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Kapitel Zwei
ОглавлениеDer Abend ist klar und kalt wie pures Eis. Sterne stechen wie glänzende Nadelspitzen Licht in den tiefschwarzen Nachthimmel.
Sarah schließt ihren Mantel, aber die frostige Luft kriecht von unten herauf, beißt sich an den Waden vorbei bis in die Oberschenkel. Elegant, hatte Alexander gebeten, elegant solle sie sich kleiden, und als sie gefragt hatte, was er darunter versteht, hatte er ihr einen außergewöhnlichen Theaterbesuch als Vergleich genannt. Nicht glamourös sollte sie wirken, aber besonders.
Nach einigen Überlegungen hatte sie sich für das lange, ärmellose Neckholderkleid entschieden, aus unschuldig weißem Taft, mit einem nicht zu weiten Ausschnitt, dafür im Rücken geschnürt mit breiten, sich überkreuzenden Stoffstreifen. Die Haare hat sie eingedreht und hochgesteckt, sodass der Verschluss des Kleides sichtbar bleibt, der ein breites Band um ihren Hals bildet. Als sie sich vor dem Spiegel drehte und dabei erahnte, wie sehr sie auf dem Weg zur Veranstaltung die kalte Luft aufwirbeln wird, mussten ihre Pumps Schnürstiefeletten mit Absatz weichen. Und schließlich griff sie im letzten Moment noch zu einem schmalen Gürtel, den sie locker um die Taille legte.
Alexander streckt sich, beugt den Körper vor und zurück. Eine Stunde sind sie gefahren bis hierher, in seinem flachen Sportwagen, dessen Schnelligkeit er lobte, während er die Enge verschwieg. »Du kommst zurecht?« Seiner Stimme folgt ein feiner, hauchgewordener Atem.
Sarah nickt. »Mir ist ein wenig kühl«, untertreibt sie und verschränkt die Arme vor dem Mantel. Unter ihm verbirgt sie ein Zittern, das nicht nur von Kälte, sondern auch von Aufregung getrieben wird. Sie war noch nie zu einer Veranstaltung eingeladen, auf der ihre Leidenschaft eine wesentliche Rolle spielt. Es geschieht überhaupt zum ersten Mal in ihrem Leben, dass sie sich zu ihrer Neigung so öffentlich bekennt. Seit Tagen hat sie überlegt, wie es sich anfühlen wird, plötzlich Teil einer solchen Gemeinschaft zu sein. Nicht nur von Anderen zu wissen, sondern auch damit umzugehen, dass man über sie weiß. Stets erlag sie kleinen, aber hinterhältigen Panikattacken, wenn sich der näherrückende Termin im Kalender aufdrängte. Mehrfach erwog sie, die Einladung doch noch auszuschlagen, ihre Zusage zurückzunehmen, sich notfalls zu verkriechen. Aus Angst vor den Menschen, denen sie begegnen wird. Was, fragt sie sich, sollten es lauter Krokodile mit Gelfrisur sein, die sich im Schlamm abartiger Fantasien suhlen und auf Frischfleisch warten? Wie soll sie mit ihrer blütenweißen Neugier vom Flusswasser probieren, während es von unten her nach ihr schnappt?
»Sie sind alle wie du«, versichert Alexander. Ihm ist Sarahs Zittern nicht entgangen und er weiß, dass ihr die Kälte nur ein Vorwand ist. »Du brauchst dich niemandem erklären.« Kurz überlegt er und lächelt dann. »Wenn du in die Oper gehst, musst du deinen Musikgeschmack nicht vor dem Sitznachbarn rechtfertigen, oder?«
»In der Oper«, kontert Sarah, »gibt es keine Krokodile.« Es klingt schärfer, als es gemeint ist, weil ihr die Kälte auf den Oberkörper presst.
Alexander überlegt kurz, dann begreift er. »Du stehst heute unter meinem Schutz. Das habe ich dir versprochen.« Er legt eine Hand an Sarahs Oberarm und reibt über den Stoff des Mantels. »Vertrau mir.«
Würde sie das nicht tun, denkt Sarah, bliebe sie nicht hier. Bislang hat sie keinen Grund, misstrauisch zu sein. Letztendlich wäre es dafür ohnehin zu spät, nachdem sie Alexander im Taxi unfreiwillig ihre Adresse genannt hatte. Als er sie heute abholte, überzeugte er in einem feinen Smoking, mit einer weißen Fliege, die unabgesprochen zu ihrem Kleid passte. Und mit einem Kompliment, das so spontan aus seinem Mund kam, dass es nichts anderes als ehrlich gemeint sein konnte. »So schön und geheimnisvoll wie eine Seerose siehst du aus«, hatte er gesagt. »Fürwahr. Wunderschön.« Und dann fehlten ihm einen Moment lang die Worte, bis er sich schließlich guter Manieren entsann und sie höflich begrüßte.
