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Kapitel 1

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Der Mann saß regungslos da. Nur die Schweißperlen auf seiner Stirn verrieten, dass er sich innerlich anstrengte. Er beschwor eine Szene in sich herauf, die ihn seit Jahren nicht mehr losließ – ein Film, der endlos in seinem Kopf ablief. Aber er kam weiter.

Jahre hatte er dazu gebraucht, um einen perfekten Plan auszuarbeiten. Sein ganzes Leben wurde davon bestimmt. Der Film in seinem Kopf verlangte nach Genugtuung. Nichts durfte so bleiben, wie es war. Dazu hatte er zu lange gelitten.

Das Telefon klingelte. Der Mann lehnte sich im Sessel vor und holte mit einer gemächlichen Bewegung den Hörer an sein Ohr.

»Kobas«, sprach er in die Muschel.

»Morgen um halb elf«, sagte eine Frauenstimme.

»Gut«, antwortete der Mann und legte auf.

Danach kippte er in seine alte Stellung zurück, spürte die harte Sessellehne in seinem Rücken. Der Film in seinem Kopf lief weiter.

Vor ihm tauchte, in flirrender Sommerhitze, ein kleiner See auf. Er lief darauf zu, und mit ihm rannte ein anderer Junge. Wie ähnlich sie sich waren! Am Seeufer angekommen, schlüpften sie – bis auf die Badehose – hastig aus ihren Kleidern. Kein Mensch war sonst zu sehen. Das Ruderboot ließ sich leicht los binden, glitt ins Wasser. Sie wussten nicht, wem es gehörte, kümmerten sich nicht darum. Die beiden Jungen sprangen hinein, schaukelten hinaus, auf die Mitte des kleinen Sees zu.

Es klopfte an die Zimmertür. Der Mann im Sessel wartete einfach ab.

»Sind Sie da, Herr Kobas?« fragte eine Stimme durch die Tür.

Es war die Besitzerin der Pension, in der der Mann, der sich Kobas nannte, für einige Tage ein Zimmer gemietet hatte – ein schäbiges Zimmer, wie er fand, das aber durchaus seinen Zweck erfüllte.

»Ja«, sagte Kobas, ohne sich im Sessel zu rühren. Sie wusste doch, dass er da war, denn sie hatte vorhin ja den Anruf durchstellen müssen.

»Wollen Sie das Abendessen heute wieder auf dem Zimmer einnehmen?«, fragte die Frau vor der Tür.

»Ja«, antwortete Kobas.

»Normalerweise essen bei uns alle Gäste im Speiseraum«, sagte die Pensionsbesitzerin. »Und ihr Zimmer müsste auch mal aufgeräumt werden, weil Sie doch heute Morgen – «

»Lassen Sie mich in Ruhe!«, unterbrach Kobas. »Ich habe zu arbeiten.«

Die Pensionsbesitzerin entfernte sich, schritt die hölzerne Treppe hinunter, was im Zimmer gut zu hören war.

Kobas erhob sich, trat zum Fenster, zog den Vorhang ein Stück zur Seite. Draußen war es schon dunkel. Direkt vor der Pension beleuchtete eine Straßenlaterne das Kopfsteinpflaster eines kleinen Vorplatzes. Vermutlich standen dort im Sommer einige Tische und Stühle, damit die Gäste im Freien sitzen konnten. Auf der schmalen Straße, die daran vorbeiführte, schien es wenig Verkehr zu geben.

Kobas ließ den Vorhang los. Hatte er wirklich an alles gedacht? Er musste sich unter Kontrolle haben. Diese Strenge gehörte zu seinem Plan. Es war ihm anfangs nicht leicht gefallen, sich von den Emotionen, die wie Fehlzündungen eine unerwünschte Befindlichkeit auszulösen drohten, zu befreien. Und er war auch jetzt nicht wirklich von ihnen frei, das wusste er. Doch er hatte sich endlich soweit im Griff, dass er seinen Plan ausführen konnte.

