf ihre Laute zu achten, schaute ich mich weiter im Raum um. Ich kniete mich vor einer dieses Liegens nieder und berührte sie mit der flachen Hand. Das Schwarz bestand aus dem grobmaschigen Gewebe, das ich inzwischen kannte. Darunter vermutete ich wieder den weißen Stein. Es sah ganz danach aus, als gäbe es hier vorwiegend zwei Materialien. Und das Rot der Würfel und der Wände? War das nicht derselbe Stein, nur durch irgendein Verfahren mit dem Purpur der Blätter eingefärbt? Also gab es drei Materialien: weißer, leuchtender Stein, schwarzes, grobmaschiges Gewebe und purpurne, welke Blätter.

Ich entschloss mich, in den unteren Raum hinunterzusteigen. Die Treppe war genau gleich gebaut wie die auf der anderen Seite. Den Trichter hielt ich nach wie vor in der Hand. Mit den Beinen voran in einer mir unbekannten Umgebung anzukommen, behagte mir zwar nicht. Doch es blieb mir keine andere Wahl. Ich beeilte mich aber, um möglichst schnell die neue Situation mit meinen Augen abschätzen zu können. Unten auf der Treppe blieb ich stehen. Was ich sah, hatte ich nicht erwartet.

Der Raum war ebenfalls rötlich eingefärbt, wenn auch nicht so intensiv wie der darüber liegende. Auf dem weißen Boden gab es ein Muster, das aus schwarzen, schmalen Bahnen bestand. Es erinnerte mich an das überdimensionale Brett eines Mühlespiels. Auf den Schnittpunkten der etwa handbreiten Bahnen standen Außerirdische, vier an der Zahl. Sie sprachen zwischendurch einige Laute, wobei sich einer dann – mal vorwärts, mal rückwärts – von einem Schnittpunkt zum nächstliegenden bewegte. Es herrschte eine sehr gelöste Stimmung, die sich sogar auf mich übertrug und die den vier Außerirdischen jegliche Gefährlichkeit nahm. Sie spielten ein Spiel. Da täuschte ich mich nicht. Doch was war das für ein Spiel? Sie selbst betätigten sich als Figuren, die ich nur durch die verschiedenartigen braunen Flecken in ihren Gesichtern auseinanderhalten konnte. Von meiner Anwesenheit nahmen sie keinerlei Kenntnis. Ich suchte nach den Spielregeln, doch die Koordination von Sprechen und Bewegen erschien mir willkürlich. Das Muster, also die Spielfläche auf dem Boden, war symmetrisch und relativ einfach in ihrer Struktur. Insgesamt zählte ich zwölf Schnittpunkte. Aufmerksam schaute ich eine Weile zu, dann stieg ich in den oberen Raum zurück.

Wenn meine Annahme richtig war, dann hatte ich jetzt nur einen Raum noch nicht betreten, und zwar denjenigen, der direkt an den Schlafraum angrenzte. Um in ihn hinein zu gelangen, musste ich mit dem Klang der Saite die rot-flimmernde Wand auflösen. Etwas hinderte mich aber daran, dies zu tun, und das lag nicht allein daran, dass ich die drei Außerirdischen, die ich bisher immer in geschlossener Gruppe angetroffen hatte, dort vermutete. Vielmehr war da die Furcht vor etwas Unfassbarem, das ich mir in keiner Form vorzustellen vermochte.

Ich zählte zusammen: die drei Außerirdischen, die als Gruppe umhergingen, die fünf auf den Würfeln und die vier unter mir bei ihrem seltsamen Spiel – das waren zwölf. Das entsprach den zwölf Portionen Purpurblätter auf dem altarartigen Tisch. Dann hatte ich also die ganze Besatzung gesehen. Gut. Nur beruhigte mich das nicht. Da musste noch etwas sein. Der letzte Raum! Aber was erwartete ich? Genügte es mir nicht, was ich schon erlebt hatte? Auch wenn ich noch lebte, so bedeutete das nicht, dass ich überleben würde.

Ich durfte nicht wieder in diese Gedanken der Verzweiflung und der Ohnmacht hinein geraten. Warum betete ich nicht? Jetzt durchquerte ich doch das Reich, von dem aus – wie ich, vor allem als Kind, immer angenommen hatte – Gott seine gütige Kraft auf die kleine Erde lenkte. Vom All oder Kosmos aus hatte doch alles seinen Ursprung. Dort saß Gott? Doch wo war das? Dort? Ich war ein hilfloser Körper mit hilflosen Gedanken am Rande der Verzweiflung. Ich, der Sklave weißer Räume und fremder Gestalten in schwarzen Gewändern.

Mitten in einer Schreckensvision, einem Alptraum, und doch war ich weit weg von jeglicher Einbildung, denn ich spürte den umklammernden Griff der Wirklichkeit. Stählern wurde ich hinunter auf den blanken Boden der Realität gezwungen. Die Illusion des Traumes platzte. Ich schrie: »Lasst mich raus!« Sackte zusammen, richtete mich auf, von Wut gepeitscht, wollte den Trichter an der rot-flimmernden Wand zerschmettern. Die Unschärfe, mit der mir alles im Raum begegnete, machte mich rasend. »Raus, raus, raus!«, keuchte ich. Gleichgültigkeit schlug mir entgegen. Gott und Kosmos schwiegen. War ich endgültig verloren? Ich musste hinüber in den Raum mit den mir vertrauten Gegenständen. Kraftvoll strich ich über die Saite und glaubte in ihrem Klang meine eigene Verzweiflung mitschwingen zu hören.

