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Einführung

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Menschliches Handeln ist Tun in der Gegenwart und ist auf die Zukunft gerichtet. Nur gelegentlich erinnern wir uns – mal mehr, mal weniger – an die Vergangenheit, werden von einer Ähnlichkeit von Personen, Orten, Situationen mit einem vergangenen Ereignis berührt, denken über Unterschiede von Gegenwart und Vergangenheit nach. Bestimmte Ereignisse provozieren regelmäßig solch einen Blick in die Vergangenheit. Trauerfeiern führen sicher dazu, manchmal Graduierungsfeiern. In Ägypten entstanden Biographie und Autobiographie auf Grabsteinen. Kollektiv ist ein solches Bewusstsein der Veränderlichkeit ständig vorhanden, selbst wenn dies nicht die Form organisierter Geschichtsschreibung nehmen muss. „Es gibt keine menschliche Kultur ohne das konstitutive Element des gemeinsamen Gedächtnisses“, formuliert der Historiker JÖRN RÜSEN. „Durch Erinnern, Verstehen und Darstellen der Vergangenheit versteht man das heutige Leben und entwickelt eine Zukunftsperspektive für sich und die Welt. ‚Geschichte’ in diesem fundamentalen und anthropologisch universalen Sinn ist die interpretierende Erinnerung einer Kultur daran, dass die Vergangenheit als Mittel dient, um die Gruppe in der Gegenwart zu orientieren“.1

Das Zitat bedarf der Ergänzung. Zuerst bedarf die Rede von ‚einer Kultur’ der Differenzierung. Familien- oder ethnische Gruppen, soziale Bewegungen oder religiöse Organisationen erzählen verschiedene Geschichten, für welchen Zweck auch immer. Andere können einen Platz in diesen Geschichte haben oder nicht; das Gesamt der Geschichten mag überlappen oder nicht.

Akademische Geschichte fängt nicht ganz von vorne an. Es ist das Geschäft von Menschen, die in den erwähnten kollektiven und individuellen Erinnerungen groß geworden sind. Selbst wenn akademische Geschichte kritisch ist und um Klärung, mehr Genauigkeit oder totale Revision ringt, ist sie etwas gegenüber, nicht allem gegenüber kritisch. In ihrem jeweiligen Interesse, das unbedingt ein gegenwärtiges Interesse ist, muss sie ihre Befunde verorten, muss sie in ein größeres Bild platzieren, das Ergänzungen und Sinn braucht, der normalerweise angeboten wird von Topoi, von Aspekten, die man in einer Geschichte verwenden muss, und von Tropen. Auch wenn das nach Fiktion klingt: Es geht nicht um Fiktion um der Fiktion willen, sondern um Fiktion der Kohärenz wegen, des Verstehen wegen, der Erklärung wegen. Es geht um Fiktionalität um der Orientierung für Gegenwart und Zukunft willen.

Innerhalb dieser Grenzen kann Geschichte eine Wissenschaft, „Geschichtswissenschaft“, werden. Um sie wissenschaftlicher zu machen, konnte man versuchen, die fiktiven Elemente zu reduzieren. Dies war eine der Strategien historistischer Geschichtswissenschaft. Die Geschichtlichkeit von jedem möglichen Standpunkt zu akzeptieren, machte eine nicht-kontingente Perspektive unmöglich. Jeder Standpunkt musste sich ändern – und wurde so im nächsten Moment ungültig. Diese Haltung führte zu äußerster Spezialisierung, Professionalisierung von Methoden und Institutionen und einer äußersten Arbeitsteilung.2 Die Alternative bestand darin, einen sicheren Standpunkt in einer philosophischen Erdung der Geschichte zu finden, eine von JOACHIM WACH befürwortete Option, eine der Gründungsfiguren der Religionswissenschaft in Deutschland und (nach Auswanderung während des Naziregimes) in den Vereinigten Staaten.3 Aber es gibt einen dritten Weg, den Hans-Jürgen Goertz benannt hat.4 Man muss einräumen, dass Geschichte keine empirische Disziplin ist. Natürlich bezieht sie sich auf eine Realität, versucht, ihre Aussagen auf ‚Beweise’, auf möglichst viele ‚Quellen’ zu gründen. Aber diese Beweise sprechen ohne vorherige Auswahl nicht für sich selbst. Geschichte ist eine Disziplin, die von Beziehungen zwischen einem gegenwärtigen Subjekt und einem vergangenen Objekt handelt, die sich beide ändern, sich permanent verschieben. Es ist eine Darstellung, die durch die Kriterien von Interesse und die historische Sozialisation des Historikers bestimmt wird und jene Aspekte des historischen Objekts verarbeitet, die in methodisch kontrollierter Weise ans Licht kommen. Tägliche Geschichte und akademische Geschichte werden nicht radikal getrennt, wenn sie sich auch im Grad der Reflexivität und dem Grad der Explizitheit von Interessen unterscheiden. Das Letztere wird durch das Ethos garantiert, den Standards von Wissenschaft zu entsprechen – jedenfalls soweit das möglich ist, ohne die Funktion als Orientierung für die Zukunft zu verlieren.