Einen Moment lang tauchte in seinem Kopffilm wieder der See auf. Das Ruderboot schaukelte leicht auf dem ruhigen Wasser. Ringsum säumte das mit vielen Büschen und Bäumen bewachsene Ufer den See ein. Es gab auch einen alten, morschen Steg, der nicht mehr zu gebrauchen war.

Früher als erwartet brachte ihm eine junge, schlecht gekleidete Frau das Abendessen aufs Zimmer. Sie wagte es kaum, näherzutreten.

Kobas nahm ihr das Tablett aus den Händen. Er mochte es nicht, auf diese Weise bedient zu werden. Trotzdem bedankte er sich mit einem schwachen Kopfnicken. Als die Frau draußen war, schloss er die Tür ab und fing, auf dem Bett sitzend, zu essen an.

Es schmeckte nicht. Das Fleisch war zäh, und die gekochten Kartoffeln zerfielen zu einer trockenen Masse. Nach wenigen Bissen warf Kobas das Besteck in den Teller, trank noch einen Schluck aus dem Weinglas, nahm dann das Tablett und stellte es neben der Tür auf einen Stuhl.

Wenig später lag er im Bett. Die Nachttischlampe neben seinem Kopf brannte. Kobas starrte zur Decke, die große, dunkle Flecken hatte.

Jetzt, so dicht vor dem Einschlafen, spürte er deutlich, wie nervös er war. Die ganzen letzten Monate hatte er sich regelmäßig frühzeitig ins Bett gelegt, meistens vor neun Uhr. Auch das gehörte zu seinem Plan. Dabei entsprach es überhaupt nicht seinen sonstigen Lebensgewohnheiten.

Kaum hatte er das Licht gelöscht, setzte der Film in seinem Kopf wieder ein. Alles schaukelte kaum spürbar – wie damals im Boot. Die beiden Jungen ließen sich auf dem kleinen See treiben. Das Ruder lag auf dem Bootsboden.

Plötzlich erhob sich der eine Junge. Das Boot geriet aus dem Gleichgewicht. Doch der Stehende balancierte es breitbeinig von einer Schräglage in die andere, ohne dass es umkippte. Der andere Junge saß da, hielt sich mit beiden Händen fest.

»Hör mit dem Unsinn auf«, bat er.

Lachen, lautes Lachen, das die Stille, die über dem See lag, zerschnitt.

»Hör auf, bitte, hör auf!»

Und wieder nur dieses Lachen.

Kobas griff zur Nachttischlampe, schaltete sie ein. Er musste den Film in seinem Kopf stoppen. Er war ohnehin dicht vor dem entscheidenden Augenblick, der alles umpolte. Doch der Gedanke an eine schlaflose Nacht erfüllte ihn mit Schrecken.

Er stand kurz auf, um das noch auf dem Tablett stehende Weinglas leer zu trinken. Erneut lag er dann in der Dunkelheit – und der Film in seinem Kopf lief weiter.

Das Ruderboot schaukelte mehr und mehr. Ja, es sollte umgeworfen werden! Dazu dieses laute Lachen. »Feigling!«, rief der breitbeinig dastehende Junge, jederzeit dazu bereit, ins Wasser zu springen. »Das kommt davon, wenn man immer das Muttersöhnchen spielt!»

Kobas setzte sich auf. Er schwitzte am ganzen Körper. Für den Notfall hatte er ja Schlaftabletten. Aber er wagte es nicht, eine einzunehmen. Schließlich brauchte er morgen einen klaren Kopf. Keine Medikamente – das hatte er sich geschworen. Wer war er denn, dass er es nicht einmal schaffte, einzuschlafen! Schließlich wartete der wichtigste Tag seines Lebens auf ihn.