Ich passierte das Mittelstück, ohne die fünf auf den Würfeln sitzende Männer zu beachten. Von dort aus durchstieg ich die weiteren Wände und gelangte wieder in den Raum mit den irdischen Gegenständen. Das Brennen auf der Haut nahm immer mehr zu. Ich warf einen flüchtigen Blick auf meine Unterarme, die nicht die geringste Rötung aufwiesen. Allerdings entdeckte ich nun eine ganz dünne Schicht dieses weißen Staubs, der sich in meinen Poren festgesetzt hatte. Vielleicht war die Ursache dieser von Schmerzen begleiteten Spannung nicht in einer Verbrennung zu suchen. Beim Durchsteigen des Nebels hatte ich ja auch nie eine außergewöhnliche Wärme verspürt. Dabei wäre das logisch gewesen, denn das Schwingen der Saite schien die Moleküle des Steins zu beschleunigen. Doch wusste ich über die physikalischen Gesetze, die hier um mich herum herrschten, zu wenig, um dies mit Sicherheit sagen zu können. Der Gedanke, dass nicht Hitze, sondern etwas Unbekanntes meine Haut verletzte, beschäftigte mich. Hatte es gar mit Radioaktivität zu tun? Natürlich – wie konnte ich nur so leichtsinnig sein! Niemand warnte mich. Allein auf mich gestellt, musste ich mich Schritt für Schritt vorantasten.

Ich bückte mich zu der kleinen Kommode hinunter. Sie hatte drei Schubladen mit Messingbeschlägen. In jeder steckte ein Schlüssel. Langsam zog ich die oberste auf. Sauber gebügelte Wäsche lag darin. Ein angenehmer Duft stieg mir entgegen, ein Duft, der mich an das Leben auf der Erde erinnerte, an den nahen Kontakt mit Menschen. Die Wäschestücke gehörten bestimmt einer Frau. Meine Hand strich über die oberste Schicht. Wie fein sich der Stoff anfühlte. Was wollten die Außerirdischen damit? Gab es unter ihnen auch Frauen?

Ich dachte bereits wieder zu viel. Fast andächtig kniete ich mich vor der offenen Schublade hin und atmete diesen mir fremden und doch vertrauten Geruch ein. Um mich die weißen Wände, die mich kalt anglotzten. Die Fremdheit ihres Leuchtens drängte sich zwischen die Vertrautheit, die ich für den Inhalt dieser Kommode empfand. Was enthielt sie noch? Mein Herz schlug schneller. Ich wurde unruhig, legte den Trichter zur Seite. Vergessen war der Schmerz auf meiner Haut.

Ich zog die zweite Schublade auf. Fotoalben, Hefte, Strickzeug in einem Plastikbeutel, ein Bündel Briefe, eine kleine Packung Pralinen und ein länglicher Plastikbehälter, der Nähnadel, Nähfaden, zwei Murmeln, drei dünne Kerzen, drei Bleistifte und zwei Kugelschreiber enthielt, kamen zum Vorschein. Auch davon stieg ein Geruch auf, den ich immer wieder einatmen musste. Wäre ich auf der Erde in einem fremden Wohnzimmer vor diese Kommode gekniet, so hätte ich mich davon eher abgestoßen gefühlt. Eine Aufdringlichkeit des Geruchs war unverkennbar. Doch hier störte mich das nicht. Ohne einen der Gegenstände berührt zu haben, schloss ich die Schublade und öffnete die unterste. Eine Strumpfkugel rollte gegen die vordere Abdeckung. Sonst enthielt sie nichts.

All diese Gegenstände des Alltags standen zu meiner Verfügung. Ich war ein Mensch und hatte ein Anrecht darauf. Genau genommen handelte es sich um Diebesgut. Das schien mir klar. Die Gesetzmäßigkeit des menschlichen Denkens bemächtigte sich meiner ohne Rücksicht auf die Außergewöhnlichkeit der Situation. Doch was hatte das, was ich hier vorfand, schließlich mit Diebesgut zu tun? Ja, ich klagte die Außerirdischen an, Diebe zu sein. Dass sie mich selbst entführt hatten, vergaß ich in diesem Augenblick. Und vielleicht war das der Zweck der ganzen Übung, durch die ich meine unglaubliche Situation vergessen sollte? Mein Kampf galt plötzlich Dieben von Schubkarren, Abfalleimern, Stehlampen, Verkehrsschildern, Pralinen, Nähnadeln, Murmeln und Kugelschreibern. Damit hatte ich wenigstens etwas Konkretes in der Hand.

Die Idee kam mir ganz plötzlich. Ich zog wieder die mittlere Schublade auf, holte die Fotoalben heraus und sah sie nur flüchtig an: Familienfotos. Ich kannte die darauf abgebildeten Personen nicht. Also legte ich die Alben wieder weg. Von den zwei Heften, die ich herauszog, war eines leer, beim anderen führte eine sehr runde Schrift über die Linien der ersten Seite. Es handelte sich um das Aufzählen von täglichen Ausgaben für Essen und sonstigen Haushaltsbedarf. Das angebrauchte Heft schob ich in die Schublade zurück, das leere behielt ich. Dann hatte ich auch schon einen der Kugelschreiber zwischen den Fingern. Meine Hand zitterte leicht, als ich zu schreiben anfing.

Erste Eintragung

Befinde mich in einem unbekannten Flugobjekt, aus zehn oder zwölf Räumen bestehend. Bis auf zwei alle aus Wänden eines Steins, der eine eigenartige Leuchtkraft besitzt. Das Alleinsein ist schwer. Zwölf Außerirdischen bin ich bisher begegnet. Drei gehen immerzu in einer Gruppe umher. Nur ihre verschiedenartigen braunen Flecken, die sie im Gesicht tragen, unterscheiden sie voneinander. Daher benenne ich sie nun. Die Dreiergruppe: Der Fremde in der Mitte soll MIT heißen, der linke LIN und der rechte REC. Die Fremden auf den Würfeln benenne ich von links nach rechts KUB l, KUB 2, KUB 3, KUB 4 und KUB 5. Von den restlichen vier bezeichne ich den mit den wenigsten braunen Flecken OHN. Die anderen drei heißen SPI l, SPI 2 und SPI 3, was ich von dem Spiel ableite, bei dem ich sie beobachtet habe. Ein ständiges Vibrieren erfüllt alle Räume, wobei es hinten (also am gegenüberliegenden Ende des »Flurs«, in dem sich KUB l bis KUB 5 aufhalten) zunimmt. Es klingt wie eine in Schwingung geratene dicke Saite, daher nehme ich an, dass da ein ähnliches Prinzip wie der Trichter (zum Auflösen der Wände) am Werk sein muss. Wird damit das Raumschiff angetrieben? Die Einsamkeit ist deshalb so groß, weil mich niemand zur Kenntnis nimmt. Aber das ist immer noch besser, als wenn sie mich folterten und umbrächten. OHN, den ich im Schlafraum überrascht habe (oder war es umgekehrt?), wirkt am gefährlichsten. Es könnte sein, dass er der Anführer ist. MIT, LIN und REC halte ich für eine Art Bordpolizei. Der Raum mit dem schwarzen Quadrat, diesem Fenster zum Weltraum, scheint das Cockpit des Raumschiffs zu sein. Sicher bin ich mir da allerdings nicht, denn ich habe keinerlei Vorrichtungen zum Steuern oder Messinstrumente gesehen. KUB l bis KUB 5 sitzen bloß auf ihren Würfeln und schauen ins All hinaus. Wer führt uns also? Und wo endet diese für mich unglaubliche Reise?

