Читать книгу Viva la Pizza - Jonathan Pielmayer - Страница 4
Nr. 02 DIAVOLO
ОглавлениеDas mit Abstand Dämlichste in so einer Situation ist ja immer der Leerlauf. Ein schwarzes Loch aus Zeit und Motivation. Jetzt einfach losziehen und ein bisschen die Stadt erkunden ist nicht drin. Das schlechte Gewissen würde sofort Alarm schlagen wie NORAD bei einem Angriff mit Interkontinentalraketen. Schließlich geht es hier um das schützende Dach über dem Kopf. Die Miete. Den mit Fertiggerichten und Puddingbechern gefüllten Kühlschrank. Einfach um die nackte, elementare Angestelltenexistenz. Das verfassungsmäßige Bleiberecht in der Berufswelt. Ohne, dass man nach sechs Monaten, nach abgelaufener Praktikumsfrist, wieder zurück in die Notunterkunft des Kinderzimmers abgeschoben wird.
Entnervt klickt Lucas ein paar Pop-ups der Jobbörse fort und scrollt weiter über die Homepage. Drei Wochen sind vergangen. Ergebnis bis dahin: Null. Totale Jobwüste. Zur Zeit scheint alles gesucht zu werden, nur kein Mitarbeiter für Unternehmensberatungen. Oder irgendetwas, was man mit seinem Studienabschluss noch machen könnte, ohne gleich dabei sein mühsam angeeignetes Potential verraten zu müssen. Lucas' Zeit hier scheint schneller vorbei, als seinen Brüdern in die hohle Hand gewettet. Dabei hat er sich ja noch nicht einmal an der Brooklyn-Bridge im NYTTJA-Rahmen satt gesehen. Oder den Vögeln auf dem Strommast. Beide hängen als Fotos über der kleinen Couchgarnitur, die er extra für die Wohnung gekauft hat.
Unablässig öffnet er mit Rechtsklick weitere Jobangebote in einem neuen ›Tab‹. Bei einem merkt er erst hinterher, was es ist: Das neue Praktikantengesuch seines ehemaligen Arbeitgebers.
Kopfschüttelnd liest Lucas die großen Versprechungen samt dem auffällig vielen Selbstlob.
»Was ein Arsch,« schließt Lucas das Browser-Fenster und steht auf. Die ganzen letzten Tage hat er es vermieden, unnötigerweise das Haus zu verlassen, jetzt aber zieht es ihn dann doch ins Freie. Frustriert schnappt er sich Mantel und Schal, knallt die Tür zu und läuft los. Unten, am Absatz des Treppenhauses prallt er fast mit Herrn Daxler zusammen. Sein Vermieter begrüßt ihn mit einem stechend argwöhnenden Blick, der kaum die tief sitzende Sorge verhehlt, mit Lucas nun einen arbeitslosen Mietnomaden im Haus zu beherbergen. Einen, der auf 57 Quadratmetern abzüglich Dachschrägen seine 12-köpfige rumänische Großfamilie vor dem Zoll versteckt und in der Biotonne Giftmüll entsorgt.
Wie eine zerrissene Plastiktüte lässt sich Lucas vom eisigen Wind durch die abendlichen Straßen der Stadt treiben. Der Weihnachtsglitzer wurde allerorts längst wieder abmontiert und eingemottet. Jetzt ist alles nur noch grau und blöd.
Beim Geld Abheben am Automaten fällt ihm die Zahl auf seinem letzten Kontoauszug ein. Viel Luft ist nicht mehr. Zu knapp war das Ganze kalkuliert. Zu viel Kapital ging für die Wohnungseinrichtung drauf. Für den ganzen Kleinscheiß, an den man gar nicht denkt. Neues Sideboard, ein paar Gläser und Tassen, noch eine zusätzliche Pfanne! Ist irgendwem bewusst wie teuer eine Pfanne sein kann? Erst recht, wenn man sich denkt: Ach, die erste selbstgekaufte Pfanne meines Lebens – nehme ich jetzt mal nicht die billigste von allen. Soll ja auch länger halten als bis nächste Ostern.