Das Ruderboot schwankte heftiger – und kippte um. Die beiden Jungen fielen ins Wasser, schwammen. Das Ufer war nicht weit. Doch der eine stürzte sich auf den anderen, versuchte, dessen Kopf unters Wasser zu drücken. Ein Kampf entstand. Mit Wasser vermischte Worte gurgelten aus einer Kehle. Arme ruderten wild, schlugen um sich. Der Kopf des einen Jungen tauchte unter. Der Junge darüber lachte wieder laut, obwohl außer Atem.

Nach Luft ringend, schoss Kobas im Bett hoch. An der Schwelle zum Schlaf hatte ihn der Film in seinem Kopf mit der vollen Intensität erwischt. Jetzt war er schweißgebadet, zog sich das Unterhemd aus, warf es achtlos in die Dunkelheit des Zimmers. Dann schaltete er das Licht ein, stand auf, trat vor das Waschbecken und schaute sich im Spiegel an. Mit den Fingern prüfte er die Haut unter seinen Augen. Er sah nicht müde aus, nein. Und doch musste er schlafen, damit sich morgen keine Müdigkeit in sein Gesicht zeichnete.

Er legte sich ins Bett zurück. Schlafen konnte er nicht. Stundenlang wälzte er sich noch Hin und Her. Und der Film in seinem Kopf lief und lief …

Den Koffer in der Hand, schritt Kobas die Treppe hinunter. Unten angekommen, stellte er sich unter die Tür, die in ein kleines Zimmer führte. Die Pensionsbesitzerin saß dort an einem Tisch und frühstückte. Als sie ihn entdeckte, hielt sie mitten im Kauen inne und sagte dann mit vollem Mund: »Sie sind heute aber früh dran.«

»Ich muss weg«, sagte Kobas, und erst jetzt schien sie den Koffer in seiner Hand zu bemerken. »Ich will das Zimmer bezahlen.«

»Ach so.« Die Pensionsbesitzerin kaute weiter. »Natürlich. Ich dachte nur, Sie würden noch einige Tage bleiben.«

»Ich muss weg«, wiederholte Kobas, stellte den Koffer ab, schritt zum Tisch, an dem die Frau saß und legte ihr einige Geldscheine hin.

Sie wollte noch etwas sagen, versuchte sogar, ihn zurückzuhalten, weil er ihr zu viel bezahlt hatte, doch Kobas reagierte nicht darauf.

Draußen auf der Straße blieb er stehen, schaute auf die Uhr. Ein Wagen hielt neben ihm. Er stieg hinten ein, wobei er den Koffer neben sich auf die Rückbank legte. Der Wagen fuhr weiter.

»Bleibt es bei halb elf?«, fragte Kobas.

Vorne am Steuer saß eine Frau. »Ja«, sagte sie mit geradeaus gerichtetem Blick.

Kobas schaute wieder auf die Uhr. »Noch zwei Stunden«, murmelte er. »Das sollte reichen.« Dann lehnte er sich zurück. Er fühlte sich müde, schloss sogar für einige Minuten die Augen.

Der Wagen hielt vor einem modernen Wohnhaus. Die Frau schaltete den Motor aus. »Ich gehe vor«, sagte sie, zog den Zündschlüssel ab und stieg aus.

Sie war Mitte vierzig, groß und drahtig, mit langem, rötlichem Haar, das sie offen trug. Sie beeilte sich, den Hauseingang zu erreichen. Kaum hatte sie den erreicht, stieg auch Kobas aus dem Wagen. Den Koffer in der Hand, folgte er ihr. Sie durchschritten eine kahle Eingangshalle, betraten den Fahrstuhl.

Niemand war ihnen begegnet. Die Frau, deren Handgelenke goldene Armreife schmückten, tippte die gewünschte Etage ein. Ihr braunes, fast lederiges Gesicht blieb regungslos. Ihre Hüftknochen zeichneten sich durch das elegante, jedoch unauffällige graue Kleid ab.