(Rupert Dill)

Diese schnell hingeschriebenen Sätze erleichterten mich. Ich sprach, wenn auch nur mit einem leeren Heft, das ich jedoch mit meinen Worten füllen konnte. Ein Teil meines Innern kehrte sich dadurch nach außen, stand sich selbst gegenüber, fand in dieser vollgeschriebenen Seite einen Spiegel. So lautlos funktionierte das also! Dabei zählte ich bloß einige Beobachtungen auf, benannte, versuchte zu ordnen. Ich schrieb, um mir selber etwas mitzuteilen, das ich schon wusste, aber es war eine Verdoppelung mit Sinn. Wo bin ich? hatte hier ganz eindeutig mit Wer bin ich? zu tun. Inmitten der Welt dieser mir vertrauten Gegenstände richtete ich meinen Blick in mich hinein und damit wieder nach draußen, in die Weite der weißen Atmosphäre, in die Fremde des leuchtenden Steins, des Vibrierens und aller anderen unerklärlichen Geschehnisse, die innerhalb kurzer Zeit auf mich einstürzt waren. Dabei war ich doch von Anfang an nicht tatenlos geblieben. Ich besaß sogar einen der Trichter mit der Saite. Hier fügten sich weitere Bilder zusammen. Begriff ich endlich? Teilweise, ja, das Gesehene fand sich im Gedachten wieder. Was blieb nun aber konkret übrig, jetzt und hier? Welche Aufgabe wartete auf mich, was musste in einer äußeren Aktion bewältigt werden? In dem Trichter mit der Saite sah ich plötzlich eine Möglichkeit, mich zur Wehr zu setzen. Sollte ich nämlich ausfindig machen können, wie viele dieser Trichter es an Bord gab, und brachte ich diese dann alle in meinen Besitz, so würde ich damit in der Lage sein, die Außerirdischen in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken.

Doch kaum hatte ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, verwarf ich ihn wieder. Kämpfen war sinnlos. Meine Stärke lag allein darin, dass mich keiner der Fremden zur Kenntnis nahm. Das bedeutete für mich einen Freiraum, den ich nicht aufs Spiel setzen durfte. Simpel ausgedrückt: Solange ich sie in Ruhe ließ, würden auch sie mich in Ruhe lassen. Auf mich gestellt, würde ich es schaffen, einiges zu erforschen und mir selbst das Überleben zu sichern. Das hatte ich mir in den letzten Stunden – oder wie lange es auch immer gewesen sein mochte – bereits bewiesen.

Eine starke Müdigkeit machte sich bemerkbar. Nur mühsam konnte ich noch meine Augen offen halten. Ich steckte mir Heft und Kugelschreiber vorne in die Hose, schob die Schublade der kleinen Kommode zu. Die unerwarteten Erlebnisse hatten mich angestrengt. Hinzu kam, dass die Nacht – wenn es denn etwas Derartiges geben sollte – , bestimmt schon vorüber war. Ich hatte noch nicht geschlafen. Sollte ich es wagen, mich hinzulegen? Mir blieb fast keine Wahl, so bleiern fühlte ich mich nun. Ich fasste nach dem Trichter, drückte ihn an mich. Auf den Knien, mich mit der freien Hand auf dem weißen Boden abstützend, bewegte ich mich auf das an die Wand gestellte Zelt zu. Mein Blick fixierte den Reißverschluss des zerknitterten Stoffgebildes, der vorne, unter einer herausragenden Aluminiumstange, sichtbar war. Meine Finger öffneten ihn, wobei das zusammengepresste Zelt auf mich stürzte. Dunkelheit und ein leicht moderiger Geruch hüllten mich ein. Sekunden später schlief ich.

Das Erwachen war angenehm, denn nichts von diesem Schwindelgefühl, das ich die beiden Male nach meiner Bewusstlosigkeit empfunden hatte, haftete ihm an. Atmen konnte ich zwar nur schlecht, doch das störte mich nicht, solange ich mich geschützt glaubte. Sicher verbarg das Zelt meinen Körper. Im Schlaf hatte ich meine Beine an den Bauch gezogen. Auf meiner Brust spürte ich einen Druck. Wie ich mit der Hand danach griff, ertastete ich den Trichter mit der Saite. Bruchstücke der Erinnerung formierten sich, tauchten an die Oberfläche, drängten sich in das Empfinden körperlicher Erholung. Ruckartig schleuderte ich die Zeltplane von mir herunter. Das leuchtende Weiß des Raumes stach mir in die Augen. Ich hielt mir beide Hände vors Gesicht.

Nur langsam gewöhnte ich mich wieder an die gleißende Helligkeit. Nachdem ich mich aufgerichtet hatte, wandte ich mich erneut der kleinen Kommode zu. Mein Magen machte sich bemerkbar. Ich musste endlich etwas zu mir nehmen. Dabei dachte ich an die Pralinen, die ich in der mittleren Schublade entdeckt hatte. Die Packung wurde durch einen dünnen Plastikeinband geschützt. Ich riss ihn weg. Eigentlich war mir nicht nach Schokolade zumute. Doch was hätte ich sonst essen sollen? Etwa die Purpur-Blätter unten auf dem Tisch? Ich wusste ja nicht einmal, ob sie genießbar waren. Vielleicht täuschte ich mich und sie dienten den Außerirdischen gar nicht als Nahrung.