»Ich vertraue dir«, bestätigt Sarah. Sie schaut zu Alexander auf und versucht ein sicheres Lächeln. Es gelingt ihr halbwegs.
»Eines noch. Ich werde dich heute Abend nicht mit deinem richtigen Namen anreden. Jeder hier macht das so. Selbst wenn man sich persönlich bekannt ist.« Alexander sieht sie eindringlich an. »Es geht um Diskretion. Und um Sicherheit. Auch um deine.«
Sarah holt tief Luft. Plötzlich fühlt sich der Abend doch nach Risiko an. »Ich vertraue dir«, wiederholt sie schnell. Ein Mantra, mit dem sie sich selbst Mut zuspricht. »Aber das hättest du mir wirklich früher sagen können.«
»Wozu?«, entgegnet Alexander ungerührt. »Es ist rechtzeitig genug.« Er schaut an ihr herab, überlegt kurz und kneift dabei die Augen zusammen. »Rose wirst du heißen. Das passt.« Er spricht das Wort amerikanisch, höhlt das O und unterdrückt das E. »Rose.«
Das klingt furchtbar pathetisch, denkt Sarah und kann sich trotz ihrer Unruhe ein Lächeln nicht verkneifen.
»Dein Kleid«, erklärt Alexander, »fiel mir zuerst auf, als ich dich heute Abend abholte.«
Sarah nickt verlegen. »Eine frierende Seerose in eiskaltem Wasser«, komplettiert sie sein Bild. Bereits bis zur Hüfte hinauf fühlt sie sich unterkühlt.
Alexander reibt die Hände aneinander und atmet eine weitere Nebelwolke in die Luft. »Du hast recht. Wie unaufmerksam von mir. Wir sollten gehen.« Entschlossen reicht er ihr den Arm. »Bist du bereit, Rose?«
»Bringen wir es hinter uns«, antwortet Sarah diplomatisch. Als würde sie zu einer Schlachtbank gebracht. Und ein wenig kommt sie sich auch so vor. Sie hakt sich ein und lässt sich von Alexander führen.
Sie verlassen den kleinen Parkplatz durch ein seitlich gelegenes, offenstehendes Tor. Ein Kiesweg, der nur spärlich von alten Laternen beleuchtet ist und beständig unter den Schuhen knirscht, führt durch ungepflegte Ligusterhecken. Ihre blattlosen Äste werfen knöchrige Schatten, die sich – während man an ihnen vorübergeht – ineinander verhaken und ein lebendiges Spinnennetz aus Strichen bilden. Sarah findet das gruselig und rückt näher an Alexander. Gerade will sie ihn an seinen Vergleich mit dem außergewöhnlichen Theaterbesuch erinnern und fragen, ob er sich vielleicht in der Vorstellung vertan hat, als sich der Weg unerwartet nach rechts wendet.
Sarah bleibt stehen. Überrascht und beeindruckt zugleich. Sie hat die Spinne entdeckt, die im Zentrum des schaurigen Netzes aus Ligusterhecken wartet. Denn vor ihr öffnet sich eine Wiese, über die der Kiesweg zu einer einzeln stehenden Villa führt. Er ist gesäumt mit Kerzenlichtern, deren Flämmchen aufgeregt zappeln und mit Schatten um sich werfen. Wie kleine Leuchtfeuer, die zum Eingang des Gebäudes locken.
»Das ist …« Sarah fällt kein passendes Wort ein. Ihre Aufregung vervielfacht sich.
»Romantisch?«, versucht es Alexander. »Opulent? Damit hättest du nicht gerechnet?«
Sarah schüttelt den Kopf.
»Dann warte ab, bis wir drinnen sind.« Alexander setzt sich schmunzelnd in Bewegung und zieht Sarah ungefragt mit sich.