Im fünften Stock stiegen sie aus dem Fahrstuhl, schritten durch ein kurzes Stück Flur. Die Frau schloss eine Tür auf, ließ Kobas mit dem Koffer an sich vorbei, trat dann selber ein und schloss die Tür hinter sich wieder ab.

Sie befanden sich in einem Wohnraum, der mit Möbeln aus dunklem, lackiertem Holz eingerichtet war. Um einen runden Tisch standen sechs Stühle mit hohen, geschnitzten Lehnen.

Kobas trat zum Fenster. Die Vorhänge standen offen. Draußen schien inzwischen die Sonne und vertrieb den Morgennebel aus den naheliegenden Hügeln vor der Stadt.

»Du siehst müde aus«, stellte die Frau fest.

»Was?«, reagierte Kobas sofort gereizt, riss sich dann aber zusammen und sprach in ruhigem Ton: »Hast du dich bei ihm persönlich krank gemeldet?»

»Wie vereinbart.«

»Wie hat er es aufgefasst?»

»Die viele Arbeit macht ihm Sorgen.«

Kobas nickte. »Dann wollen wir jetzt beginnen«, sagte er.

»Wir machen es hier.« Die Frau zeigte auf eine Tür, die in ein anderes Zimmer führte.

Kobas trat mit dem Koffer ein, den er auf ein breites Bett legte. Mit einem kleinen Schlüssel öffnete er die beiden Schlösser und klappte den Deckel zurück. Der Koffer enthielt zusammen gefaltete Kleider, die mit einer transparenten Plastikfolie geschützt waren. Er holte einen dunklen Anzug heraus, den er neben dem Koffer platzierte. Es folgte ein weißes Hemd mit feinen, braunen Streifen, dazu eine dunkelbraune Krawatte. Auch ein Paar schwarze Schuhe kamen zum Vorschein.

Die Frau lehnte sich an den Türrahmen und beobachtete Kobas, der nun jedes einzelne Kleidungsstück aus der Plastikfolie auswickelte und auf der Bettdecke ausbreitete. Dann drehte er sich um und fragte: »Ist das alles richtig so?»

»Absolut korrekt«, garantierte ihm die Frau und schritt auf Kobas zu.

»Du siehst wirklich müde aus«, stellte sie wieder fest und versuchte, Kobas Wange mit ihrer Hand zu berühren. Doch der wich ihr aus.

»Es wird doch gehen, oder?«, fragte er.

»Setz dich dort hin«, forderte ihn die Frau auf.

Kobas setzte sich vor einen großen Spiegel. Die Frau richtete eine Lampe auf ihn. Dann begann sie, sein Gesicht mit einer Flüssigkeit einzureiben, ließ diese einwirken, kämmte in der Zwischenzeit sein Haar nach hinten, wozu sie es mit Gel feucht machte.

»Du hast schlecht geschlafen, nicht?«, fragte sie, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.

»Ja«, antwortete Kobas.

»Kann ich verstehen.« Sie schnitt ihm mit einer kleinen Schere das Haar über den Ohren kürzer. »Wir kriegen es hin«, fuhr sie fort. »Du bekommst eben sehr schnell diese dunklen Ringe unter den Augen.«

»Um das wegzukriegen, bin ich monatelang früh zu Bett gegangen. Und du weißt, wie sehr ich das hasse.«

»Ja, das weiß ich«, sagte die Frau. Mit einem Pinsel strich sie ihm Schläfengrau ins Haar. »Es braucht sehr wenig davon«, sprach sie weiter, »doch an der richtigen Stelle. Ich weiß genau, wie es sein muss.«

Kobas wurde ein wenig ungeduldig.

»Gut rasiert, das ist wichtig«, sagte die Frau. »Das hast du heute Morgen bestens hingekriegt.«

»Wenn ich mich nicht einmal rasieren könnte, wäre wohl nichts zu machen.«

Die Prozedur vor dem Spiegel dauerte noch über eine halbe Stunde.