Die Pralinen schmeckten sehr süß. Nachdem ich zwei Stück hastig zerkaut hatte, ließ ich eine dritte zögernd im Mund zergehen. Dann zog ich mir das Heft aus der Hose und las meine erste Eintragung durch.

War das alles, was ich zu sagen hatte? Ich musste mehr, viel mehr aufschreiben. Den Kugelschreiber zwischen meinen aufgeregten Fingern, füllte ich mehrere Seiten. Zwischendurch verlor sich der Text in einem Chaos. Die Ohnmacht über das Unfassbare meiner Situation führte dann das Diktat. Zwei Seiten riss ich aus dem Heft, knüllte sie zusammen, warf sie in die unterste Schublade zu der Strumpfkugel. Ich stopfte mich mit Pralinen voll, sie nun wieder schnell zerkauend, bis mir übel wurde.

»Was für eine Chance habe ich?« Mit diesem Satz überschrieb ich eine Seite und unterstrich ihn fett. Nichts fiel mir dazu ein. Also schrieb ich darunter: »Werde ich überleben?« Auch diese Frage unterstrich ich fett. Die Antwort blieb aus. »Was ist mit Martina geschehen?« Zwanzigmal schrieb ich diese Frage, teilweise zu einem Gekritzel verstümmelt. »Welchen Sinn hat meine Entführung?« – »Ist sie zufällig?« – »Warum?« Meine Hand krallte sich ins Papier, zerfetzte es. Den Kugelschreiber schleuderte ich gegen die Wand. Der weiße Stein schluckte ihn. Fassungslos saß ich da. Ich suchte hastig und fand einen zweiten Kugelschreiber in einer der Schubladen. »Unsinn«, flüsterte ich. Mit dieser Selbstqual kam ich nicht weiter. Ich musste handeln, und zwar ohne die Außerirdischen zu provozieren.

2. Eintragung

Es müssen in der Zwischenzeit Tage vergangen sein. Nun bin ich mir sicher, das ganze Raumschiff zu kennen. Unter den zwei seitlichen Räumen, die sich links und rechts von den vier mittleren und auf derselben Höhe befinden, gibt es nicht – wie ich erst angenommen hatte – bloß ein großer Raum, sondern zwei von derselben Größe wie alle ändern. Sie sind beide leer. Insgesamt verfügt das Raumschiff über zwölf Räume. Einer dient als Essensraum, denn die Außerirdischen nehmen die Purpur-Blätter als Nahrung zu sich. Dazu versammeln sie sich alle zwölf um den altarartigen Tisch, wobei sie sich nicht hinsetzen (es gäbe auch gar keine Stühle oder Würfel, um dies tun zu können). In dem rötlich gedämpften Raum schlafen sie, und zwar alle zwölf zur selben Zeit. Der Raum dahinter ist ebenfalls leer. Zwei teilen sich immer eine der sechs Liegen, Unter dem Schlafraum treiben sie jenes seltsame Spiel, bei dem ich einmal alle zwölf zusammen angetroffen habe. Da das Muster auf dem Boden nur zwölf Schnittpunkte enthält, blieb jeder auf einem stehen. Keinen Laut gaben sie von sich, und niemand bewegte sich von der Stelle. Sie taten das ziemlich lange, was mich erstaunte. Ich kann keinen Sinn darin erkennen.

Die Pralinen habe ich längst aufgegessen. Um nicht zu verhungern, ernähre ich mich nun von den Purpur-Blättern. Sie sind fetthaltig und mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt. Diese schmeckt nach nichts, das Fleisch der Blätter hingegen erinnert mich an überreife Erdbeeren. Ich weiß nicht, wie lange ich eine solche eintönige Nahrung zu mir nehmen kann. Auf der anderen Seite ist mir davon noch nie übel geworden. Sie scheint gut verträglich zu sein, was ich von den Pralinen nicht behaupten konnte. Zum Schutz meiner Haut habe ich folgendes unternommen: Von dem schwarzen Gewebe, mit dem das Vorratslager der Purpur-Blätter zugedeckt ist, riss ich ein Stück weg. Dieses lege ich nun beim Durchschreiten der durch die Schwingung der Saite pulverisierten Wände um meinen nackten Oberkörper, um den direkten Kontakt mit dem aufgelösten Stein zu vermeiden. Ein kleines Stück desselben Gewebes halte ich mir vors Gesicht, obwohl die Haut dort viel weniger empfindlich reagiert. Den Staub, der sich schon in meinen Poren abgesetzt hatte, habe ich mit einem Purpur-Blatt weggewaschen. Verbrennungen kann ich keine feststellen. Das Ziehen hat fast ganz nachgelassen. Mit Radioaktivität wird das vermutlich nichts zu tun haben. Das beruhigt mich. Dass ich einen der Trichter entwendet habe, wurde bemerkt. MIT, LIN und REC suchten danach, holten dann OHN, der sogar unter den Tisch kroch. Ob sie allerdings mich verdächtigen, weiß ich nicht. Es ist anzunehmen, denn die Außerirdischen verfügen über zwölf dieser Geräte, mit denen sie frei umgehen können. Sie müssen mich verdächtigen. Und doch werde ich den Eindruck nicht los, dass dem nicht so ist. Sie nehmen mich nach wie vor nicht zur Kenntnis. Allerdings achte ich darauf, die Wände nur zu durchqueren, wenn im Raum niemand anwesend ist. Überrascht mich einer der Fremden am Ort meiner Ankunft, so reagiert er meistens erstaunt, als könnte er nicht begreifen, was da mit der Wand geschehen ist. Dabei ist der Trichter mit der Saite doch ihre Erfindung! Die vielen ungeklärten Fragen quälen mich nun aber nicht mehr so sehr, denn ich kann mich dauernd betätigen.