Lucas zwickt seine Augen zu einem schmalen Spalt zusammen. So, als wolle er dieses mulmige Gefühl vom schrumpfenden Kontostand zerdrücken. Eigentlich ist das elendige Drama mit den monatlichen Finanzen nur ein ganz abgekartetes Real-Life-Video-Game, das sich ein perfider Banker ausgedacht hat, der bei Pac-Man immer von den Geistern gefressen wurde. Auf der einen Seite steht eine gefräßige achtarmige Pixelkrake mit riesigen Dollarzeichen in den Augen. Auf der anderen Seite steht man selbst, der Videospielheld. Sein Job ist es der Krake frische Banknoten in den Rachen zu schieben. Dafür muss man sich wie ein Wahnsinniger um monetären Nachschub sorgen. Wo auch immer man ihn her nimmt. Man klettert auf Bäume, kraxelt durch Höhlen oder gräbt die Berge um. Jeden Fitzel, den man findet, wirft man dem Moneten-Monstrum zu. Allerdings ist diese Krake nicht nur gefräßig, sondern auch auf üble Weise hinterlistig. Einfach mal so bricht sie ein Stück vom Kontostand ab, um es sich gierig einzuverleiben. Mit unvorhergesehenen Reparaturen zum Beispiel. Oder Versicherungsnachzahlungen oder Strafzetteln. Und wehe, der Haben-Balken rutscht runter bis Null. Dann springt die Krake aus dem Wasser und verschlingt den mittellosen, insolventen Helden. GAME OVER. ›Für ein weiteres Spiel, werfen Sie bitte eine neue Münze ein. Ach, Sie sind ja Pleite. Tja, ihr Pech.‹
Jeder Geldautomat sollte mit einem Joystick versehen sein. Das würde weiß Gott mehr der Realität entsprechen.
Mit seinen abgehobenen 50 Euro aus dem Geldschlitz stößt Lucas einen kleinen Seufzer aus. Wenn er gegen die böswillige Krake gewinnen möchte, sollte jetzt sehr schnell etwas passieren. Ein Extraleben hat er nicht. Nur seit Weihnachten 33,3-prozentige Anteile eines mittelgroßen Familienunternehmens für Baumaschinen. Zumindest noch. Wenn das hier schief geht, sind es nur noch 27,3 Prozent. Aber so oder so. Geld bringt ihm das auch keines. Schließlich ist das ja keine Aktiengesellschaft, die mal großzügig Dividenden ausschüttet.
Entmutigt tritt er durch die automatische Schiebetür des Bankfoyers raus in die graue Kälte. Keine Frage, ein bisschen Luft muss beim Haben-Balken einfach drinnen sein – bis er wieder festen Arbeitsboden unter den Füßen hat. Also bleibt jetzt nur noch eine Sache, die ihn vor dem gefräßigen Schlund des Tentakeltieres und den habgierigen Fingern seines Vermieters retten kann: Ein mies bezahlter, die eigene Würde mit Füßen tretender und eigentlich längst hinter sich geglaubter Studentenjob. Schnelles Geld, weit außer- und unterhalb seiner Qualifikationen. Willkommen zurück in der Welt aus Kellnern, Babysitten und Flyer verteilen!
Schweren Herzens surft Lucas ab Montag darauf durch die entsprechenden Plattformen im Internet – wobei sämtliche Sträflingsarbeiten wie Greenpeace-Spendensammlen oder Call-Center-Abzocke aus Prinzip gar nicht erst angeklickt werden. Für wieder Anderes fehlt dann entweder doch die Grundkenntnis oder sonstwie das Einfühlungsvermögen. Manches aber ist auch schneller vergeben, als es angeboten wurde. So bleiben unter dem Strich vorerst nur drei lausige Sachen: Fotograf im Stadtschloss, Verkäufer in einer Zoohandlung und Nachtportier im 4-Sterne-Hotel.
Das erste Vorsprechen ist im Stadtschloss.
»Hi, du musst der Lucas sein, nicht wahr? Ich freue mich. Ich bin die Marion!« stellt sich eine Anfang Dreißigjährige überzogen enthusiastisch vor, als würde Sie gerade einem angesagten A-Klasse-Promi ein neues Haus verkaufen wollen. »Hast du schon einmal fotografiert?« Sie wartet gar nicht erst ab, bis Lucas seine Identität bestätigt. Als wäre es ein Ding der Unmöglichkeit, dass da jetzt nicht der Erik oder der Ulrich inmitten der prunkvollen Vorhalle stehen könnten, der vielleicht nur nach dem Weg zur Toilette fragen will.
»Ja schon,« erklärt sich der Angesprochene etwas überrumpelt und schaut sich orientierungslos im Eingangsbereich des Schlosses um. »Also rumgeknipst mit der Kamera vom großen Bruder und so.«
»Ach,« winkt die stürmische Marion ab, »so wichtig ist das eigentlich auch gar nicht. Wir machen hier keine große Kunst. Das lernt so ein Fixer wie du in Null Komma Nichts.« Sie schiebt Lucas durch die große Zwischentüre, die zum Haupttrakt führt. Hier werden auch alle Besucher durchgeschleust. Im nächsten Raum ist die Karosserie einer königlichen Pferdekutsche aufgebockt. Zwei gepolsterte Sitzbänke vis-a-vis. Dahinter eine mit der Schlossfassade bedruckte Leinwand. Davor eine Kamera und zwei Flächenleuchten. Ein daneben stehendes Display verrät die Lösung des ganzen Brimboriums. Die Touristen werden in der Kutsche fotografiert, das Foto wird gedruckt und in einen Klappumschlag gesteckt, auf dem das Schloss von außen, diverses Fußvolk in höfisch-barocker Tracht, das fehlende Unterteil der Kutsche sowie zwei eingespannte Pferde zu sehen sind. Nun wirkt das Ganze so, als wären die Besucher just zur königlichen Audienz eingerollt. Ob hier tatsächlich mal ein König residierte oder nur ein größenwahnsinniger Fürst, entzieht sich Lucas Kenntnis. Scheint die meisten Touristen aber ebenfalls nicht zu interessieren.