Dann zog Kobas die alten Kleider aus und die neuen an: Hemd, perfekter Krawattenknopf, Hose, Sakko, blaue Socken und zuletzt die Schuhe. Kobas schaute sich im Spiegel an.

»Hast du etwas anderes erwartet?«, fragte die Frau. »Wir haben es ja schon ausprobiert.«

Kobas nickte. »Das kommt hin.«

»Es ist perfekt«, sagte die Frau.

»Ja, es ist perfekt«, wiederholte Kobas.

Der Wagen fuhr in die Tiefgarage eines großen Geschäftshauses. Die Frau am Steuer hatte schwarzes, halblanges Haar, das steif wirkte, jedoch sehr streng frisiert war. Sie trug eine dunkle Sonnenbrille und eine braune Lederjacke mit Wollkragen.

Der Wagen kam zum Stillstand, wurde dann nahe bei einer gläsernen Doppeltür geparkt. Die Frau stieg aus, schaute sich um. Ihre dünnen Beine wirkten in der engen Hose, die sie trug, wie zwei Stäbe. Dann beugte sie sich zum Fenster des Wagens hinunter, dass einen Spalt breit offen war. »Ich glaube, die Luft ist rein«, flüsterte sie.

»Steht van Rooyens Wagen mit seinem Chauffeur draußen?«, fragte eine dumpfe Stimme zurück. Es war Kobas, der auf dem Rücksitz unter einer Decke lag.

»Ja«, antwortete die Frau ebenfalls flüsternd.

Motorengeräusch war zu hören. Ein Wagen kam angefahren. Die Frau mit der Sonnenbrille richtete sich auf, öffnete die Vordertür und setzte sich ans Steuer zurück. Dort nestelte sie an ihrem schwarzen Haar herum, das eine Perücke war.

»Was ist?«, fragte Kobas unter der Decke hervor.

»Es kommt jemand?»

»Wer?»

»Ein weißer, amerikanischer Wagen.«

»Und?»

»Mehr weiß ich nicht.«

»Schließ die Tür.«

Die Frau drehte vorsichtig den Kopf, griff nach einer lackledernen Handtasche, die auf dem Beifahrersitz lag. »Der Wagen parkt ganz in unserer Nähe«, sprach sie monoton.

»Reg dich nicht auf«, sagte Kobas. »Das hat garantiert nichts mit uns zu tun.«

Die Frau schob sich die Sonnenbrille gegen die Nasenspitze, um über den Rand der Gläser zu schauen. Sie beobachtete, die Handtasche inzwischen auf den Knien, wie zwei Männer aus dem weißen Wagen ausstiegen. Der eine hatte einen Aktenkoffer bei sich. Beide schritten auf eine gläserne Doppeltür zu, die sich automatisch öffnete.

»Und?«, fragte Kobas.

»Sie sind weg«, sagte die Frau.

»Na also.« Kobas schien erleichtert. »Nur keine unnötige Aufregung. Dass hier Leute kommen und gehen, wissen wir doch.«

Die Frau stieg, die Handtasche unter dem Arm, aus und öffnete die Hintertür. Kobas richtete sich auf, schüttelte die Decke von seinen Schultern.

Er trug einen dunkelgrauen Regenmantel mit hochgeschlagenem Kragen. Sein Haar war ein bisschen durcheinander. Er schaute auf die Uhr, wartete noch einige Sekunden, nickte und kletterte aus dem Wagen. In der Hand hielt er eine gelbe Plastiktüte. Die beiden schritten los.

Fast geräuschlos öffnete sich die gläserne Doppeltür. Von dort aus waren es nur wenige Schritte bis zum Fahrstuhl. Die Frau fuhr nach oben. Kobas blieb zurück und ging ungeduldig auf und ab. Dabei vermied er es, in den Bereich der Lichtschranke, die die automatische Glastür steuerte, zu geraten.