Nur keine Langeweile aufkommen lassen! Das wäre das schlimmste für mich. Oft bin ich unterwegs. Ich selbst habe mich im Raum mit den irdischen Gegenständen eingenistet, ohne allerdings viel zu verändern. Außer MIT, LIN und REC traf ich dort noch keinen der anderen Außerirdischen an. Zum Schlafen lege ich mich unter die Zeltplane. Damit wird es für mich Nacht, weil ich ansonsten immerzu dem weißem Licht ausgesetzt bin. Bei mir hat sich ein Rhythmus eingepegelt. Allerdings habe ich den Eindruck, viel weniger als auf der Erde zu schlafen. Mein Leben verläuft jedoch mit einer erstaunlichen Regelmäßigkeit, selbst was das Essen betrifft. Dass ich mich von den Purpur-Blättern ernähre, scheint die Außerirdischen nicht zu stören. Möglicherweise interessiert es sie nicht, denn soweit ich das einschätzen kann, gibt es genug von dem Zeug.

Wie lange werden wir noch unterwegs sein? Tage? Wochen? Monate? Jahre? Zehn Jahre und länger, viel länger? Nichts ist unmöglich. Bin ich zu einem lebenslänglichen Flug im Weltraum verurteilt? Keine solchen Gedanken! Ich muss meinen Rhythmus, meinen Ablauf einhalten und leben. Ja, leben. Das ist meine wichtigste Aufgabe.

(Rupert Dill)

Eine laute Debatte lockte mich an. Sie fand in dem Raum mit dem Fenster zum Weltall statt. Worum ging es? Als erstes fiel mir auf, dass anstelle von KUB 3 und KUB 5 nun SPI 2 und SPI 3 neben KUB l, KUB 2 und KUB 4 auf den Würfeln saßen. OHN schritt aufgeregt hin und her. Wie sehr sie sich doch wie Menschen verhielten! Täuschte ich mich wirklich nicht? Doch was würde es an meiner Situation ändern, wenn sie keine Außerirdischen wären? Die Art, wie sie mich behandelten, bliebe dieselbe. Ebenso ihre Pläne, wenn sie überhaupt welche mit mir hatten. MIT, LIN und REC verließen den Raum. Sie eilten durch alle Durchgänge, bis in den letzten der vier Räume, blieben dort stehen und suchten mit flachen Händen die Wände ab. REC horchte sogar am weißen Stein. Zwischendurch sprachen sie miteinander, und zwar so laut, dass man es im vordersten Raum, wo sich die anderen aufhielten, deutlich vernehmen konnte. Worum ging es? Irgendwie hatte ich das Gefühl, es sei ein technischer Schaden am Raumschiff eingetreten. So jedenfalls würden sich Menschen bei einem solchen Zwischenfall benehmen. Aber um was für einen technischen Schaden könnte es sich handeln? Dazu hätte ich ja zuerst wissen müssen, welche Form von Technik hier überhaupt angewandt wurde. Und genau davon hatte ich keine Ahnung.

Der Drang, die Fremden zu fragen, was los war, machte mich unruhig. Angst konnte ich in ihren Gesichtern nicht erkennen. Doch sie bewegten sich schneller. Ihre Arme, sonst meistens unter dem schwarzen Gewand versteckt, gestikulierten zu hastig gesprochenen Lauten. MIT, LIN und REC kamen zurück. OHN stellte sich vor sie hin, hörte aufmerksam zu, als MIT sprach. Dazu deutete er auf die Seite, wo sich der Raum mit den irdischen Gegenständen befand. Das hatte sicher nichts zu bedeuten, denn es gab dort ja noch drei weitere Räume. Zumindest redete ich mir das ein. Sie wussten bestimmt schon längst, dass ich mein Lager bei den mir vertrauten Gegenständen eingerichtet hatte. Die Aufregung musste also einen anderen Grund haben.

KUB 5, der dicht neben dem Fenster zum Weltraum stand und sich darüber beugte, richtete sich plötzlich auf und sprach etwas. Darauf eilten alle anderen ebenfalls hin und beugten sich darüber, einschließlich KUB l, KUB 2, KUB 4, SPI 2 und SPI 3, die auf den Würfeln saßen. Dabei kam eine Hast auf, die mich erschreckte. Entweder bedrohte uns etwas vom Weltraum draußen, oder das Raumschiff hatte, wie ich von Anfang an glaubte, einen Defekt.

Obwohl es mich geradezu dort hinzog, wagte ich nicht, zu dem Fenster im Boden hinzutreten. Ich verharrte in Bewegungslosigkeit, angestrengt nach Zusammenhängen suchend. Manchmal sprachen vier gleichzeitig miteinander, und ich hatte den Eindruck, jeder einzelne wurde verstanden. OHN debattierte heftiger, rannte los, an mir vorbei. Ich drehte mich um, schaute ihm nach. Im Raum nebenan presste er sich gegen die Wand, zeigte dann hinüber. MIT, LIN und REC folgten ihm. Als jedoch MIT den Trichter mit der Saite hervorholte, schob ihn OHN weg. Nach einer kurzen Auseinandersetzung betraten sie alle vier erneut das Cockpit. Vermutlich war das der sicherste Ort an Bord. Wie ich aus ihrem Handeln entnehmen konnte, schien es nicht ratsam, nun den Trichter mit der Saite zu benutzen.

Gewaltsam riss ich mich aus meiner Starre heraus und fragte: »Was ist passiert?«

MIT, OHN und KUB 5 schauten in meine Richtung.

»Was ist passiert?«, wiederholte ich lauter.

OHN kam auf mich zu, doch KUB 5 hielt ihn zurück, durchbohrte mit seinem Arm die Luft, streckte ihn nach oben aus. Diese Geste war mir rätselhaft.

»Kennt ihr unsere Sprache?«, fuhr ich fort. »Wenn ja, so sagt es mir.«

MIT, LIN und REC kamen nun KUB 5 zu Hilfe, und zusammen brachten sie OHN zum schwarzen Quadrat zurück. Dort wirbelten ihre Laute durcheinander. Sie erhitzten sich bei einem wilden Disput. Allerdings hatte ich nicht den Eindruck, es ginge dabei um mich.

»Ist es besser, im Augenblick den Trichter mit der Saite nicht zu benutzen?«, fragte ich. »Den Trichter«, betonte ich und hielt ihn hoch.

Die zwölf Besatzungsmitglieder wurden noch lauter. OHN’s Stimme schallte, so sehr erregte er sich. Jetzt hatten sie draußen im All etwas entdeckt. Ihr Verhalten verriet mir das deutlich. Länger schaffte ich es nicht mehr, mich zu beherrschen. Ich musste hin und mich ebenfalls über das Fenster zum Weltraum beugen. Nach wenigen Schritten stand ich dort. Der Ausblick machte mich sofort schwindelig.