Jeder Schritt, mit dem sie sich dem Gebäude nähern, offenbart neue Details. Vor der Villa enthüllt sich eine Steintreppe aus dem Schatten. Ihre breiten Stufen führen, gesäumt von Skulpturen, zu einer massiven Holztür. Rechts und links des Eingangs leuchten Fackeln unruhig gegen die Wände und manchmal spiegelt sich ihr Lichtschein in einem der dunklen Fenster der unteren Etage. Im ersten Stock dagegen sind die zugezogenen Vorhänge von Licht durchdrungen. Auf ihnen mäandern Schatten aus unscharfen Umrissen von Menschen.
»Hast du noch Fragen?« Alexander schaut kurz zu Sarah, während sie sich der Villa nähern. »Gibt es etwas, das du jetzt geklärt haben möchtest?«
Sarah fühlt sich aus ihrer Faszination über das alte Gebäude gerissen. Fragen? Natürlich hat sie Fragen, sehr viele, und sie ahnt, es werden nicht weniger heute Abend. Aber sie versteht nicht, was mit Alexander zu besprechen wäre, bevor sie sich von dem Eingang oberhalb der Steintreppe schlucken lassen. Für was es nach diesem Moment zu spät sein könnte. Was sie Alexander nicht mehr mitteilen könnte, wenn sie sich erst in sein Fahrwasser begeben hat. Plötzlich erheben sich in ihrem Magen unzählige saure Monster und stellen unverdauliche Fragen. Was hat Alexander mit ihr vor? Wie wird er sie überhaupt vorstellen und gegenüber den anderen Gästen erklären? Als was betrachtet er selbst sie? Welche Rolle spielt sie hier für ihn? Warum, um alles in der Welt, hat sie sich auf diesen Abend eingelassen?
Und dann entdeckt sie das Schild, nicht breiter als zwei Handflächen nebeneinander in den Steinen der Mauer neben der Treppe. Die eingravierte Schrift ist bemoost, aber gut lesbar. »Villa Crocodile«, liest Sarah und erinnert sich an alles, was sie zuvor über Krokodile gesprochen hatten.
Sie spürt ihren Magen krampfen. Atmet tief ein, aber die eiskalte Luft schmerzt in den Lungen. Unvermittelt stoppt sie. Sie kann nicht in diese Villa. Die massive Tür erscheint ihr wie ein Damm, der beim Öffnen alles Flusswasser mit einem Mal entfesseln wird. Sie wird ertrinken darin, denn sie hat doch gar nicht schwimmen gelernt. Noch gar nichts hat sie gelernt und der Mann an ihrer Seite, der sie am Arm hält, stellt sich ihren Sprung ins Wasser vielleicht ganz anders vor als sie.
»Sarah?« Alexander schaut sie an. Überrascht und besorgt. »Was ist?«
»Ich kann nicht mitkommen. Tut mir leid«, presst sie heraus und hat Mühe, sich dabei nicht zu übergeben. »Ich glaube, ich bin gar keine richtige Sklavin. Oder was immer erwartet wird. Das waren doch alles nur Geschichten.« Sie drückt sich die Hand vor den Mund.
»Das kommt gar nicht in Frage«, antwortet Alexander resolut und greift ihren Arm fester. »Du gehst jetzt weiter.«
Sarah schüttelt den Kopf. »Bitte«, versucht sie es noch einmal, »können wir heute Abend etwas anderes unternehmen?«
»Nein.« Alexanders schroffe Antwort fällt im gleichen Moment, in dem er sich wieder in Bewegung setzt und Sarah mit sich zieht.
»Ich bezahle dir die Karte.« Sarah starrt wie gebannt auf die erste Stufe aus Stein, der sie immer näher kommen. Villa Crocodile. Der Kies unter ihren Schnürstiefeletten knirscht kurz und unregelmäßig.
Alexander lacht. »Ich muss hier doch keine Eintrittskarte kaufen.« Er zieht Sarah unbeeindruckt weiter. »Das würde übrigens auch nichts an meinem Entschluss ändern. Wenn ich dir jetzt das Recht einräume, über den Abend zu bestimmen, wirst du falsch wählen. Dann verpasst du die beste Gelegenheit für den Sprung in den Fluss. Das werde ich nicht zulassen.«
Sarah riecht bereits die Fackeln, welche an den Seiten der Tür aufgestellt sind. Ihr rußiger Duft überlagert die kalte Luft wie Öl das Brackwasser.