Regelmäßig warf er einen Blick in die Tiefgarage, wandte sich dann wieder dem Fahrstuhl zu. Der seitlich angebrachte Leuchtknopf zeigte ihm an, dass der Fahrstuhl ununterbrochen in Betrieb war.

Durch ein schmales, hohes Fenster aus Glas konnte Kobas die Ankunft der Fahrstuhlkabine beobachten.

Seine Hand fasste in die Plastiktüte und holte eine Faschingsmaske heraus, die ein lachendes Chinesengesicht darstellte. Mit einer schnellen Drehung wandte er sich ab, setzte sich die Maske auf und versteckte sich, nur wenige Schritte entfernt, in einer schwach beleuchteten Nische.

Die Fahrstuhltür öffnete sich. Kobas drehte sich nicht um. Seine Hand griff wieder in die Plastiktasche, umfasste eine Pistole.

Der Absatz eines Frauenschuhs schlug zweimal gegen die Kabinenwand – das war das Zeichen.

Kobas zog die Hand mit der Pistole aus der Plastiktüte und schritt zum Fahrstuhl, dessen Tür nun offen stand. Die Frau mit Perücke und Sonnenbrille hielt drinnen einen Mann unter Kontrolle. Auch sie hatte eine Pistole, allerdings mit aufgesetztem Schalldämpfer, in der Hand.

»Los, raus!«, befahl Kobas, und seine Stimme klang dumpf unter der Chinesenmaske.

Der Mann trat aus dem Lift. Er war etwa fünfzig, mit dunklem Anzug bekleidet, und er hatte einen braunen Aktenkoffer aus Leder bei sich. Die Frau folgte ihm dicht, die Pistole auf seinen Rücken gerichtet.

Kobas prüfte mit einem Seitenblick, ob sich sonst niemand in der Tiefgarage aufhielt. Da er nichts Unvorhergesehenes entdecken konnte, trieb er den Mann, dessen Gesicht von Angst gezeichnet war, vor sich her.

»Los«, sagte Kobas, als sie beim Wagen angekommen waren. »Dreh dich um!»

Der Mann zögerte. Kobas nahm ihm den Aktenkoffer ab.

»Dreh dich um!«, wiederholte er.

Die Frau steckte die Pistole mit dem Schalldämpfer in die Handtasche, öffnete den Kofferraum und kam mit einer aufgezogenen Spritze in der Hand zurück.

Der Mann sah dies nicht, da er sich bereits umgedreht hatte. Die Nadel bohrte sich in seinen Körper. Er verkrampfte sich, und seine gespreizten Finger versuchten sich, am lackierten Blech des Wagendachs festzuhalten. Nur langsam, ein Stöhnen auf den Lippen, sank er zusammen.

Die beiden packten den leblosen Körper, zerrten ihn hinter den Wagen, hoben ihn mit aller Kraft hoch, rissen an seinen Kleidern und schubsten ihn über den Rand des Kofferraums.

Dann machte sich die Frau daran, die Taschen des Bewusstlosen zu durchsuchen, was durch die Lage seines Körpers nicht ganz einfach war, und fand ein schwarzes Etui. Auch die goldene Armbanduhr nahm sie ihm ab.

Kobas beobachtete unterdessen die Umgebung.

»Hier«, sagte die Frau, übergab ihm die Uhr und das schwarze Etui. Kobas band die Uhr um sein Handgelenk, klappte anschließend das Etui kurz auf. Es enthielt Ausweise. Er steckte es ein und schlug dann heftig den Deckel des Kofferraums zu.

Hastig riss Kobas sich die Chinesenmaske vom Gesicht, warf sie zusammen mit dem Plastikbeutel und der Pistole ins Innere des Wagens.

»Dein Haar«, sagte die Frau. Mit beiden Händen richtete sie seine Frisur, schaute sich dann prüfend sein Gesicht an. »Gut«, nickte sie.