Plötzlich fesselte etwas meinen Blick. Und ich wusste sofort, dass auch die zwölf Außerirdischen ihre Aufmerksamkeit voll und ganz darauf lenkten. Das war es, was sie in Aufregung versetzte.

Sich langsam drehend und von uns wegbewegend, so schwebte er im All – der Kugelschreiber, den ich gegen die Wand geworfen und der darauf von ihr verschluckt worden war. OHN‘s Aufruhr hatte seinen Höhepunkt erreicht, worauf eine Beruhigung eintrat, die von allen anderen mit vollzogen wurde. Erleichterung kehrte ein.

War die Gefahr überstanden?

3. Eintragung

Ich habe mir die weißen Wände einmal ganz aus der Nähe angeschaut, denn der Vorfall mit dem Kugelschreiber lässt mich nicht los. Folgendes ist mir aufgefallen: Der Stein, wenn es sich überhaupt um Stein handelt, ist nicht dicht. Die stellenweise porösen Flächen zeigen deutlich, dass da eine ständige Bewegung vor sich geht. Es scheint, als ob der Stein – ich bezeichne das Material weiterhin so, weil ich keinen anderen Ausdruck dafür wüsste und Stein eigentlich recht gut passt –, sich ununterbrochen auflöse, um gleich darauf wieder dichter zu werden, sich erneut aufzulösen, und so weiter, wobei das rasend schnell hintereinander geschieht. Ich kann mir die Ursache dafür vorstellen. Dieses Vibrieren, das ständig zu vernehmen ist, könnte von einer riesigen Saite stammen. Durch diesen Klang geschieht nun dasselbe wie mit dem Trichter, nur eben auf das ganze Raumschiff bezogen. Warum der Stein jedoch nicht ständig aufgelöst bleibt, weil ja der Klang immerzu da ist, das verstehe ich jedoch nicht, oder besser, noch nicht. Wie herausgefunden habe, sondert der Stein auch eine sauerstoffhaltige Substanz ab, die durch die Vibration herausgelöst und in die Luft der Räume gebracht wird. Nur so lässt es sich erklären, dass sowohl ich wie aber auch diese Fremden – die offensichtlich ebenfalls sauerstoffhaltige Luft zum Leben brauchen – im Raumschiff atmen können.

Das Eindringen des Kugelschreibers in das weiße Material könnte nun eine Störung hervorgerufen haben, die sich auf das gesamte Raumschiff auswirkte. Erst als er sich durch das Material gearbeitet hatte und ins All fiel, war die Gefahr gebannt. Ich muss also vorsichtiger sein! Die Außerirdischen verhalten sich nun aber wieder ruhig. Der Alltag ist zurückgekehrt, wenn man das so sagen kann.

Wie ich schätze, müssen inzwischen etwa zwei Monate vergangen sein. Die Purpur-Blätter ernähren mich ohne jede Nebenwirkung. Genuss bereitet mir diese Form von Essen jedoch nicht. Überhaupt muss ich hier auf vielerlei Genüsse verzichten, die mir auf der Erde lieb und wichtig waren. Einige Grundbedürfnisse weiß ich zwar zu befriedigen. Auch wasche ich mich – wie es die Fremden ebenfalls tun – mit den Purpur-Blättern. Obwohl ich mich durch das schwarze Gewebe schütze, setzt sich nach einiger Zeit doch weißer Staub auf meiner Haut ab. Er lässt sich mit einem der welken Blätter und seinem Saft, der durch Zusammendrücken herausgepresst wird, leicht entfernen. Es gibt sogar eine Art Toilette an Bord, was ich leider zu spät entdeckt habe. Nun habe ich aber auch das begriffen. Für mein physisches Überleben ist erst mal gesorgt,

Wir fliegen ununterbrochen. Irgendwann werden wir irgendwo landen. Das hoffe ich zumindest. Das Haar auf meinen Kopf und der Bart in meinem Gesicht – der ursprünglich nicht vorhanden war – haben schon eine beträchtliche Länge. Da ich keinen Spiegel besitze, kann ich das bloß ertasten. Das ist mir recht so, denn ich möchte momentan nicht mit meinem Aussehen konfrontiert werden.

Manchmal denke ich an Onkel Samuel. Vielleicht sitzt er in seinem Garten und schaut zum Himmel hoch. Er hat keine Ahnung, welche Wirklichkeiten es gibt. Er glaubt an das, worauf seine Füße stehen. Und wenn er mal schlecht träumt, so lächelt er darüber. Die Welt besteht aus dem Sichtbaren. Natürlich. Hier kann ich ja auch alles sehen und anfassen. Meine Umgebung ist nicht das Ergebnis einer übersteigerten Phantasie. Das Unwirkliche tritt mir im Gewand einer klaren Wirklichkeit entgegen.

(Rupert Dill)

Die Zeit floss dahin. Immer seltener verließ ich den Raum mit den irdischen Gegenständen. Manchmal machte ich mir nicht einmal die Mühe, unter der Zeltplane hervorzukriechen. Im matten, stickigen Dunkel lag ich da, stumpf vor mich hinbrütend, in der Hoffnung, es möge endlich etwas geschehen.

Ich war entschlossen, mich zurückzuziehen. Wie ein krankes Tier schleppte ich mich von einem Augenblick zum anderen, mitten durch die Wüste der sich zur Ewigkeit dehnenden Zeit.