»Schau dir ganz einfach mal an, wie wir das machen. Und dann machst du das nach, ja?« Marion ist immer noch vollkommen aus dem Häuschen, weil sie dem Promi ein selbiges verticken darf.
Lucas nickt und mustert betroffen das würdelose Schauspiel vor seinen Augen.
Zwei junge Kollegen, die diesen Job wahrscheinlich schon quälend lange machen, versuchen im schlecht geschneiderten Gardistenkostüm die Touristen abzufangen und auf den Kutschbock zu quatschen. Dafür müssen sie sich zwar den Besuchern in den Weg stellen, dürfen dabei aber keinesfalls zu aufdringlich sein, wie Marion mit wichtiger Miene versichert. ›Ein bestimmendes Einladen‹ formuliert es die Mittdreißigerin etwas auswendig gelernt. Nach dem vierten Versuch lässt sich ein altes Ehepaar schließlich dazu überreden. Wahrscheinlich, weil sie Gardisten noch aus ihrer Kindheit kennen und Angst vor ihnen haben. Das Paar muss einmal in die Kamera schauen, einmal nach links und einmal nach rechts. Wenn der Blick nach rechts wandert, sozusagen in Fahrtrichtung der Kutsche, starren sie den Pferden direkt auf den Arsch. Aber das scheint bisher wohl noch niemandem aufgefallen zu sein.
Lucas braucht ein paar Versuche länger als seine Kollegen, von denen er sich zu allem Übel auch noch Jacke und Hut überziehen musste. Der Hutrand ist schwitzig-feucht, aber Lucas beißt die Zähne zusammen.
»Wir machen hier Fotos. Sie in der Königskutsche. Einfach mal ausprobieren, müssen Sie auch nicht kaufen.« Doch kaum einer der Besucher reagiert. Dafür wird ein fetter Mann mit fetter Frau und noch viel fetteren Kindern ziemlich unwirsch. »Verpiss dich,« grunzt er nur und stößt Lucas unsanft beiseite. Unaufhaltsam wälzt die Elefantenfamilie den blaublütigen Gemächern entgegen.
»Selber,« ruft Lucas sauer hinterher, was aber gleich die überfreundliche Marion herbei springen lässt. Eindringlich mahnt sie, dass man immer freundlich bleiben muss. »Auch wenn die mal ein bisschen mürrisch drauf sind. Sonst gibt es eine Beschwerde und die anderen Besucher spüren auch ganz schnell die schlechte Stimmung im Raum.«
Ebenfalls ganz schnell fährt Lucas mit der Straßenbahn wieder weg vom Stadtschloss und zu dem Viertel hin, in dem das Zoogeschäft liegt. Tiere können einen wenigstens nicht beleidigen. Außerdem verlangen sie nicht, sich in einem ausrangierten Theaterkostüm zum Deppen zu machen.
Der Laden ist so unscheinbar und winzig, dass Lucas erst zweimal daran vorbei läuft. Das Schild über der Türe ist ein Relikt der frühen Achtziger, in den Schaufenstern hängen vergilbte Poster dieser Dekade und Lucas würde sich nicht wundern, wenn der Laden Monchichis, Mogwais oder Critters verkaufen würde.
Drinnen schlägt ihm erst einmal dieser abgestandene Gestank von Heu und Hamsterköddeln entgegen. Selbst wenn die Tierhandlung morgen dicht machen würde, wäre er für die nächsten Hundert Jahre kontaminiert. Wahrscheinlich müsste man wie bei Tschernobyl das Ding mit Beton zu schütten.
Dem tierlieben Mann hinter dem Tresen entgeht Lucas dezentes Naserümpfen natürlich nicht. Misstrauisch rückt der Ladenbesitzer in Cordjacke seine Nickelbrille zurecht.
»Hattest du schon mal ein Haustier?« will er wissen, als Lucas ihn auf den Verkaufsjob anspricht. Mit einer positiven Antwort rechnet er sicherlich gar nicht.