Kobas schlüpfte aus dem Regenmantel, den ihm die Frau abnahm, und ergriff den braunen Aktenkoffer des Mannes. Dann lief er auf die Glastür zu, die ihm den weiteren Weg freigab. Im Fahrstuhl lehnte er sich an die Kabinenwand. Die kurze, aber gelungene Aktion hatte ihn Kraft gekostet.

Der Fahrstuhl stoppte. Kobas verließ die Kabine und durchquerte mit schnellen Schritten eine Empfangshalle, erreichte die Drehtür, die auf die Straße hinaus führte. Draußen stand eine schwarze Limousine.

Kobas näherte sich dem Wagen. Der Fahrer machte sich daran, die Tür zum Fond zu öffnen, legte kurz die Hand an seine Mütze und grüßte auf diese Weise. Kobas stieg, den Aktenkoffer voran, in den Wagen.

Sie fuhren los. Kobas hob den Kopf und warf einen Blick durch die gläserne Trennscheibe. Der Fahrer hatte nichts bemerkt. Die Verkleidung schien perfekt zu sein und funktionierte. Er hielt ihn tatsächlich für Jan van Rooyen!

Kobas betätigte die Gegensprechanlage. »Fahren Sie mich zu Frau Kahn«, verlangte er vom Fahrer.

Dass eine solche Anordnung nicht üblich war, wusste Kobas. Und er wusste auch, dass Jan van Rooyen seinem Fahrer nie eine nähere Erklärung gab. Trotzdem drückte er erneut die Taste der Gegensprechanlage und sagte: »Frau Kahn hat sich heute krank gemeldet, was im Moment sehr schlecht ist.«

Er sah, wie ihm der Fahrer mit Kopfnicken zustimmte.

»Sie brauchen nicht auf mich zu warten«, sprach Kobas weiter.

Der Fahrer nickte wieder. Er kannte den Weg zu Frau Kahns Wohnung, denn Frau Kahn war seit Jahren Jan van Rooyens persönliche Sekretärin. Und da war es schon öfters vorgekommen, dass wichtige Unterlagen bei ihr zuhause abgeholt werden mussten, wenn auch nicht vom Chef persönlich.

Es war heiß im Fond. Kobas wischte sich mit der Hand über die Stirn, griff dann nach einer Zeitung, schlug sie auf und tat, als würde er darin lesen. Erst als der Wagen zum Stillstand kam, legte er sie wieder zur Seite.

Kobas stieg so schnell aus, dass der Fahrer nicht dazu kam, ihm die Tür zu öffnen. Den Aktenkoffer in der Hand, schritt er auf das moderne Haus zu, in dem Frau Kahns Wohnung lag. Ihr Wagen stand direkt davor. Bei der Haustür angekommen, klingelte er. Hinter ihm fuhr der Fahrer mit der Limousine davon. Fast gleichzeitig surrte der elektrische Türöffner.

Im fünften Stock angekommen, öffnete ihm die Frau die Wohnungstür. Ohne ein Wort zu sagen, trat Kobas ein. Auf dem runden Holztisch lag die gelbe Plastiktüte, daneben die schwarze Perücke und die Sonnenbrille. Kobas ging zum Fenster, schaute auf die Straße hinunter.

»Wenn er nur nicht frühzeitig zu sich kommt«, sagte er.

Die Frau lächelte und kam auf ihn zu. Dicht vor ihm blieb sie stehen. Ihre Hände berührten sein Gesicht, die Finger fuhren die Rundung seines Kinns ab. »Ist alles gut gelaufen?«, fragte sie.

»Ja«, antwortete er trocken.

»Hat der Fahrer nichts bemerkt?«, wollte sie weiter wissen.

»Nein, aber vielleicht wäre es besser gewesen, mich nicht von ihm hierher fahren zu lassen.«

»Das musste sein«, antwortete sie ihm. »So was wie ein erster, ungefährlicher Test. Mach dir da also mal keine Sorgen.«

»Van Rooyen muss aus dem Kofferraum, bevor er zu sich kommt«, sagte Kobas.