4. Eintragung

Man hat mich lebendig begraben. Ich sterbe den qualvollen Tod des Einsamen, der in das seichte, abgestandene Meer endloser Langeweile gestürzt wurde. Damit ich den Raum nicht verlassen muss, habe ich einige Portionen Purpur-Blätter hergeholt. Nach meiner eigenen Zeitrechnung esse ich einmal täglich. Ein Tag hat also die Länge von einer Mahlzeit zur anderen. Monate sind seit meiner Entführung vergangen, vielleicht sogar schon ein Jahr. Die Haare hängen mir ins Gesicht, verheddern sich in meinem Bart. Wenn ich mit der flachen Hand auf meine Hose klopfe, so wirbeln kleine Wolken weißen Staubs aus ihr hervor. Ab und zu ziehe ich sie aus, um sie durch Schütteln zu reinigen. Wäre es mir nicht zu aufwändig, so würde ich mir ein ganzes Gewand aus dem schwarzen Gewebe anfertigen, so wie es die Fremden tragen. Ich mag aber nicht. Das Nötigste will ich tun, weil ich in meiner Passivität trotzdem an eine Chance glaube. Was das allerdings für eine Chance sein soll, wie es also irgendwann weitergeht, und zwar so, dass das Leben für mich wieder lebenswert wird und meinen Bedürfnissen als Mensch entspricht, davon wage ich inzwischen nicht einmal mehr eine Vorstellung zu haben. Wenn es mir ganz schlecht geht, hole ich die Fotoalben aus der Kommode hervor und schaue sie mir an. Es beruhigt mich dann ein wenig, mir diese Bilder einer, wie es scheint, glücklichen Familie zu betrachten. Ich kenne bereits jedes einzelne Gesicht, das Spiel des Lichts auf Personen und Hintergrund. Und ich sehe mich selbst unter ihnen. Plötzlich stehe ich da, lächle den Personen neben mir zu, und sie lächeln zu mir zurück. Ich bin nicht mehr allein. Die Fotografien sind der Beweis dafür. Ich klappe das Album zu und fühle mich für Sekunden glücklich. Dann überkommt mich jäh der Zweifel. Mit zitternden Händen klappe ich das Album auf, entdecke den Betrug. Es gibt mich nicht, niemand lächelt mir zu, denn dort, wo ich mich gesehen habe, steht nichts als ein Haselstrauch, oder eine Schaukel, oder eine Hausmauer, alles, nur nicht ich. Weiter nach mir zu suchen, hat keinen Sinn. Diese extreme Form der Einsamkeit löscht mich allmählich aus. Ich werde leerer und leerer. Tief aus mir heraus schwillt diese Durchsichtigkeit hervor, die mich mit der Zeit verschwinden lassen wird. Das gläserne Wesen, als das ich mich empfinde, schmilzt wie dünnes Eis, dessen Wasser im Boden der Vergessenheit versickert. Meine letzten Gedanken presse ich beim Schreiben der Eintragungen aus mir heraus. Bald hat auch das ein Ende. Dann will ich nur noch schlafen.

(Rupert Dill)

Regelmäßig betraten MIT, LIN und REC den Raum, in dem ich mich aufhielt. Das Geräusch der Saite mit dem Trichter kündete jeweils ihr Kommen an. Sie unterhielten sich, egal ob ich irgendwo stand oder unter der Zeltplane lag. Mir kam es vor, als verstünden sie nicht, wie man überhaupt unter ein solches Ding kriechen konnte. Wussten sie denn nicht, was ein Zelt war? Sicher, ich benutzte es auf eine etwas eigenartige Weise, praktisch als Decke.

5. Eintragung

Hundert Tage sind wie hundert Jahre. Doch was interessiert mich das! Bald wird die Zeit stillstehen, und dann gibt es keinen Unterschied mehr zwischen einem Tag und hundert Jahren. Meine Glieder fühlen sich schwer an, denn ich bewege mich kaum noch. Was soll’s. Im Viereck herumzugehen liegt mir nicht. Das habe ich lange genug getan. Wird der Stillstand der Zeit für mich das Ende bedeuten? Bei meiner Geburt bin ich in Schwung versetzt worden, und wenn dieser Schwung ausgelaufen ist, so lebe ich nicht mehr. Meine Entführung hat diesen Schwung stark gebremst. Ich torkle bereits, kann mich kaum noch aufrecht halten. Der Stillstand der Zeit ist der Stillstand meiner Zeit. Werde ich, wenn es mich hier nicht mehr gibt, einen neuen Schwung erhalten – einen Schwung, der mich in eine neue Dimension hinein schubst und mich somit wieder existent machen wird?

(Rupert Dill)

6. Eintragung

Ich esse und schlafe, wasche mich hin und wieder. Mehr ist da nicht.

(Rupert Dill)

7. Eintragung

Der Trichter mit der Saite ist weg. Ich hatte ihn neben der Kommode vergessen.

Was nun? Jetzt kann ich den Raum nicht mehr selbständig verlassen. Die Purpur-Blätter, die ich in der untersten Schublade der Kommode aufbewahre, reichen jedoch noch für gut vierzig Mahlzeiten.

Ich werde mich besser wieder hinlegen und weiterschlafen.

(Rupert Dill)

Irgendwann, nach einer weiteren langer Zeit, die ich in meinem Zustand absoluter Passivität verbracht hatte, glaubte ich eine Veränderung zu bemerken. In mir selbst war ja längst alles zum Stillstand gekommen, da gab es eigentlich nur noch das totale Nichts, an dessen Schwelle ich bereits stand. In dieser Gleichgültigkeit aber nahm ich wahr, dass etwas fehlte, das wesentlich zu ihr beitrug. Es hatte mit dem Dauergeräusch, dem akustischen Sinnbild für die mich umgebende Monotonie zu tun – dem ewig vibrierenden Klang dieser, wie ich annahm, Riesensaite. Dieses Geräusch ließ nach, was mir einen kleinen Teil meiner früheren Aufmerksamkeit zurückgab. Schöpfte ich neue Hoffnung? Nein, ich hatte Angst. Die schützende Gleichgültigkeit, dieses Schwellenerlebnis zum Tod, hüllte mich nicht mehr ein. Jetzt geschah etwas. In meiner ersten Aufregung suchte ich nach dem Trichter. Vielleicht hatten ihn MIT, LIN und REC doch nicht mitgenommen und er lag noch irgendwo. Erstaunlich, wie schnell ich aus meiner monatelangen Lähmung eine solche Hast entwickeln konnte. Den Trichter fand ich aber nicht.

