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Kapitel Drei

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»Ich brauche erst einmal einen Kaffee.« Julia erhebt sich und zieht ihren Morgenmantel kräftig zusammen. Ihre Hände umklammern das Revers, als müsse sie sich daran festhalten. Dann wendet sie sich ab.

Sarah fühlt sich aus ihren Gedanken gerissen. Eben lag Lia noch vor ihr auf dem Tisch. Mit auf dem Rücken gefesselten Händen. Dort, wo Sarah jetzt sitzt, muss ihr Hintern gewesen sein. Sie schaut Julia hinterher und ihr Blick gleitet unwillkürlich ihren Rücken entlang nach unten. Schlank ist sie noch immer. Der über den Hüften eng um die Taille gezogene Morgenmantel lässt sie wie eine sich schlängelnde Sanduhr aussehen, wenn sie läuft. Sarah muss daran denken, wie Lia mit dem Oberkörper gegen ein Fenster lehnte, während ihr ein Korsett im Rücken geschnürt wurde. Herr Conrad hat das erzählt. Seine Geschichten wirken plötzlich viel greifbarer. Lebendiger. Wie nachkolorierte Bilder.

»Tut mir leid«, ergänzt Julia mit rauer Stimme und verschwindet im Flur, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Sarah lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück. Atmet tief ein und aus. Sie hat damit gerechnet, dass dieses Halsband eine Tür aufstoßen könnte zu alten Erinnerungen. Sie hat sogar darauf gehofft. Aber sie hat nicht geglaubt, dass es hinter der Tür noch derart lebendig zugehen würde. Das hatte sie ausgeschlossen, als sie nach dem Tod von Herrn Conrad die alten Fotos und das Halsband von der Wand genommen hatte. Wie welke Erinnerungen hingen sie dort und sahen so aus, als würden sie nach ihrem Verbleichen auch bald vergessen sein. Aber Julia hat nicht vergessen. Und Sarah beginnt, etwas Ungeheuerliches zu fürchten. Dass, während Herr Conrad bis an sein Lebensende in seiner kleinen Werkstatt gewartet hat, Lia nicht weit entfernt ebenso wartete. Er auf sie. Sie auf ihn. Ob aus Unkenntnis oder Stolz. Beides wäre schlimm. Besonders für Julia, wenn sie davon erfährt.

Sarah beißt sich auf die Unterlippe. Sie fühlt sich unwohl. Es ist, als halte sie zwei Fäden in der Hand. Auf der einen Seite die Geschichte von Herrn Conrad, auf der anderen jene von Lia. Sie fühlt sich als Bindeglied zwischen beiden. Und sie ist nicht sicher, ob sie die Enden wirklich verknoten soll.

In der Küche klappert Geschirr, dann pocht eine Schranktür gegen ihren Rahmen und schließlich klirrt es. Sarah zieht den Kopf ein.

»Mist«, hört sie Julia fluchen. »Verdammter Mist!«

Sarah erhebt sich und folgt dem Geräusch. Sie überlegt, ob es richtig war, unangekündigt hierher zu kommen. In Julias Reich einzudringen. Ihr ohne Vorbereitung nicht nur räumlich, sondern auch seelisch derart nahezukommen. Sie hat Julia überrumpelt. Vielleicht sollte sie besser gehen, bevor noch mehr zu Bruch geht.

Als sie vor der Tür zur Küche steht und ihren Kopf vorsichtig um die Ecke schiebt, sieht sie Julia zwischen den Scherben einer Porzellantasse knien. Der Saum des weißen Morgenmantels faltet sich auf dem Boden und Julia drückt ihren Daumen in die ausgestreckte Innenfläche der anderen Hand. Hilflos sieht sie aus, denkt Sarah. Überfordert. Aus dem Konzept gebracht.

»Ist etwas passiert?«, fragt sie vorsichtig, obwohl es doch offensichtlich ist. »Kann ich dir helfen?«

Julia betrachtet ihre Hand. »Nein, ich habe nur …«

Sarah müht sich, nicht auf die weißen Scherben zu treten und steht nach drei Schritten neben ihr. Sieht unschlüssig auf sie herab. Als Julia den Kopf ein wenig senkt, um die Hand zu betrachten, durchfährt sie ein Schauer. Denn sie blickt direkt auf den Nacken. Dort, wo die große Schließe des Halsbandes immer gelegen haben muss. Damals.

»Ich habe mich geschnitten«, stellt Julia sachlich und nüchtern fest, dreht ihren Kopf und schaut nach oben. Für den Bruchteil einer Sekunde erstarrt sie. Erinnert an tausend Momente, in denen sie zu einem anderen Menschen aufsah. Obwohl das schon eine so lange Zeit her ist.