»Am Ende des Abends will ich dich anhören. Wenn du mir dann sagst, dass all das nichts für dich ist, dass sich deine Fantasien anders anfühlen und dass du künftig an Land bleiben möchtest, werde ich es akzeptieren.« Alexander setzt den ersten Fuß auf die Stufe. »Aber nicht vorher. Nicht jetzt. Nicht hier.« Wie ein Vater seine bockige Tochter zieht er Sarah die Treppe hinauf und stellt sie vor der Tür ab. »Ich bin überzeugt, du wirst mir später sehr dankbar sein, dass ich dir keine Wahl ließ.«
Sarah fühlt sich wie im Taumel. Dass sie schon auf dem Treppenpodest steht, bemerkt sie nur am Rande. Es ist wie im Sprung: Hat man einmal den sicheren Boden verlassen, stürzt man auf das Wasser zu. Villa Crocodile. Eine Umkehr gibt es nicht mehr.
Alexander klopft mit der Faust fest gegen das massive Holz der Tür. Mit der anderen Hand hält er Sarah an ihrem Arm. Nicht grob, aber entschlossen.
Knarrend öffnet sich der Türflügel. Erst einen handbreiten Spalt, dann mehr. Alexander beugt den Oberkörper kurz vor, bis er erkannt ist.
Ein buckliger Mann zieht die Tür nach innen. Er hält einen dreiarmigen Kerzenständer aus Metall, der schwer und antik aussieht. Die Flammen der Kerzen beugen sich der Zugluft. Sarah schätzt den Mann auf Mitte fünfzig, ist aber nicht sicher, denn das flackernde Licht scheint trügerisch. Sie erkennt dennoch einen schwarzen Anzug, aus dessen Brusttasche die Spitze eines weißen Tuches hervorschaut.
»Oh, Alexander«, sagt der Bucklige und nickt erfreut mit dem Kopf. »Du wirst oben bereits erwartet.« Dann entdeckt er Sarah. Sein prüfender Blick gleitet an ihr herab. »Und das ist? Ein unbekanntes Gesicht?« In seiner Neugier vergisst er den Kerzenständer und kleine Rinnsale aus Wachs stürzen zu Boden.
»Eine Novizin«, erklärt Alexander zügig, noch bevor Sarah selbst antworten kann. »Sie begleitet mich heute.« Er greift an den eisernen Kerzenständer und richtet ihn mitsamt der Hand des Mannes wieder auf. »Sie steht in meiner Obhut.« Eindringlich schaut er den Buckligen an. »Und sie verlässt dieses Haus ausschließlich in meiner Begleitung!«
»Guten Abend«, wispert Sarah gerührt. Sie ist dankbar, dass Alexander ihr zuvorkam. Denn sie selbst hätte vor Aufregung vergessen, ihren neuen Namen zu nennen.
Der Mann in der Tür entgegnet ihren Gruß nicht. Stattdessen wendet er sich unbeirrt Alexander zu. »Ich wünsche dir viel Vergnügen. Passt auf der Treppe auf, es ist düster hier.« Als er zur Seite tritt, schwanken die kleinen Flammen der Kerzen erneut, richten sich dann aber wieder auf.
Alexander fasst wortlos Sarahs Arm und schiebt sie durch die Tür. Vorsichtig gehen sie bis zu einer Treppe, die wie eine herabhängende Zunge aus dem oberen Stockwerk lechzt. Über die Holzstufen fließen Wärme, Stimmengewirr und mattes Licht herab.
»Rose?«
Sarahs Blicke wandern entlang des geschnitzten Geländers gegen den Strom, bis sie jenen Punkt erreichen, an dem sie auf gleicher Höhe sind mit dem Obergeschoss. Dort oben, denkt sie, warten die Krokodile. Ausgelassen, aber hungrig feiern sie ihre Frischfleisch-Party und gieren nach Nichtschwimmerinnen. Mitten unter ihnen wird sie auftauchen. Und alle werden es sofort bemerken, dass sie neu ist. Und nicht schwimmen kann.
»Rose!« Alexander drückt kräftig in ihren Arm. »Würdest du jetzt bitte vorangehen?« Er spricht den Satz in ungeduldigem Staccato. Feuert mit seiner Salve in ihren Nebel aus Gedanken. »Du träumst vor dich hin!«
»Entschuldige«, antwortet Sarah reflexartig und lauter, als gewollt. Vor Schreck entschuldigt sie sich dafür gleich noch einmal.
Der Mann mit dem Kerzenständer zieht hörbar scharf die Luft ein. Sein Körper strafft sich dabei und seine Augen werden größer als die Flammen der Kerzen. Als hätten ihm die Worte gegolten.
