Читать книгу Religiöse Erinnerungskulturen - Jorg Rupke - Страница 20
2. Der soziale Ort
ОглавлениеAuf dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen stellen sich zwei Fragen in aller Schärfe: Welchen sozialen Ort hatte das frühe römische Epos? Und: Welche Rolle spielte die Schriftlichkeit? Die beiden traditionellen Antworten schlagen hier zwei Fliegen mit einer Klappe. Für beide – das zeigt die Inkonsequenz – kann FRIEDRICH LEOS ausführliche Untersuchung der republikanischen Literatur als Zeugin dienen. Erstens: Livius Andronicus habe (hier folgt man einer allgemeiner formulierten Nachricht Suetons)9 das Epos für den Schulunterricht verwendet. „Kein griechisches Werk konnte geeigneter sein diesen Schein [nämlich eines lateinischen Gedichtes, JR] in der fremden Sprache anzunehmen als die Odyssee mit ihrem ganz menschlichen, dem griechischen und römischen Rittersaal wie der römischen und deutschen Kinderstube gleich gemäßen Inhalt.“10 SUERBAUM hat gezeigt, dass für viele der angeblich biographischen Nachrichten über Livius (wie auch Naevius) kaum mehr als unsichere Interpretationen mutmaßlicher autobiographischer Anspielungen in Komödien des Autors als Basis der Rekonstruktion dienen konnten.11 Viel grundsätzlicher muss man sich aber beim Beginn organisierten Schulunterrichts in Rom überhaupt fragen, ob in solchem Unterricht Raum für gehobene Literaturunterweisung vorhanden war oder ob die Mühe des Übersetzers den Ansprüchen von Erstklässlern angemessen war. Die Vorstellung jedenfalls, dass die Römer einen so innovativen Text wie die Odusia12 durch die Hausaufgaben ihrer Kinder kennenlernten, scheint mir abwegig. Nirgendwo ist kultureller Konsens wichtiger als für Schulbücher.
LEO lieferte – vermutlich nicht zuletzt angesichts solcher Konsequenzen – die Alternative gleich mit: „Die Odyssee wird er, außer durch seine Vorlesungen, als Buch publiziert haben“. Das ist tatsächlich die Alternative – wenn man die Folgerung zu ziehen bereit ist, mit der er fortfährt: „das heißt, mit seiner ganzen wegebahnenden Tätigkeit muss auch die erste Übertragung griechischen Buchhandels nach Rom verbunden gewesen sein, von dem nur bescheidenste Anfänge vorher existiert haben können.“13 Diese Annahme ist aber auszuschließen: Buchhandel auch nur in bescheidensten Umfängen ist vor der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts nicht nachweisbar und kaum vorzustellen.
Wenn die nicht zu leugnende Schriftlichkeit des Textes auch die Verbreitung betrifft, sind die Möglichkeiten damit erschöpft. Es bleibt so nur, Schriftlichkeit primär als Produktionsschriftlichkeit zu verstehen und nach Gelegenheiten für die mündliche Rezitation zu suchen. An einen eigenen öffentlichen Rezitationsbetrieb wird man dabei ebensowenig denken wie an einen Buchhandel im Zeitalter der Punischen Kriege. Der italienische Gelehrte FLORES hat in ganz anderem Zusammenhang eine Rezitation im Theater vorgeschlagen – ein Publikum kann er dafür aber nach allem, was wir über römische Theaterbesucher wissen, nicht mitliefern.
Wo also wurden Epen zu Gehör gebracht? Meine Hypothese, die ich zunächst wahrscheinlich machen und schließlich auf ihre Konsequenzen hin untersuchen möchte, lautet: Livius (wie Naevius und später Ennius) hat sein Epos in symposiastischem Rahmen vorgetragen. Die drei wichtigsten Argumente für diese Hypothese lassen sich aus der vorangegangenen Symposionsliteratur, Motiven der erhaltenen Epen und ihrer Gesamtanlage gewinnen.
Erstens. Im Bankett konnte ein Epiker, der vor dem Hintergrund der griechischen Literatur lateinische Epen produzierte, an indigene Traditionen anknüpfen, nämlich die carmina convivalia, die „Tafellieder“ oder – die Forschungsgeschichte ist lang14 – „Heldenballaden“. Das zentrale, weil älteste Zeugnis stammt aus Catos Origines und ist in drei leicht variierenden Versionen bei Cicero überliefert.
Atque utinam exstarent illa carmina, quae multis saeclis ante suam aetatem in epulis esse cantitata a singulis convivis de clarorum virorum laudibus in Originibus scriptum reliquit Cato. 15
Wenn doch jene… erhalten wären, die viele Jahrhunderte vor seiner Zeit, so schreibt Cato in den Ursprüngen, von einzelnen Gästen über die lobenswerten Taten berühmter Männer in den Banketten gesungen zu werden pflegte.