»Doch natürlich. Hat man ja so als Kind. Einen Hasen.«
»Aha,« ist der Mann erstaunt. »Und was für einen?«
Überall stehen Futterpackungen, spezielle Wärmeleuchten und diverses Aquaristikzubehör herum.
»Wie, was für einen?« fragt Lucas verunsichert und lässt sich von lebenden Grillen ablenken, die wild in Plastikboxen rumspringen und dabei ein Geräusch von ploppendem Popcorn verursachen. »Einen mit Kopf und zwei Ohren halt.«
»Du hattest sicher ein Kaninchen,« weiß es der Verkäufer besser. »Und kennst du dich sonst mit Tieren aus? Weißt du, ob es Warane lieber feucht oder trocken haben?«
»Nö.«
»Weißt du, was ein Bartagame ist?«
»Auch nö,« gibt Lucas zu.
»Was Drachensteine sind?«
»Keinen Schimmer. Aber kann man das nicht lernen?«
»Kann ich es mir nicht einfach machen und jemanden anstellen der so was schon weiß?« kontert der Cordträger.
Na gut, das mit der Zoohandlung war ein Reinfall, sieht Lucas beim Verlassen des Geschäftes ein. Das hatte er sich irgendwie einfacher vorgestellt. Bleibt jetzt nur der Nachtportier. Das Gespräch ist passenderweise erst Abends. So hat er noch genügend Zeit nach Hause zu fahren, um sich eine Kleinigkeit zu kochen.
***
Das 4-Sterne-Hotel sieht sowohl von außen wie auch von innen eher nach einer überbewerteten 3-Sterne-Standart-Klitsche aus. Wer auch immer diese Punktevergabe zu verantworten hatte, war wohl über die direkte Nähe zum Rathaus besonders begeistert.
Richtig vom Hocker wird Lucas von seinem potentiellen Arbeitsplatz schon mal nicht gehauen.
»Du bist für den Job hier?« will ein beleibter Vollblutwirt hinter der Rezeption wissen, der so aussieht, als hätte er anno dazumal höchstpersönlich den Frühschoppen in Deutschland eingeführt. Der Mann ist ein typisches Urgestein und in seiner Stimme schwingt unverkennbar der regionaltypische Dialekt mit.
»Ja. Sonst hätte ich ja einen Koffer bei mir,« witzelt Lucas. Aber der Gag kommt überhaupt nicht an.
»Wenn du wüsstest,« grummelt der weißhaarige Wirt und schaut kurz über seine Lesebrille hinweg. Seine Halbglatze schimmert im Licht der kalten Deckenleuchte. Zwischenzeitlich sortiert er immer wieder ein paar Unterlagen. »Junge, ich will ehrlich mit dir sein,« kommt er zum Punkt und schlägt einen Papierstapel auf dem Holztresen auf. »Jeder Depp kann nachts hinter der Rezeption stehen. Ein paar späte Gäste einbuchen, ein paar hungrigen Schlaflosen sagen, dass unsere Küche leider schon längst geschlossen hat. Aber ob es dir liegt, hinter dem Tresen die Nacht zum Tag zu machen, kannst nur du sagen. Am Besten, du probierst es einfach mal aus. Hast du heute noch etwas vor?« Sein Blick ist so müde und nichts sagend, dass Lucas überhaupt nicht einschätzen kann, ob es dem Mann vollkommen gleichgültig ist, wer den Job bekommt oder nicht.
»Nicht wirklich. Aber soll ich jetzt hier schon alleine stehen, oder wie?« Verunsichert sucht Lucas den Blickkontakt.
Der Mann schüttelt den Kopf. »Natürlich nicht. Du schaust einfach Thorben über die Schulter. Das ist der, der uns verlässt.«
Wie auf das Stichwort kommt ein großer, dürrer Mann Ende Zwanzig aus dem Keller die Treppe hochgelaufen. Vermutlich befinden sich unten die Umkleiden, mutmaßt Lucas, da der Kerl ein dunkelbraunes Outfit mit dem Hotellogo auf der Brust trägt. Sein Gesicht ist eingefallen und die langen, schwarzen Haare, die er offen über seine Schulter trägt, verschlimmern den Eindruck noch. Von gutem Styling hat der noch nie etwas gehört.
Thorben und der Vollblutwirt nicken sich kurz zu. »Wir sehen uns dann morgen,« brummelt der alte Mann. Aber es lässt sich nicht ausmachen, zu wem der Beiden er das sagt. Dann schnappt er sich seinen Mantel, die fellgefütterte Mütze und rauscht ab.
»Und? Wie ist der Job so?« setzt Lucas nach gefühlten Ewigkeiten das Gespräch in Gang.
»Ganz okay,« kommt die knappe Antwort.