Verständlicherweise tragen religiöse Überzeugungen enorm zum Konzeptualisieren und Erzählen von Vergangenheit bei – einer Vergangenheit, die von Gott oder Göttern bestimmt wird, die sich wiederholt, etwa als eine Periode des Geprüftwerdens. Die Erzählung über die eigene Vergangenheit einer Gemeinschaft, die eigenen besonderen Erinnerungen sind nicht die einzigen Mittel, Orientierung zu erreichen und eine schlüssige Identität zu erwerben. Aber von einer bestimmten Gemeinschaft generierte historische Schilderungen sind immer wichtig. Solche historischen Schilderungen werden von Profis in ihren historiographischen Anstrengungen gefördert, sie werden durch Bestseller oder in Theatern popularisiert, von Großdenkmälern monumentalisiert. Sie werden in der Schule auswendig gelernt, ihrer wird in öffentlichen Ritualen gedacht.

Dies gilt auch für Religionsgemeinschaften, die eine große Vielfalt von Berichten über ihre Vergangenheit produzieren. Sie können sich auf eine Gründungsphase konzentrieren oder versuchen, so viel wie möglich von der ‚Geschichte’ der Gesamtgesellschaft zu integrieren. Mythologie und Geschichte sind nicht Gegensätze, sondern Varianten historischer Schilderungen, mögen sie auch sehr verschiedene Zeitindikatoren verwenden. Wahrscheinlich sind es einander widerstreitende Behauptungen, die historisches Erzählen am intensivsten auslösen.

Zur Erzählung – selbst wenn diese nach PAUL RICOEUR wahrscheinlich unentbehrlich für die Erzeugung einer Vorstellung von Zeit und historischen Bewusstseins ist5 – existieren Alternativen, sogar über andere Formen von Texten wie Listen oder Abstammungsreihen hinaus. Rituale können die Vergangenheit dramatisch wiederholen, ob in zeitbewusstem Rückblick oder spielerischer Vergegenwärtigung. Bilder können Konstellationen oder Szenen fokussieren, auf ältere Erzählungen verweisen oder sie systematisieren, ja selbst narrative Kraft gewinnen.6 Natürlich werden solche Identitätskonstruktionen und Selbstinterpretationen durch Religionsgemeinschaften von Historikern übernommen, als ob sie allgemein gültige Modelle wären, Religionsgeschichte zu erforschen. Die in solchen Erzählungen gezogenen Grenzen, der Ausschluss von ‚Ketzern’ im Christentum, die Kette der Tradenten im frühen Islam, die Genealogie und Abgrenzung von ‚Schulen’ in Buddhismus wird so leicht akzeptiert und reproduziert. Das auf diese Weise erzeugte Konzept von ‚Religion’ und die Selbstorganisation von sozialen Gruppen als ‚Religionen’ haben sich als überaus erfolgreich erwiesen, sich in der globalen Politik als ein nationaler oder internationaler Akteur vom Typ der ‚Nicht-Regierungsorganisation’ einzuführen. Diese Ausbreitung eines westlichen Konzepts der ‚Religion’ auf dem Rücken des Konzeptes des Nationalstaates hat einen Typ von Darstellungen solcher Gruppen populär gemacht, der Grenzziehung durch den Verweis auf alte Fehden und Differenzen betreibt oder Bündnisse aufgrund einer gemeinsamen Herkunft (‚Abrahamitische Religionen’) schmiedet. Für Religionshistoriker bringt die Bedeutung solcher religiösen Geschichten in internationalen Beziehungen wie in lokalen Konflikten die Herausforderung mit sich, grundsätzlich zu reflektieren, wie in der Geschichtsschreibung Wissen von Religion erzeugt wird. Die direkte Verbindung von religiöser Identität und Religionsgeschichtsschreibung – vertraut aus der Tradition der Nationalgeschichte, und als ‚Konfessionsgeschichtsschreibung’ zu charakterisieren – bedarf jedenfalls der Korrektur.7