Sie verließen die Wohnung, stiegen in Frau Kahns Wagen und fuhren los. Kobas hatte die gelbe Plastiktüte, einschließlich der schwarzen Perücke und der Sonnenbrille, mitgenommen.

Frau Kahn saß am Steuer. Der Wagen raste über eine Landstraße, bog dann in einen schmalen Weg ab, holperte später über einen Waldweg und kam vor einem kleinen Holzhaus zum Stillstand. Kobas und die Frau stiegen aus.

»Bringen wir ihn rein«, sagte Kobas.

Bevor sie den Kofferraum öffneten, holte die Frau Perücke, Sonnenbrille, Pistole und Chinesenmaske aus dem Wagen. Die Chinesenmaske übergab sie Kobas, der sie sich gleich aufsetzte. Mit der Perücke und der Sonnenbrille machte sie sich selbst unkenntlich, wozu sie kurz einen kleinen Spiegel zur Hilfe nahm.

Der Mann im Kofferraum bewegte sich. Doch er schaffte es nicht, sich aus eigener Kraft zu erheben. Das Tageslicht blendete ihn. Kobas half ihm. Torkelnd stand er dann neben dem Wagen. Die Frau richtete die Pistole auf ihn.

»Was wollt ihr von mir?«, flüsterte der Mann, der Jan van Rooyen hieß, mit trockenen Lippen.

»Mitkommen!«, drang Kobas Stimme durch die Chinesenmaske.

Sie stießen den Mann vor sich her. Er musste längst bemerkt haben, dass er sich auf dem Gelände seiner eigenen Waldhütte befand.

»Was wollt ihr von mir?«, flüsterte er nochmals. Und etwas lauter: »Ist das eine Entführung? Wollt ihr Geld? Lösegeld? Wie viel verlangt ihr?«

Van Rooyen bekam keine Antwort.

Der Schlüssel zur Hütte lag unter einem Stein neben dem Eingang. Kobas öffnete die rustikale Eingangstür. Drinnen war es stickig und dunkel, da die Fensterläden alle geschlossen waren. Frau Kahn leuchtet mit einer Taschenlampe in den Raum mit rustikaler Einrichtung: Tisch, drei Stühle, eine Kochnische und ein mit Naturstein gemauerter Kamin. Im Innern gab es eine Klappe im Boden.

»Los, runter!«, forderte Kobas den Mann auf.

Die Frau leuchtete mit der Taschenlampe in die Öffnung hinein. Eine schmale Treppe führte steil auf einen erdigen Boden hinunter.

»Nein, nein«, sagte der Mann. »Das könnt ihr nicht machen!«

»Unten ist alles vorbereitet«, erklärte Kobas. »Wir haben eine Liege installiert, ebenso gibt es eine Gaslampe.«

»Da unten leben Mäuse und Ratten«, sagte der Mann, der sich sehr unsicher auf den Beinen fühlte.

»Runter jetzt!« Kobas verlor bald die Geduld.

Der Mann stieg die schmale Treppe hinunter, wozu er sich mit beiden Händen ständig irgendwo festhielt. Kobas folgte ihm dicht, nahm die Taschenlampe von der Frau entgegen und leuchtete damit den kleinen, niedrigen Keller aus. In einer Ecke stand eine Liege. Die Frau hatte die steile Treppe – die eher eine Leiter mit breiten Sprossen war – ebenfalls hinter sich gebracht, nahm die Taschenlampe wieder an sich.

Kobas schubste den Mann zur Liege und fesselte ihm Hände und Füße. Die Frau kam mit einer Spritze.

»Es ist besser, wenn du noch eine Runde schläfst«, bemerkte Kobas.

»Nein, nicht, bitte nicht«, bettelte van Rooyen. Doch da drang die Nadel schon ein.

KOBAS

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