»Aha. ›Ganz okay‹. Klingt ja so, als müsste man sich unbedingt darum reißen. Und wie lange machst du den schon? Beziehungsweise, hast du gemacht?«
Thorben dreht wie in Zeitlupe seinen Kopf zu Lucas und schaut ihn mit großen Augen an. »Lang.« Eine weitere elend lange Pause entsteht, in der Andy Warhol ohne Probleme seine 15 Minuten Ruhm unterbekommen hätte. »Und? Du willst den Job machen?« fällt dem Schlacks irgendwann die Frage aus dem Mund.
»Ja. Mal schauen. Deswegen bin ich ja hier,« nickt Lucas.
»Aha.« Thorben hingegen zeigt keine weitere Regung. Dann holt er ein dickes Taschenbuch aus seiner Manteltasche, auf dem ein wurmartiges Raumschiff über einem mystisch anmutenden Planeten schwebt und beginnt zu lesen. Gelegentlich kommt ein kratzig-schmatzendes Geräusch aus seiner Kehle, wie es wohl auch dieses Raupenraumschiff von sich geben könnte. Sonst ist es meistens still.
Der wenige Kontakt mit ein paar müden Gästen bringt auch nicht die erhoffte Abwechslung und Lucas spürt die immer stärker werdende Müdigkeit.
»Kannst du mal aufpassen?« fragt der Science-Fiction-Liebhaber irgendwann und legt sein Buch beiseite.
»Sicher,« sagt Lucas und kann nur schwer ein Gähnen unterdrücken. »Wird ja nicht viel passieren.«
Ohne ein weiteres Wort oder Anweisung verschwindet der Kerl treppab im Keller. Lucas steht derweil einfach nur so rum und versucht repräsentativ auszusehen. Viel passiert nicht, bis plötzlich ein dumpfer, metallischer Schlag die Tiefen des Untergeschosses erzittern läßt. Als wäre ein Elefant in überhasteter Flucht gegen einen Heizungskessel gerannt. Lucas zuckt zusammen. Für einen Moment kriecht Panik in ihm hoch. Unruhig schaut er sich um. Liegt hier für solche Fälle irgendein Notfallbuch herum? Eine worst-case-exit-Strategie, herausgegeben vom Hotel- und Gaststättenverband? Mit extra Tipps für überforderte Nachtportiers beim Probearbeiten. Doch bevor Lucas das Telefon greifen und alle Polizei- und Feuerwehreinheiten der Stadt aus den Betten und hin zum Rathaus klingeln kann, kommt der Schlacks seelenruhig wieder nach oben zur Rezeption. Nur seine Augen sind nun noch größer als zuvor. Mit kurzem Griff packt er das Buch wieder in den Rucksack und stellt sich kerzengerade an die Rezeption. Dann schiebt er eilig diversen Papierkram über den Tisch, sortiert in Windeseile Stifte nach ihrer Größe und führt zwischendrin immer Bewegungen aus, die an Schattenboxen erinnern. Ganz zum Schluss saugt er eine Menge Luft in seine Lunge, schaukelt leicht mit dem Kopf hin und her und konzentriert sich auf einen weit entfernten Punkt am Horizont. Plötzlich zieht er einen unsichtbaren Colt und schießt in Richtung des weißen Männchens auf dem Notausgangsschild gegenüber. Dann schießt er noch mal. Und noch mal. Je nach Betrachtungswinkel flüchtet das kleine Männchen immer noch zum Ausgang oder liegt tot neben seinem ausgehobenem Grab. Den rauchenden Colt steckt der Marscowboy behutsam zurück in seinen Hosentaschenhalfter.
»Glaubst du, es gibt ein gespiegeltes Universum, indem wir das Gegenteil unserer selbst sind?« sinniert er in die nachtschlafende Stille. »Ich schon.«
Noch bevor der alte Frühschoppenwirt wieder in seinem Hotel aufmarschiert und alles weitere bezüglich der Anstellung besprochen werden kann, läuft Lucas durch die frühmorgendlichen Straßen heimwärts. Er hat beim besten Willen keine Lust in drei Wochen als hoteleigenes Nachtgespenst gegen Metallschränke zu krachen und sich mit Notausgangsmännchen zu duellieren. Irgendwie muss er anders einen Job finden.
***
Am darauffolgenden Nachmittag zieht Lucas ziellos durch die überschaubare Innenstadt. Die kleinen Gassen sind nett und gemütlich, wenn auch hier wirklich nicht besonders viel los ist.
Es ist schwer, sich mit einer fremden Stadt zu identifizieren, weil es noch keine Orte gibt, die man mit Emotionen gefüllt hat. Sie ist noch nicht Teil der eigenen Geschichte und die hübschen Fassaden, über die sich asiatische Touristengruppen so freuen, sind ganz schnell nur leblose Kulisse.