Für Geschichtswissenschaftler wiederum ist es interessant zu sehen, welche Rolle Religion für die Entwicklung von Medien der Erinnerung spielt. Das gilt in besonderem Maße für eine Gesellschaft, in der Religion einen, vielleicht den wichtigsten Kommunikationsraum und entsprechende Medien bietet, öffentlich über Identität zu kommunizieren: das antike Rom.

Wie sehr Geschichte und religiöse Erinnerung in der römischen Republik aufeinander verwiesen waren, machen einige Beispiele deutlich. Es gab Geschichten und Lieder, die die Heldentaten von Vorfahren priesen. Vom Anfang des dritten Jahrhunderts v. Chr. an gab es Ehren- und Grabinschriften, die bis zu den Elogien der Scipionen anwuchsen. Die älteste bekannte Leichenrede (laudatio funebris), die aufgezeichnet wurde, datiert von 221; sie betraf den zweimaligen Konsul und – im Textfragment so nicht genannt – Pontifex maximus L. Caecilius Metellus. In der Mitte des Jahrhunderts begann der Pontifex maximus Ti. Coruncanius, „Kommentare“, Protokolle von Änderungen in Mitgliedschaften, beobachtete Wunder, Entscheidungen aufzuzeichnen. Dokumentation und Legitimation gegenwärtiger Autorität scheinen die dominierenden Funktionen gewesen zu sein. Auf diese Art wissen wir, das im Jahr 275 oder 274 L. Postumius Albinus8 der „Rex sacrorum“ genannte Priester war, der die Einführung einer neuen divinatorischen Praxis miterlebte: Die haruspices begannen das Herz eines Opfertieres in ihre Untersuchung von Eingeweiden einzubeziehen.9

Vom späten dritten Jahrhundert v. Chr. an entwickelten Römer eine Geschichtsschreibung vom Aufstieg ihrer Stadt auf den Linien griechischer Geschichtsschreibung. Tatsächlich begannen sie zunächst auf Griechisch zu schreiben. Das führte bis zum späten ersten Jahrhundert v. Chr. zu der kanonischen Darstellung römischer Geschichte durch den augusteischen Schriftsteller Titus Livius. Im Jahr 2004 publizierte JASON P. DAVIES ein Buch über „Rome’s Religious History: Livy, Tacitus and Ammianus on their Gods“. Aber es ist nicht die Religionsgeschichte, die im Zentrum seines Interesses liegt. Es ist Religion als Faktor säkularer Geschichte und als Argument in säkularer Geschichtsschreibung, was ihn interessiert.

Davies’ Anspruch auf Originalität seines Ansatzes10 wird auch eingeschränkt, wenn man auf die Arbeiten von HUBERT CANCIK blickt. Schon 1997 stellte er die entscheidende Frage: „Wie kann Religion, die Riten, das Göttliche Geschichte haben?“.11 Noch wichtiger als seine kurzen Analysen von Varro und Tacitus sind seine Überlegungen zur epistemologischen Basis solch einer Historisierung. Religion ist für die Römer ein institutum, etwas, das „aufgestellt“ ist, Praktiken, die eingeführt und von Menschen traditionalisiert, die sogar formell reguliert, oder in der Form von Tempeln monumentalisiert sind.12 Religio, würde ich hinzufügen, wie sie vom spätrepublikanischen Philosophen Cicero konzeptualisiert wurde, ist das menschliche Gefühl der Verpflichtung, die auf dem Bewusstsein oder mindestens der Vermutung von der Existenz von Göttern basiert, und zur Institution von Kult, zu sacra, führt.13 Aber solch eine Ansicht ist nicht einfach als Merkmal römischer Religion gegeben, sondern selbst die Folge tiefgreifender Historisierung, die gerade für Religion – doch üblicherweise durch Traditionalität legitimiert – nicht selbstverständlich ist. Woher kommt sie?