»Was ist mit dir los?«, flüstert Alexander dicht an Sarahs Ohr. »Erinnere dich, was dir Bruno in seinem letzten Brief geraten hat. Dass du einen Menschen suchen sollst, der zu dir passt.« Er sieht sie an, als schwebe irgendeine Erkenntnis bereits so deutlich zwischen ihren Köpfen, dass Sarah sie endlich bemerken müsste.
Sie greift instinktiv in ihre Manteltasche und ertastet Papier. Der Brief. Sie hat ihn nach dem Besuch auf dem Friedhof nicht zurück an seinen Platz gelegt. Nun ist er ihr ein unerwarteter Begleiter.
Alexander nickt mit dem Kopf. »Wenn du Bruno gefragt hättest, wo du mit deiner Suche beginnen sollst, hätte er dich genau hierher geschickt.« Mit einem Arm deutet er auf die Treppe. Den anderen legt er um Sarahs Hüfte. »Wäre er hier«, raunt er dann, »würde er dich wie eine dem Licht zustrebende Seerose hinaufsteigen und an der Wasseroberfläche erblühen lassen.«
Sarah streicht mit dem Zeigefinger über das gefaltete Papier in ihrer Tasche. Es fühlt sich an, als sei Bruno tatsächlich bei ihr. Als geschehe hier sein Wille. Sie dreht ihren Kopf kurz zu dem Mann mit dem Kerzenständer und sieht, wie er die Tür hinter ihnen abschließt. Ihr bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken.
»Trau dich«, redet Alexander auf sie ein. »Tu es für Bruno. Wenn dir schon nicht bewusst ist, dass du es für dich tust.«
Für Bruno, entscheidet sich Sarah. Langsam setzt sie den Fuß auf die unterste Treppenstufe und bewegt sich aus Alexanders Umarmung heraus. Sie zieht ihr weißes Kleid ein Stück nach oben, um nicht zu stürzen. Dann legt sie ihre Hand auf den Lauf des Holzgeländers, atmet noch einmal tief ein. Sie verlagert ihr Gewicht nach vorn und kämpft sich Stufe um Stufe an die Oberfläche.
Als sie im ersten Stock der Villa auftaucht, schnappt sie vor Überraschung nach Luft. Keine Krokodile. Der Flur ist vollständig mit Kerzen erhellt. Auf dem Parkettboden stehen massive Leuchter, die armdicke Wachsstumpen tragen. Ihre Feuer vereinen sich zu einer gemeinsamen Sphäre aus Licht, Wärme und öligem Paraffinduft. Es ist, als habe sie ihren Kopf in eine andere Welt gesteckt.
Längs des Flures streichen Schatten über die dick aufgetragenen, barocken Muster der Tapeten. Gegen sie lehnen hüfthohe Stahlrahmen, die Leinwände mit düsteren Bildern aufspannen. Sarah kann sie so schnell nicht fassen, sie erkennt die Form sich windender Frauenkörper in schwarzer Farbe, an Händen und Leib gebunden, Zeichnungen, die sich so martialisch anfühlen wie ihre Rahmen schwer sind.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Flures entdeckt Sarah eine weit geöffnete Tür. Im dahinterliegenden Raum scheint jener Fluss aus Stimmen zu entspringen, der ihr über die Treppe entgegen geschwappt kam.
Alexander schiebt Sarah die letzte Stufe hinauf. Dann fasst er von hinten ihren Kragen, streift ihr den Mantel ab und legt ihn über seinen Arm. »Du hast es geschafft«, murmelt er. »Fürwahr.«
Sarah schmiegt ihre Arme um die Hüften. Sie fühlt sich trotz ihres Abendkleides nackt und ungeschützt ohne den Mantel. Ihre äußerste Hülle ist gefallen. Sie will keine weitere hergeben heute Abend.
Alexander dreht sie zu sich und schüttelt den Kopf. »Wenn man dich sieht, könnte man meinen, du wolltest auf der Stelle verwelken.« Er deutet mit der Hand auf die offene Tür. »Wenn wir jetzt dort hineingehen, dann …«
Eilig fällt ihm Sarah ins Wort. »Rose«, sagt sie. »Ich heiße Rose. Ich weiß.« Sie will ihm zeigen, dass sie keine Probleme machen wird. Nicht mehr abgelenkt ist.