Sarah bemerkt es. Ihr ist sofort bewusst, dass sie beide an denselben Menschen denken. An das gleiche Machtverhältnis. An dieses besondere Gefühl, unterworfen zu sein. Sie hält dem Blick von Julia stand, der erneut fragt, was zwischen ihr und Herrn Conrad geschehen ist.

»Ich bin kurz im Bad«, sagt Julia schließlich mit gepresster Stimme und es fühlt sich an wie eine Flucht. Während sie sich mühsam erhebt, bewegt sie sich nach vorn, um sich nicht unmittelbar neben Sarah aufzurichten. »Das hier räume ich gleich weg.«

Sarah nickt. Es ist ihr unangenehm. »Soll ich besser gehen?«, fragt sie unsicher. »Wir könnten uns für einen anderen Tag verabreden, oder …« Oder gar nicht, denkt sie. Auch das wäre möglich.

»Nein«, antwortet Julia. »Du gehst nicht.« Sie lächelt nur leicht, aber es wirkt ehrlich. Vorsichtig schreitet sie über die Porzellansplitter hinweg und verlässt ihre Hand haltend den Raum. »Ich habe noch Fragen an dich«, ruft sie von irgendwoher und Sarah nimmt an, dass es das Badezimmer ist.

Sie blickt sich um und entdeckt in der Ecke hinter der Tür einen kleinen, runden Mülleimer. Kehrschaufel und Besen sind gegen ihn gelehnt.

»Fragen?«, ruft sie zurück, während sie zugreift. »Welche?« Sarah überlegt, welche Antworten sie an Julias Stelle suchen würde. Vielleicht, wie sie Herrn Conrad kennengelernt hat. In welchem Verhältnis sie zueinander standen. Und schließlich die unausweichliche Kardinalfrage. Aus welchem Grund sie das Halsband besessen hat. Spätestens diese Antwort würde die beiden Fäden ganz nah aneinander bringen.

»Woher kennst du Bruno?« Im Badezimmer ist kurz ein kräftiger Wasserstrahl zu hören, der hart im Waschbecken aufprallt.

Sarah nickt. Sie hat mit der Frage gerechnet. Mit Kehrschaufel und Besen geht sie in die Hocke und schiebt die ersten Scherben zusammen.

»Ich wollte einen Gürtel kaufen«, ruft sie zurück. »Letztes Jahr zu Weihnachten. Deswegen fand ich in seine Lederwerkstatt.« Eigentlich war es umgekehrt, korrigiert sie sich. Sie entdeckte zuerst dieses rostige Schild unter einer Toreinfahrt: »Lederwarenmanufaktur, Inhaber C.B. Conrad«. Und anschließend wurde der Gürtel zum Vorwand, den Laden aufzusuchen. Wie gut es dort roch.

»Aha«, sagt Julia im Bad. Es klingt, als würde ihr die Antwort nicht genügen.

»Meine Schuhe waren nass«, ergänzt Sarah. »Darum bot er mir an, einen Moment zu bleiben.« Aus dem Moment war einer der aufwühlendsten Tage ihres bisherigen Lebens geworden.

»Verstehe«, antwortet Julia. »Manchmal lernt man sich an außergewöhnlichen Orten kennen. Das ging mir früher auch so.« Eine Schranktür klappt im Badezimmer, dann rauscht wieder kurz das Wasser.

Sarah ahnt, an was Julia denkt. An den Strand, an dem sie saß, als Bruno sie gefunden hat. An das Teelicht zwischen ihnen. An die kleinen Steine. Damals, als Bruno noch nicht die Werkstatt besaß und quer durch das Land zu seiner Kundschaft gefahren ist. Er konnte die besten Korsetts auf Maß fertigen, hat man ihr gesagt.

»Was machst du beruflich?« Julias Gedanken scheinen den gleichen Weg genommen zu haben.

Mit dem Besen widmet sich Sarah auch den kleinen Scherben, die sich in die Fugen der weißen Fliesen verirrt haben. Sorgfältig schiebt sie die letzten kleinen Splitter auf die Schaufel und erhebt sich.

»Ich bin Tänzerin.« Sie sieht sich noch einmal um, ob sie einen Splitter übersehen hat, findet aber nichts. »Ballett. Ich habe eine Stelle an der Oper.« Sie erinnert sich, dass sie für Herrn Conrad auf Zehenspitzen gelaufen ist. Er hat es so verlangt. Als hätte er es geahnt.