Das Bild gewinnt durch die weiteren Quellen an Kontur.
… in conviviis pueri modesti ut cantarent carmina antiqua, in quibus laudes erant maiorum, et assa voce et cum tibicine. 16
… dass bei Gastmählern bescheidene Knaben alte Lieder sangen – sowohl a-capella wie mit Flötenbegleitung –, die die lobenswerten Taten der Vorfahren enthielten.
Es geht wiederum um Gesang beim Bankett, nun aber um jenen, zu dem die pueri, die männlichen Kinder, angehalten werden sollen.17 Es geht um Texte, in denen vom Lob, laudes maiorum, die Rede ist – die maiores sind offenbar identisch mit den viri clari der in der vorangehenden Quelle genannten „Tafellieder“. Diese Praxis besteht nach dem Kontext des Zitats noch zur Zeit Varros, hundert Jahre nach Cato. Was hier vorliegt, ist ein kultureller Prozess, in dem Praktiken erwachsener Symposionsteilnehmer in den Bereich des Didaktischen hinuntergestuft werden.
Für die Epiker geschah das Anknüpfen an diese carmina convivalia formal wie inhaltlich: Formal in der Beibehaltung des saturnischen Verses bei Livius und Naevius; mangels Alternativen wird man diese rhythmische Gestaltung auch für die carmina unterstellen dürfen. Inhaltlich führen die Epen die „Tafellieder“ mit ihren (myth-)historischen und – vor allem bei Naevius und Ennius – panegyrischen, lobenden Stoffen fort. Die Alternative von epischer narratio versus lyrischer laudatio, mit der ZORZETTI seine Ablehnung einer Verbindung von „Tafelliedern“ und „Epen“ begründet,18 trifft für das frühe römische Epos nicht zu. Es ist Ennius selbst, der in seinen Annales formuliert: „Alle Sterblichen wollen gelobt werden“ – und damit auch einen Teil seines Selbstverständnisses deutlich macht.19 Die Ennianischen Reflexionen über das Verhältnis von Dichter und Feldherr (und das heißt in Rom: Politiker, Machthaber) weisen in dieselbe Richtung. Offensichtlich wurde der preisende Charakter der Ennianischen Dichtung schon von Zeitgenossen gesehen.20
Zweitens. Eine nähere Durchmusterung der erhaltenen Fragmente der zwei in ihrer plot-Gestaltung freieren21 Epen des Naevius und des Ennius lässt deutlich werden, welche Prominenz dem Ort „Bankett“ eingeräumt wird. Das ist kein zwingendes Argument für den Aufführungsort – gesellschaftlich wichtige Institutionen können auch außerhalb dieser Institutionen thematisiert werden –, doch macht die Annahme einer Selbstthematisierung eine solche Häufigkeit und Ausführlichkeit der Erwähnungen, Anspielungen und der Verwendung des Symposiums als Bildspender plausibler.
Bei Naevius wird die Begegnung zwischen Dido und Aeneas als Symposiumsszene mit aufwendiger Detailbeschreibung angelegt.22 Hier wird nicht nur der Tafelschmuck beschrieben, sondern werden auch Vorstellungen über die Normen des Tischgesprächs in den Adverbien blande und docte formuliert. Weiteres Trinkgeschirr wird in einem Fragment incertae sedis beschrieben.23 Auch die berühmte Ekphrasis des Gigantenkampfes müsste nicht auf einen (nach dem Muster von Agrigent gestalteten)24 Tempel, sondern könnte – ich greife die alte Idee von MARX und MOREL wieder auf – auch auf einen getriebenen Pokal bezogen werden.25 Die sehr konkreten Formulierungen bei der Beschreibung zweier Opfer lassen erwarten, dass sich auch hier gemeinsame Mähler anschlossen oder zumindest von den Zuhörern assoziiert werden sollten: Der Verweis auf das Opfertier und das Fleisch legen das nahe: eam carnem victoribus danunt.26
Die Zahl und der Umfang der Belege erhöhen sich bei Ennius nicht im selben Maße wie der Umfang der erhaltenen Fragmente, aber die Zentralität der Bankettsituation wird deutlicher. Einer Symposiumsszene könnte ann. 156 V = 148 Skutsch angehören, in der Diener Lichter hinein tragen.27
Eine größere Symposiumsszene ist aus dem siebten Buch erhalten (234ff. V = 268ff. Skutsch). Hier sah schon die antike Philologie, namentlich L. AELIUS STILO, einen bildlichen Hintersinn: Ennius habe sein eigenes Verhältnis beziehungsweise sein Ideal vom Verhältnis des Dichters zu den Mächtigen darstellen wollen:28 der Dichter als der perfekte Banketteilnehmer. Als Bildspender dient ein Element des Banketts, das Weingefäß, schließlich in einem isolierten und nicht genauer zu lokalisierenden Fragment.29