Religion und Geschichte stehen in einem Spannungsverhältnis, insofern sich erstere gerade durch ihre Traditionalität legitimiert. Aber Religion bietet in der römischen Antike auch das zentrale Medium öffentlicher Kommunikation über Identitäten. Und Geschichte ist eine der wichtigsten Formen, Identitäten zu konstruieren und über sie zu kommunizieren. Römische Geschichtsschreibung selbst formuliert einen Bezug zu den „Annalen“ des Oberpontifex – aber, charakteristisch für Geschichtsschreibung, einen kritischen. Das Verhältnis ist auch hier spannungsreich.

Die intensive jüngere Debatte über Historiographie und die große Aufmerksamkeit, die Gedächtnisforschung gefunden hat, hat das Bewusstsein dafür geschärft, dass historische Erinnerung weit über Geschichtserzählungen hinausgeht. Hier setzt dieses Buch an: Ausgehend von der Frage nach der Entwicklung von Räumen literarischer Kommunikation nimmt es in einem ersten Teil eine Ortsbestimmung historiographischer Texte, in Poesie und Prosa, vor und beleuchtet besonders die Gattung der „Annales“ und „Commentarii“, die mit priesterlicher Dokumentation von Geschichte assoziiert wird.

Der zweite Teil widmet sich einem Phänomen römischer Kultur, in dem Religion und Geschichte in einer besonderen Weise miteinander verbunden zu sein scheinen. Hier verfolge ich jene listenförmigen Darstellungen von Geschichte, die aus dem Kalender heraus entstehen und wie jener als „Fasti“ bezeichnet werden. Das Potenzial dieser Gattung, die Regelung religiöser Praxis (als Kultkalender) mit der Gestaltung geschichtlicher Erinnerung zu verbinden, bleibt bis in die Spätantike virulent, wie der Blick auf die Entstehung des christlichen Festkalenders im ältesten uns bekannten Rom zeigt.

Ein ausblickender dritter Teil fragt schließlich, verschiedene Befunde zusammenfassend, nach der Historisierung von Religion selbst und nach der Wirkungsgeschichte der antiken religiösen Institutionen von Erinnerung.

Dieses Buch hat eine lange Entstehungsgeschichte, einzelne Studien, die hier eingeflossen sind, reichen bis in meine Potsdamer und Tübinger Jahre zurück. Aber statt diese Geschichte zu erzählen, möchte ich denen danken, die in den letzten Jahren mir halfen, aus Einzelbeobachtungen ein Buch werden zu lassen: Blossom Stefaniw (Erfurt, Aarhus, Mainz), Denis Feeney und Harriet Flower (Princeton), Karl Galinsky (Austin, Bochum), Johann Leemann (Erfurt, Leuven), Reinhard Gregor Kratz (Göttingen), Clifford Ando (Erfurt, Chicago), Greg Woolf (Erfurt, St. Andrews), Guy Stroumsa (Oxford) sowie Susanne Rau und Bernd Otto in Erfurt. Franziska Peter und Diana Blanke waren in der Endphase der Manuskriptgestaltung von unschätzbarer Hilfe. Institutionell boten an der Universität Erfurt das Max-Weber-Kolleg, die Kolleg-Forschergruppe „Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive“, die Graduiertenschule „Religion in Modernisierungsprozessen“ und das durch das Land Thüringen geförderte Verbundprojekt „Religion und Geschichte“ jene kommunikative Rahmen über Fachgrenzen hinweg, die neue Ideen begünstigen. Ob diese gut sind, müssen Leserinnen und Leser prüfen.

Erfurt, März 2012 Jörg Rüpke
Religiöse Erinnerungskulturen

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