»Sehr schön, Rose«, lobt Alexander und ein amüsiertes Lächeln huscht über sein Gesicht. »Ich freue mich, dass du dieser Anweisung folgst. Wirklich. Aber das meinte ich nicht.«
Sarah fühlt sich wie ein Schulkind, das unter seinem fehlerfreien Aufsatz die Anmerkung »Thema verfehlt« findet. Sie beschließt, sich zurückzuhalten und Alexander sprechen zu lassen. Vielleicht, denkt sie, ist das ganz allgemein die sicherste Strategie, wenn man mit einem Thema nicht so vertraut ist.
»Ich meinte«, setzt Alexander fort, »dass du dich bitte stets an meiner Seite aufhalten wirst.«
Sarah nickt. Genau das will sie tun. Sie wird sein Fahrwasser auf keinen Fall verlassen. »Aus Sicherheitsgründen«, ergänzt sie. »Du passt auf mich auf.«
Alexander scheint kurz aus dem Konzept gebracht, dann findet er den Faden wieder. »Auch das. Wenn du dir im Verlauf des Abends etwas ansehen oder dich aus dem Raum begeben möchtest, will ich das zuvor wissen.«
Sarah fühlt sich mit jedem Satz seiner Belehrungen geborgener. »Ja«, sagt sie und lächelt. Zum ersten Mal, seitdem sie die Villa betreten haben. Sie beginnt, neugierig zu werden auf den Raum hinter der offenen Tür. »Ich werde dir stets Bescheid geben.«
»Nein«, tadelt Alexander, »das genügt mir nicht. Du wirst mir ausschließlich dann von der Seite weichen, wenn ich es dir erlaubt habe.«
Sarah nickt eilig und schiebt sich eine Haarsträhne hinter das Ohr, die sich aus ihrer Frisur gelöst hat. Was, denkt sie, haben seine Restriktionen an sich, dass sie derart aufregend klingen? Sie schaut verlegen an sich herab, zieht das Kleid und den schmalen Gürtel zurecht.
»Du wirst mich darum bitten müssen, jedes mal, ist dir das klar?« Alexander kneift die Augen zusammen. Er weiß, wie seine Anweisungen in der Frau klingen, die zunehmend nervös ihm gegenübersteht. Er sieht, wie sie auf ihrer Unterlippe kaut, ohne es zu bemerken. »Hast du das verstanden?«, setzt er scharf nach.
Sarah erstarrt. Eine wirbelnde Schar Schmetterlinge stürzt sich von oben herab, pflügt durch die Magengrube und steigt ihr wieder bis in die Brust. Bitten? Sie? Alexander? Diesen Mann mit dem schönen, kantigen Gesicht, den sie so oft für seine souveränen Entscheidungen bewundert hat, der sich ihr als Schutz anbot, der viel erfahrener ist als sie? Was bietet er ihr hier an? Ihr, die niemals mithalten kann mit ihm, so unerfahren, wie sie ist, die ihn heimlich bewundert hat, die einen Partner sucht, einen, der am besten so ist wie er? Hatte sie etwas übersehen? Welches Interesse kann Alexander an ihr gewonnen haben? Ihr Kopf beginnt zu rauschen. Sie denkt an die Einladung ins Café und an die bezahlte Taxifahrt. An seine Aufmerksamkeit ihr gegenüber. An sein Kompliment, als er sie heute abholte und eine Seerose nannte, obwohl sie ihm doch wie ein Mauerblümchen erscheinen muss. Sie erinnert sich an seinen Arm, der sich am Fuß der Treppe um ihre Hüfte gelegt hatte, und plötzlich fallen ihr so viele andere kleine Berührungen ein. Sie ahnt, dass sie nicht nur hier ist, um ihre Fantasien zu probieren. Sie ist auch für ihn hier. Für sich selbst hat er sie mitgenommen. Wie großartig sich das anfühlt, kann sie im Moment gar nicht beschreiben.
»Rose?«
»Bitten …«, sagt Sarah gedankenverloren und kämpft gegen das Rauschen der Schmetterlinge an. Als sie seinen irritierten Blick bemerkt, ergänzt sie schnell: »Bitte, meine ich, können wir jetzt dort hineingehen?« Sie zeigt auf die Tür, aus der gerade ein einzelnes, lautes Lachen herausspritzt.
Alexander zieht die Mundwinkel breit. »Du hast es also verstanden. Das freut mich, Rose.« Er bietet ihr den angewinkelten Arm an und sie hakt sich ein. Wie selbstverständlich.
Als sie gemeinsam den Flur durchqueren, fragt sich Sarah, was genau er gemeint hat. Was er glaubt, das sie verstanden hat.