Und trotzdem ist gerade das Unbekannte, diese kleinen verborgenen Geheimnisse hinter jeder Ecke, ein wunderbarer Reiz sich auf das Fremde einzulassen. Geschäfte, die man zum allerersten Mal betritt. Lokale, an deren Einrichtung und Bedienung man sich noch nicht satt gesehen hat. Diese Reiterstatue inmitten des Marktplatzes, von der Lucas gar nicht weiß, welch höfischen Helden sie überhaupt darstellt. Doch im Moment kommt es ihm so vor, als würde er wohl auf ewig diesbezüglich ein Unwissender bleiben. Er wird nicht lange genug in der Stadt leben dürfen, bis ihn jemand über die Heldentaten des Reiters aufgeklärt hat. Bis er alle Einkaufsläden entdeckt und das Mobiliar der Lokale in- und auswendig kennt. Er wird nicht lange genug bleiben, bis die Bedienung seinen Namen weiß und nicht einmal lange genug, um den schnellsten Weg vom Marktplatz wieder zu sich nach Hause zu finden.
In einer der Seitenstraßen nahe des Reiterdenkmals bleibt er abrupt stehen. Die Mittagssonne scheint grell auf den Schriftzug über der Eingangstür. Lucas hebt den Kopf und grinst. Eine Premium-Fast-Food-Kette mit italienischem Ambiente und Schauküche. Pizza! Sein Magen macht ohnehin schon im Minutentakt auf sich aufmerksam. Er kennt die Kette, es gibt in ganz Deutschland Ableger davon. Sogar in seiner Heimatstadt. Neben ihren ziemlich leckren Pizzen bieten sie auch selbst gemachte Pasta und eine Vielzahl an Salaten an. Ein Wunder, warum er seit seinem Umzug noch nicht hier war. Vielleicht weil das ehemalige Büro am gegenüberliegenden Ende der Innenstadt lag oder er bis auf die Mittagstische sowieso noch nicht viel fortgegangen ist.
Das reflektierende Licht blendet in seinen Augen und Lucas tritt aus der Sonne und rein in das Restaurant.
Hinter der Kasse im Eingansgbereich lächelt ihm ein Mädchen mit blondem Pferdeschwanz entgegen. »Schönen guten Tag. Du weißt, wie das bei uns funktioniert?«
Lucas nickt und nimmt eine Art Kreditkarte zur Buchung der Speisen entgegen. Der Laden arbeitet mit Selbstbedienung. Abgerechnet wird zum Schluss.
Zielstrebig steuert er die Station mit der Pizza an. Pasta- und Salatstationen befinden sich daneben, getrennt von einem Durchgang zu den Personalräumen. Irgendwo gibt es auch eine Bar, wie in jedem dieser Restaurants. Alle Bediensteten tragen dabei eine weiß-rote Uniform, den Farben des Firmendesigns. Und das satte, tomatenfarbene Rot spiegelt sich über das ganze Restaurant verteilt im Mobiliar wider.
Es duftet. Nach unendlich vielen verschiedenen Geschmacksrichtungen. Nach so vielen, dass Lucas die olfaktorischen Eindrücke gar nicht so schnell verarbeiten kann.
»Eine Diavolo, bitte,« nickt er dem jungen Mann hinter der Pizzatheke zu und legt seine Chip-Karte auf ein Magnetfeld oberhalb des Bestellcomputers.
»Willst du noch was haben zu trinken? Cola, Saft, Eistee?« fragt der junge Mann mit südländischem Akzent. Seine dunklen Dreads wippen bei jedem aufgezählten Getränk etwas mit.
»Eine Cola,« entscheidet sich Lucas und bekommt von dem Kerl hinter der Theke einen smartphonegroßen Pager gereicht.
»Wenn Gerät piepst, dann ist fertig Pizza. Alles klar?«
»Alles klar, weiß ich. Kenne mich hier aus,« sagt Lucas und nimmt sich ein Tablett und Besteck. Zwei Tische weiter nimmt er Platz, mit Blick auf die Pizzastation.
Der Rasta hinter der Theke wirbelt den Teigfladen eindrucksvoll umher. In der Luft glitzert ein Nebel aus Sternenstaub. Schon als Kind fand Lucas die Jonglagen eindrucksvoll. Und man merkt an den herumsitzenden Erwachsenen, dass bei den meisten ein kleiner Rest der Faszination ebenfalls überlebt hat. Wo gibt es in der Gastronomie sonst noch solche Showeinlagen? Nur noch in der Bar mit Spirituosenflaschen und Cocktailshakern. Oder man muss etwas flambieren.