Ich musste abwarten, bis MIT, LIN und REC kamen, um ihnen, wenn sie den Raum verließen, zu folgen. Nach meiner bisherigen Erfahrung würde mir das keine Schwierigkeiten bereiten. Und in der Zwischenzeit? Ich schritt im Raum auf und ab, dicht an den Gegenständen vorbei, setzte mich auf die Kommode, spielte mit den Fingern an meiner abgewetzten Hose herum. Kam nun das, worauf ich so lange gewartet hatte?

8. Eintragung

Nichts geschieht. MIT, LIN und REC sollten schon längst bei ihrem Rundgang durchs Raumschiff bei mir angekommen sein. Wo bleiben sie? Ist etwas geschehen? Ich muss an die Wahrscheinlichkeit eines technischen Schadens denken. Bleibt darum das Vibrieren aus?

Ich schreibe, weil ich mich damit beruhigen kann. Das Herumsitzen und Warten kostet mich Nerven. Und hellwach bin ich. Ist es die Angst, die das auslöst? So oder so: es muss durchgestanden werden!

(Rupert Dill)

9. Eintragung

Es geschieht noch immer nichts. Essen mag ich nichts mehr. So sehr nimmt mich die Ungewissheit mit. Das Vibrieren ist weiterhin nicht mehr zu hören. Und MIT, LIN und REC bleiben dem Raum hier fern. Was wird geschehen? Wird überhaupt etwas geschehen? Ich weiß es nicht.

(Rupert Dill)

10. Eintragung

Warum habe ich nicht besser auf den Trichter mit der Saite aufgepasst! Wie gut könnte ich ihn jetzt doch gebrauchen. Ich muss nachsehen, was in den anderen Räumen vor sich geht. MIT, LIN und REC kamen doch mit solcher Regelmäßigkeit. Keine Spur von ihnen. Die Stille wirkt unangenehm. Nur das Geräusch des Kugelschreibers auf dem Papier ist zu vernehmen.

Bin ich noch der einzige Lebende an Bord? Ein verrückter Gedanke. Befreit aus der Starre der Hoffnungslosigkeit gibt es plötzlich nur noch mich. Unsinn. Es wird schon nichts passiert sein. Wie auch? Das hätte ich doch bemerken müssen. Oder nicht? Wie leicht es sich hier atmen lässt. Genau wie auf der Erde. Sauerstoff scheint genug vorhanden zu sein. Und wenn das in den anderen Räumen nicht mehr so ist? Vielleicht kommen MIT, LIN und REC deshalb nicht mehr. Der Gedanke versetzt mich in Schrecken: Ich treibe als einziger Überlebender in einem Raumschiff durchs All, fest darin eingeschlossen, eingekerkert. Steuerlos in der Unendlichkeit. Ohne Entrinnen. Wenn ich Glück habe, zerschelle ich an einem Meteoriten. Doch darf ich überhaupt auf einen solchen Gnadenstoß hoffen?

Nein. Ich will nicht daran denken. Ich schaue mir besser das Fotoalbum an.

(Rupert Dill)

Ich lag hellwach unter der Zeltplane, als ich eine Erschütterung verspürte. Die Härte des Schlages überraschte mich. Von Panik ergriffen, schnellte ich hoch, wobei die Zeltplane auf meiner Schulter hängen blieb. Mit der Hand riss ich sie herunter, stand da, zitternd, jederzeit bereit, mich zu Boden zu werfen. Mein Blick irrte umher, blieb an einigen Gegenständen hängen. Besonders die Kommode musste ich im Auge behalten, denn wenn wir das Gleichgewicht verloren, könnte sie auf mich stürzen. Einige weitere, schwächere Erschütterungen folgten. Ja, ich täuschte mich nicht. Wir flogen nicht mehr.

Und nun? Meine Überzeugung, gelandet zu sein, ließ mir keine ruhige Sekunde mehr. Ich musste raus, raus aus dieser Enge, um den Ort der Ankunft zu sehen.

11. Eintragung

Meine Hoffnung ist groß, auf die Erde zurückgekehrt zu sein. Möglicherweise befinden wir uns genau an derselben Stelle, wo die Fremden – ich schreibe bewusst nicht mehr: die Außerirdischen - Martina und mich überrascht hatten. Gut, dass ich die Wagenschlüssel bei mir behalten habe. Mein Wagen wird bestimmt noch dort stehen. Natürlich, es können ein Jahr oder sogar zwei Jahre seit damals hinter mir liegen. Was soll’s. Ich bin gesund, auch wenn ich ziemlich verwahrlost aussehen muss. Mein Haar reicht mir bis weit über die Schultern, und der Bart steht dem nicht nach. Sie werden mich für einen Landstreicher oder dergleichen halten, die Leute, denen ich zuerst begegne. Doch ich erzähle ihnen, was ich erlebt habe. Garantiert. Sämtliche Zeitungsredaktionen, Radio- und Fernsehstationen hören von mir. Kein Blatt nehme ich vor den Mund. Schön, wieder auf der Erde zu sein. Ich will nicht vergessen, die Familie, der dieses Fotoalbum gehört, das mir so oft Trost gespendet hat, zu besuchen. Ich bin es ihnen schuldig, mich persönlich zu bedanken. Stille. Nichts.

Natürlich ich muss zuerst diesen Raum hier verlassen können. Aber wie? Abwarten. Es findet sich schon eine Lösung. Oder täusche ich mich und wir sind gar nicht auf der Erde gelandet? Klammere ich mich an diese Hoffnung, fern jeglicher Realität?

(Rupert Dill)

12. Eintragung

Stille. Nach wie vor. Und ich habe mich selbst betrogen. Der Trichter mit der Saite ist mir nicht grundlos weggenommen worden. Sie wissen, dass sie mich in der Hand haben. Nur weil ich ihren Plan nicht kenne, bilde ich mir ein, sie seien großzügig zu mir. Dabei sitze ich schon lange in ihrer Falle fest. Von allen Varianten haben sie das Spiel mit der Ignoranz vorgezogen. Ein gemeiner Entschluss. Keine Gnade. Sie werden kommen. Ohne Zweifel, MIT, LIN, REC, KUB l, KUB2, KUB 3, KUB 4, KUB 5, OHN, SPI l, SPI 2 und SPI 3, sie alle werden kommen. Und sie werden mich holen. Nur - wozu?

(Rupert Dill)

Der Plethora-Effekt

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