»Beeindruckend«, ruft Julia aus dem Badezimmer. »Das ist der Traum aller Mädchen, oder?«

Sarah will nicht erklären, dass viel mehr dahinter steckt, als kleine Mädchen sich das je vorstellen. Es würde wie eine Rechtfertigung klingen, die nicht notwendig ist.

»Als Kind träumt man von vielem«, sagt sie beiläufig und balanciert die Kehrschaufel vorsichtig über den Mülleimer. Gerade hebt sie den Deckel, als sie Julia antworten hört.

»Auch davon, sich einem Mann zu unterwerfen?«

Die Scherben rutschen wie eine Porzellanlawine tosend in den Mülleimer. Sarah ist so erschrocken, dass ihr der Deckel aus der Hand gleitet und mit einem lauten Knall schließt. Sie stellt die Kehrschaufel ab und reibt sich eher aus Verlegenheit die Hände. Dann lehnt sie sich gegen die Wand und überlegt. Es gab keinen konkreten Zeitpunkt, an dem sie festgestellt hat, diese Leidenschaft in sich zu tragen. Sie erinnert sich, als Kind stets jene Märchen gemocht zu haben, in denen Prinzessinnen entführt und gefangen gehalten wurden, in denen arme Stieftöchter dienen mussten und mitunter auch grob behandelt wurden. Deren Geduld, Leid und Tapferkeit bewunderte sie. In ihren Gedanken wurden daraus oftmals Gehorsam, Unterordnung und Hingabe. Vor allem aber Größe. Die Geschichten verloren daher an Faszination ab dem Kapitel, in dem die Prinzessinnen und Stieftöchter befreit wurden. Umgekehrtes Happy End. Als sie älter wurde, wuchs ihre unbeschwerte Faszination zu einem deutlichen Kribbeln im Unterleib. Aus Märchenbüchern wurden erotische Romane. Sie las nicht mehr auf dem Boden sitzend, sondern kniete. Und wünschte sich einen Mann, dem sie sich unterwerfen konnte, der von ihr Gehorsam, Unterordnung und Hingabe forderte. Für den sie Stieftochter und Prinzessin zugleich sein würde. Gefunden hat sie ihn nie. Dass es ihn überhaupt geben könnte, glaubt sie erst seit den Erzählungen von Herrn Conrad über Bruno und Lia.

»Ist alles in Ordnung?« Julia schaut vorsichtig durch den Türrahmen in die Küche. Der weiße Morgenmantel ist verschwunden. Über einer schwarzen Hose aus Stoff trägt sie eine dunkelgrüne Bluse. Ihre Füße stecken in flachen Pantoletten.

»Ja, es ist alles in Ordnung«, versichert Sarah schnell und befreit sich von ihren Gedanken. »Ich weiß nicht, wann ich das alles bemerkt habe. Es fühlt sich an, als sei es immer da gewesen.«

Mit beiden Händen schiebt sich Julia die schwarzen Locken nach hinten. »Angeboren«, sagt sie und nickt, während sie sich die Haare hinter dem Kopf aufschüttelt. »Betrachte das als Geschenk. Manche entwickeln ihre Neigung vielleicht aus bestimmten Ereignissen im Leben. Mag sein. Manchen liegt es aber auch in den Genen.« Sie zwinkert. »Das sind die Echten.«

Sarah verschränkt die Arme vor ihrem Körper. »Wie war es bei dir?« Quid pro quo. Auch sie hat Fragen.

Julia läuft vorsichtig zur gegenüberliegenden Küchenzeile und schaut dabei auf den Boden. »Danke, dass du die Scherben weggeräumt hast.« Dann öffnet sie den Schrank und zieht eine runde Metalldose nach vorn. »Möchtest du auch einen Kaffee?«

Sarah nickt. Ein Tee wäre ihr lieber gewesen. Rooibos. Den hat sie bei Herrn Conrad immer getrunken. Aber sie will keine Umstände machen.

Julia füllt einen Wasserkocher, schaltet ihn ein und schiebt auf der Anrichte zwei Tassen nebeneinander. Sie blickt kurz über die Schulter zu Sarah. »Ich erinnere mich, als Kind breite Gürtel gemocht zu haben.« Sie spreizt Daumen und Zeigefinger ihrer Hände auseinander und fährt sich nach beiden Seiten über die Taille. An ihrem linken Mittelfinger klebt ein frisches Pflaster. »So, weißt du? Ich habe mich damit eingeschnürt, bis ich kaum noch atmen konnte.« Julia lächelt verschämt, als erzähle sie eine peinliche Begebenheit. »Das ist über vierzig Jahre her«, ergänzt sie entschuldigend.