Die Pizza ist schlichtweg köstlich. Und bei allen Gästen, die an den Tischen um ihn ebenfalls eine Pizza auf dem Teller liegen haben, macht sich dieses zufriedene Lächeln breit. Dieses ganz bestimmte Lächeln, fällt Lucas auf, diese kindliche Zufriedenheit, die es nur bei Pizza gibt. Keiner der Pastaesser hier hat dieses geheimnisvolle Lächeln um den Mund und erst recht niemand von der Salatfraktion. Als würden sie alle den Moment ihrer Kindheit abrufen, in dem sie zum ersten Mal in eine Pizza gebissen haben.
»Hat es geschmeckt?« will die Blonde mit dem Pferdeschwanz an der Kasse wissen, als Lucas ihr seine Chipkarte reicht. »Macht dann 9 Euro 80, bitte.«
»Ja, hat es. Danke. War mir ein Vergnügen. So lange ich noch Geld habe und mich mein Vermieter nicht vor die Tür setzt, leiste ich mir auch Pizza.«
»Hey, wenn du einen Job brauchst, schicke einfach deine Unterlagen hier ins Büro. Gesucht wird hier immer irgendwer,« lacht das Mädchen.
»Echt? Ich könnte nämlich wirklich einen Job gebrauchen. Als was denn? Auch hier an der Kasse?«
Sie schüttelt den Kopf. »Pasta wird mal wieder gebraucht. Oder auch Pizza. Die sind nur noch zu dritt da.«
Aufgeregt notiert er die Mailadresse der Filialleiterin, die ihm das Mädchen vorsagt und versichert noch heute etwas zu schicken.
Mit breitem Grinsen verlässt er das Restaurant. Ein Grinsen, so breit wie die Pizza, die gerade noch über den Rand seines Tellers hing.
Die Einladung zum Vorstellungsgespräch folgt prompt auf sein Bewerben hin und so steht Lucas drei Tage später, um 10 Uhr in der Früh, erneut vor der Fast-Food-Gastro. Eine Stunde vor Ladenöffnung und somit zunächst auch mal vor verschlossener Türe. Höflich klopft er gegen die automatische Schiebetür und wird von einer hochgewachsenen Frau im adretten, aber schlicht gehaltenen Kostüm herein gelassen. Ihre langen, schwarzen Haare sind lose hinter dem Kopf zusammengesteckt. »Guten Morgen. Du bist Lucas, nehme ich an. Ich bin Frau Rauchenzahner. Aber sag’ einfach Bettina.«
Lucas nickt, sagt aber bis auf »Guten Morgen« erst einmal gar nichts.
Die Filialleiterin leitet ihn durch wuseliges Vorbereitungsgeschehen zu einem Tischkarree, das etwas abseits stehend einen Olivenbaum umsäumt. In der einen Ecke des Restaurants werden gerade die Stühle von den Tischen genommen und akkurat in Reihe gestellt. Woanders gießt eine ältere Dame unzählige Basilikumtöpfe, die dicht nebeneinander stehend in einem Wandregal so was wie einen Kräuter-Dschungel ergeben.
»In jeder Filiale steht so ein Baum,« deutet Bettina auf das mannshohe Oliven-Indoor-Gewächs unter dem sie Platz genommen haben. »Das gehört quasi zu uns, wie der Schriftzug.« Sie breitet vor sich Lucas Bewerbungsunterlagen aus. »Oder motivierte Mitarbeiter,« setzt sie noch lachend nach. Aber es klingt nett.
»Ja, weiß ich. Also, das mit dem Baum.« Lucas legt Mantel und Handschuhe über den Nachbarstuhl und dreht sich etwas zur Filialleiterin hin. Es bleibt einen kurzen Moment still, weil sie nochmals seine Bewerbung durch geht. Viel hat er nicht geschrieben. Was hätte er auch schreiben sollen?
»Du willst also bei unserem Pizzateam anfangen? Hast du denn schon mal in der Gastronomie gearbeitet?« fängt sie das eigentliche Gespräch an.
»Nein, überhaupt nicht. Aber mein großer Bruder hatte während dem Studium eine kleine Cateringfirma am Laufen und da habe ich ab und zu mitgeholfen. Aber gekocht habe ich nicht. Nur Aufbau oder Warenannahme und so.«
»Ja, das passt schon. Besser wäre es natürlich, wenn du etwas Erfahrung hättest. Aber immerhin kennst du dich im Umgang mit Lebensmitteln aus. Außerdem ist es uns wichtiger, dass sich unser Personal mit der Firmenphilosophie identifiziert. Dass es ganz im Team und in der Arbeit aufgeht.«
»Ja. Team ist wichtig. Ich habe bisher immer in irgendwelchen Gruppen gearbeitet.« Lucas versucht seine Stimme möglichst kräftig und sicher klingen zu lassen.