Drittens. Die Textorganisation der drei frühen Epen entspricht den Anforderungen mündlichen Vortrags. SUERBAUM hat vor wenigen Jahren in Prüfung überlieferter Buchzahlen und unter Hinweis auf explizite Aussagen über Ein-Rollen-Ausgaben des Livius und Naevius postuliert, dass beide Epen maximal eintausendachthundertfünfzig Saturnier umfasst haben – zumindest die Größenordnung dürfte zutreffend sein.30 Das mag zunächst überraschen: Livius übersetzte ja immerhin ein Werk von über zwölftausend Hexamtern und er zum Teil mit Buchangaben zitiert. Aber die genaueren Befunde sprechen dagegen, dass der Auftakt der lateinischsprachigen Literatur mit einem ihrer längsten Werke gemacht wurde. Für Livius gibt es kein sicheres Zitat mit der Angabe eines bestimmten Buches; im Gegenteil: Gellius erwähnt ein sehr altes Exemplar des Epos, das aus einer Buchrolle bestand.31 Für Naevius überliefert Nonius, dass sich der spätrepublikanische Philologe Santra gewundert habe, dass er das Epos zunächst in einer Rolle gelesen, später aber in einer siebenfachen Unterteilung gefunden habe.32 Parallel dazu hat SUERBAUM festgestellt, dass erst die kaiserzeitlichen Naeviuszitate Buchangaben machen, während die republikanischen durchweg ohne dieselben auskommen.33 Für die ursprüngliche Fassung ergibt sich somit in beiden Fällen: Trotz späterer Teilungsversuche konnten die Texte an einem Abend rezitiert werden.
Ennius reduzierte die (vielleicht) hohen Verszahlen des Naevius sicher auf später übliche Werte, vielleicht sogar auf die Größenordnung von siebenhundert Versen – zumindest für das sechste Buch wird dieser Wert durch eine Papyrus-Rekonstruktion SUERBAUS nahegelegt.34 Seine Bücher waren als eigenständige Einheiten komponiert; dass er einen ursprünglichen Gesamtplan bis zu seinem Tod mehrmals erweiterte, lag weniger daran, dass er kein Ende finden konnte, als vielmehr darin, dass er einen erfolgreichen Texttyp fortsetzte, ohne sich auf Wiederholungen zu beschränken.
Vor diesem Hintergrund findet nun auch ein altes Problem der Ennius-Forschung eine Lösung. Es ist immer aufgefallen, dass Ennius im Proömium der Annalen von seinem eigenen Text im Plural (poemata nostra) spricht.35 Die Möglichkeit, dies auf frühere Texte von ihm zu beziehen, ist immer wieder erwogen und verworfen worden. Es ist ganz unwahrscheinlich, dass sich Ennius hier auf die Fülle unterschiedlicher älterer Texte aus seiner eigenen Feder bezieht. Er spricht also von seinem eigenen Epos im Plural, und dieser Plural wird sofort sinnvoll, wenn man daran denkt, dass die achtzehn Bücher Annales des Ennius nicht im Stück, sondern abschnittsweise, am ehesten buchweise, und das heißt als je eigene Texte (von den dann notwendigen „Paratexten“ geben antike argumenta und vergleichbare Schultexte einen Eindruck) im Symposion vorgetragen worden sind.
Es bedarf nur eines kurzen Hinweises, dass die zahlreichen, zum Teil extremen Alliterationen und weiteren Klangfiguren ihren primären Ort in der Rezitation, im mündlichen Vortrag haben und in dieser Fülle später fehlen:
O Tite tute Tati tibi tanta tyranne tulisti.
Oh, Titus Tatius, Du hast einen solchen Tyrannen ertragen!36
Ein solcher Vers kommt nur im Vortrag voll zur Geltung.37 Die spätere Reduktion dieses Mittels, Aufmerksamkeit zu erregen sowie Pathos oder Spannung zu steigern, ist nicht nur als Hinweis auf die Verfeinerung des Zuhörergeschmacks zu deuten, sondern auch als Zeichen des konzeptuellen Übergangs zur Schriftlichkeit, der Verschriftlichung. Dass produktionstechnisch die neue Epik nicht ohne skriptographische Hilfsmittel möglich war, ist nicht zu bestreiten; Ennius selbst weist darauf hin, wenn er sogar weniger modernen Dichtern (Faunei vatesque) den Gebrauch der Schrift unterstellt.38 Eine darüber hinaus gehende Interpretation, die Schriftlichkeit nun auch als das Medium der Verbreitung wertete, ist durch diese Passage aber nicht gedeckt.