Sarah lächelt zurück. Denn schon wieder sieht sie Lias geschnürten Rücken vor dem Panoramafenster des Hotels. Und Bruno, der ihr den Atem raubt. Sie wird es irgendwann erzählen müssen, dass ihr diese Begebenheit bekannt ist.

Mit einem kleinen Löffel schaufelt Julia Kaffeepulver in die Glaskanne. Sorgfältig, um nichts zu verschütten. »Da war ich höchstens vierzehn Jahre alt. Und habe mir vorgestellt, all das für jemanden zu tun. Oder es tun zu müssen.« Sie räuspert sich. »Sowohl das Einschnüren als auch der Gedanke, währenddessen jemandem zu Willen zu sein, haben mich erregt. Bevor ich überhaupt ahnen konnte, was Erregung tatsächlich bedeutet. Als ich später Bilder von Frauen in Korsetts sah, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als eine von ihnen zu sein.« Das Wasser im Kocher beginnt zu rauschen und Julia legt abwartend ihre Hand an den Griff. »Ich habe nie geglaubt, dass ich das tatsächlich einmal erleben werde. Bis Bruno kam.«

Bis er dir ein Korsett anlegte, denkt Sarah. Und auch einen Riemen um den Hals, der nun erlebnisgetränkt im Wohnzimmer auf dem Tisch liegt. Auch wenn du ihn erst gar nicht mochtest. Sie holt tief Luft. »Wie hat er dich von dem Halsband überzeugt?«

Julia gießt das heiße Wasser in die Kanne und setzt bedächtig einen Deckel auf, an dem ein Filter befestigt ist. Dann dreht sie sich um. »Möchtest du das wirklich wissen? Es ist nicht ganz harmlos …« Sie wiegt den Kopf hin und her. »Ich bin nicht sicher, ob ich dir das erzählen soll.«

»Es würde mir helfen«, antwortet Sarah schnell. »Ich würde gern erfahren, was es mit dem Halsband auf sich hat.« So lang hat sie es bei sich aufbewahrt, so oft hat sie es in der Hand gehalten. Sie möchte seine ganze Geschichte erfahren. »Wenn es dir nicht zu intim ist.« Dann senkt sie den Blick. »Ich möchte selbst eines tragen. Irgendwann.« Suche, hatte Herr Conrad geschrieben. Suche nach dem, der zu dir passt.

»Reden wir offen«, sagt Julia entschlossen, dreht sich um und lehnt sich gegen den Schrank. »Ich habe mich Bruno unterworfen und er hat mich angenommen. Das ist dir nun bekannt. Du solltest aber noch wissen, dass es eine sehr tiefe Beziehung war, die wir über Jahre miteinander führten. Er hat mich nicht einfach nur erreicht. Er griff mich viel tiefer …« Ihre Stimme klingt belegt. »Direkt an meiner nackten Seele, verstehst du?« Sie nickt, als wolle sie es sich selbst bestätigen. »Bruno behauptete stets, so etwas geschehe ebenso endgültig wie einmalig.« Mit einem eindringlichen und festen Blick sieht sie zu Sarah. »Wie ist das bei dir? Du bist zwar viel jünger als ich, aber …« Ihre Augen werden schmal, sie konzentriert sich. »Wolltest du bei ihm zu meiner Nachfolgerin werden?« Es ist ihr anzusehen, dass die Frage Kraft kostet und schmerzt.

Sarah nimmt erschrocken die Handflächen nach vorn. »Nein«, wehrt sie entschlossen ab, »wir haben uns wirklich nur unterhalten!« Vielleicht ist das ein wenig untertrieben, gesteht sie sich ein. Denn sie sieht sich vor Herrn Conrad knien, während er im Sessel saß. Aber gleichzeitig erinnert sie sich auch, wie deutlich er sie von sich gewiesen hat. Denn er hat auf die Rückkehr von Lia gewartet. Bis an sein Lebensende. Sarah fühlt sich unwohl bei dem Gedanken, dass Julia das nicht ahnt. Es wird schwer werden, es ihr mitzuteilen. Vielleicht sollte sie es besser für sich behalten. »Um ehrlich zu sein, bin ich bislang keinem Mann begegnet, dem ich mich unterwerfen würde.« Und nach einer kurzen Pause fügt sie an: »Auch deswegen höre ich dir gern zu, wenn du über das Halsband erzählst.«

Julia schweigt einen Moment. »Du bist noch jung. Du hast alles vor dir.« Dann greift sie die Kanne und löst sich vom Schrank. »Lass uns ins Wohnzimmer gehen. Und bring die Tassen mit.«

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