»Das sehe ich,« meint Bettina mit Blick auf die Zettel vor ihr. »Und was machst du sonst so? Hier steht, dass du schon deinen Abschluss hast.«
»Tja …« Diese Frage musste ja kommen. Dabei hat Lucas natürlich so gar keine Lust, auf genau diesen Punkt zu antworten. Er kann ja auch schlecht sagen, dass er nur etwas für ein, zwei Monate sucht. Bis er eine Arbeit findet, die nicht am unteren Ende der Einkommensskala dümpelt. Und damit ihn sein Vermieter ›Häuptling Schottersorge‹ nicht aus dem Dach-Tipi wirft. »Ich werde mich wohl selbstständig machen. Aber das dauert noch. Und eine Vollzeitstelle kann ich nicht annehmen, weil ich nebenbei Zeit zum Planen brauche. Ja, und bei einer Unternehmensberatung anfangen, also, das was ich studiert habe, kommt nicht gut. Wenn man da mitten in Projekten hängt, dann wird das nix mit der Selbstständigkeit. Da ist man erst mal ein paar Jahre gefangen und dann …« Lucas macht eine wegwerfende Bewegung ins Nirgendwohin und feixt innerlich, gerade noch die Kurve bekommen zu haben. »Außerdem mag ich den Umgang mit Menschen,« setzt er schnell fort. »Also, mit Kunden, meine ich. Und Essen. Vor allem Pizza ist natürlich etwas ganz Einmaliges. Da gehe ich mit vollem Herzen auf.«
Bettina lächelt über das ganze Gesicht. »Na, das ist doch mal schön zu hören.« Ihre weißen Zähne leuchten unter den dunklen Haaren, wie eine schneebedeckte Gebirgskette unter dem Nachthimmel. »Wir melden uns dann bei dir, ja!?«
***
»Du wurdest was? Gefeuert?« Alex am anderen Ende der Leitung ist fassungslos. »Ich denke, du hattest den Job sicher!?«
»Also, ›gefeuert‹ wurde ich streng genommen ja nicht,« verteidigt sich Lucas. »Ich hätte ja noch länger Praktikum machen können, aber …«
»Ach, das Ganze war doch von Anfang an Käse. Das haben wir doch gleich gesagt. Zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn braucht man halt eine solide Basis. Irgendein sicheres Brett, von dem man aus starten kann. Damit so ein Mist eben nicht passiert. Später, wenn du genug Erfahrung hast, kannst du dann sonst wohin ziehen. Jetzt aber bist du da unten auf Gedeih und Verderb deinem Glück ausgeliefert. Oder dem Zufall. Oder was auch immer.«
Lucas hält sich bedeckt und antwortet erst einmal nicht. Eigentlich wollte er nur seinem Bruder beichten, dass er immer noch nicht dazu gekommen war, die Unterlagen vom Notar durchzugehen. Allerdings ließ sich dabei der Grund weshalb er abgelenkt war, nur schwer verheimlichen. Angefressen steht er vor der Balkontür und schaut über die nächtlichen Dächer der Stadt.
»Der soll einfach wieder nach Hause kommen,« hört man im Hintergrund Matthias, den Ältesten der drei.
»Hast du gehört?« will Alex wissen? »Dein Bruder ist gerade bei mir und sieht die Sache genauso. Packe deine sieben Sachen wieder ein und setzte dich in den Zug. Deinen Kram da unten kriegen wir schon wieder hierher geschafft.«
»Also, gleich nach Hause muss ich jetzt ja nicht. Ganz sofort werfe ich die Flinte doch nicht ins Korn. Ihr wollt doch nur meine sechs Prozent von der Firma,« versucht Lucas noch zu scherzen.
»Ach quatsch. Aber wovon willst du denn leben, mal so ganz bescheiden gefragt?« Alex hat sich wieder etwas beruhigt.
»Es ist ja jetzt nicht so, dass ich über überhaupt keine Vermögensreserven verfüge. Ein bisschen Puffer ist ja schon da. Außerdem suche ich gerade einen belanglosen Zwischenjob. Irgendwas um die Miete zu zahlen. Mann, ich habe doch sonst keine großen Ausgaben. Nicht mal ein Auto.«
»Trotzdem,« schaltet sich Matthias wieder ein. »Versau nicht deine Zeit mit blöden Aushilfsjobs. Die macht man, wenn man Student ist. Aber nicht mehr danach.«
»Ist ja nicht lang. Wirklich.« Auch Lucas Stimme wird wieder ruhiger und freundlicher. Mit seinem Fingernagel kratzt er leise auf der Türscheibe herum.
»Wenn du meinst.« Seine beiden Brüder wünschen ihm noch pflichtschuldig viel Glück. Danach beendet Lucas das Gespräch und legt sein Smartphone auf dem Tisch ab. Tags drauf liegt die Zusage von Bettina im Postfach des E-Mail-Accounts.