Читать книгу Vinus und das Auge der Zyklopen: Die Abenteuer der Koboldbande (Band 4) - Jork Steffen Negelen - Страница 8

Das Haus des Meisters

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Der Wind trieb auf der Straße das Laub vor sich her, als Orbin am Nachmittag des nächsten Tages durch das Stadttor von Bochea schritt. Er hatte sich als Kräutersammler bei den Stadtwachen ausgegeben und war ohne viele Worte in die Stadt hineingelassen worden. Jetzt suchte er ein unscheinbares Wirtshaus. Dort wollte er sich ein Zimmer nehmen und sich dann ein wenig in der Stadt umsehen. Doch die meisten Wirtshäuser waren mit Gästen überfüllt und Orbins Suche dauerte bis zum Abend. In einer stillen Gasse fand er eine alte abgelegene Herberge. In ihr bekam er vom Wirt für einige Kupfermünzen etwas zu essen und eine winzige Kammer.

Orbin setzte sich in die dunkle Schankstube und aß eine Rübensuppe mit Speck und ein Stück Brot. Mit einem Krug Bier spülte er das Essen herunter. Dann sah sich dann um. Zwei Bauern aus der Umgebung von Bochea saßen mit am Tisch und unterhielten sich über ihre Felder. Das interessierte Orbin nicht weiter. Erst als der eine Bauer den anderen fragte, was in der vorletzten Nacht für eine Aufregung im Tempel gewesen sei, wurde Orbin neugierig. So erfuhr er, was sich zugetragen hatte, ohne jemanden durch eine Frage auf sich aufmerksam zu machen.

Die Bauern tranken ihre Krüge lehr und ließen den Hexenmeister allein am Tisch. Doch das störte Orbin nicht, denn jetzt bekam er das Gespräch zweier Händler aus der Stadt mit. Sie saßen am Nachbartisch und unterhielten sich über ein altes Haus in der Nähe des Stadttores. Dort sollte es Geister geben und die Seele eines Toten würde im Haus umherwandern. In der Nacht sollte es ein unerklärliches Licht geben. Am merkwürdigsten fanden jedoch die beiden Händler, dass die Dachziegel völlig mit Moos überwuchert waren. Dadurch wäre es das einzige Haus mit einem grünen Dach. Dort sollte man sogar die Aura der Stadt deutlich spüren können.

Die Händler tranken ihre Bierkrüge aus und wollten gerade gehen, da flog die Tür auf und drei Krieger der Stadtwache kamen mit Fackeln in den Händen herein. Sie sahen sich jeden Gast genau an.

In seinem linken Ärmel hielt Orbin den Zauberstab verborgen. Gespannt wartete er, bis einer der Krieger ihn mit seiner Fackel ins Gesicht leuchtete und ihn ziemlich unfreundlich ansprach. „Na, wer bist du denn, du stinkst ja fürchterlich.“

Orbin war von diesen Worten nicht sehr beeindruckt. Mit funkelnden Augen sah er den Krieger an und seine dunkle Stimme war deutlich zu hören. „Ich bin nur ein alter Kräutersammler. Ich will morgen auf dem Markt meine Kräuter verkaufen.“

Der Krieger machte ein finsteres Gesicht. „So, so, du willst morgen zum Markt. Wo hast du denn deine Ware gelassen? Die hätte ich gern mal gesehen.“

Orbin zeigte mit der linken Hand zum Wirt und wollte dem Krieger erklären, dass er hier ein Zimmer in der Herberge hatte und sich dort sein Sack mit den Kräutern befinden würde. Doch der Krieger achtete nur auf den Zauberstab, der Orbin aus seinem Ärmel rutschte und auf den Boden fiel. Sofort wollte er sich auf diesen Zauberstab stürzen und ihn an sich bringen, doch Orbin war schneller. Er stieß den Krieger weg und hatte mit einer Handbewegung seinen Zauberstab in der rechten Hand.

Wütend stand der Krieger auf und zog sein Schwert. „Das wirst du bereuen! Ich lasse dich in den Kerker der Stadt werfen!“ Er wollte Orbin mit der Waffe bedrohen, doch der Hexenmeister wich geschickt aus und brachte den Krieger mit seinen Zauberkünsten erneut zu Fall. Dann stieß er die beiden anderen Krieger um und rannte aus der Herberge heraus.

Die Wachen standen wieder auf und liefen dem Hexenmeister schreiend hinterher. Eine wilde Jagd begann und immer mehr Wachen schlossen sich ihr an. Orbin wusste bald nicht mehr, wohin er sich wenden sollte. In seiner Verzweiflung wollte er schon versuchen, die Stadt zu verlassen, da führte ihn seine Flucht zu einem alten Haus mit einem grünen Moosdach. Die Tür stand offen und da die Wachen hinter ihm her waren, rannte er einfach hinein. Mit einem Krachen fiel die Tür hinter ihm zu und ein schwaches Licht erleuchtete den Raum.

Orbins Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Er sah sich um und suchte nach einem Versteck, doch eine seltsame Stimme sprach aus dem scheinbaren Nichts zu ihm. „Du brauchst dich nicht zu fürchten. Die Elfen, die dich verfolgten, sind weitergelaufen. Bald werden sie merken, dass ihre Jagd vergebens war.“

Orbin sah sich um und erhellte mit seinem Zauberstab den Raum. Eine Lichtgestalt wurde jetzt sichtbar. Sie kam dem Hexer irgendwie bekannt vor, doch seine Erinnerungen waren noch immer sehr lückenhaft.

Leise flüsterte der Hexenmeister der Gestalt zu. „Sag mir, wer du bist. Ich habe dich schon einmal gesehen, aber ich kann mich nicht mehr an dich erinnern.“

Doch die Lichtgestalt sprach nicht weiter. Sie verschwand und eine andere Gestalt kam aus der Dunkelheit hervor. Es war Vinus und er hielt einen kleinen Feuerball zwischen seinen Händen. „Ich nehme mal an, dass du ein schwarzer Hexenmeister bist. Ich habe dich schon am Nachmittag in der Stadt bemerkt und gleich gewusst, dass mit dir etwas nicht stimmt. Deshalb habe ich dir die drei Wachen in die Herberge geschickt. Sie sollten dich gefangen nehmen, doch du bist ihnen entkommen und dann hat die seltsame Seele, die in diesem Haus herumwandert, dich und mich hereingelassen, damit du den Elfen entkommen kannst.“

Orbin sah zu dem Kobold und der Feuerkugel und er versuchte zu leugnen. „Das siehst du völlig falsch, du kleiner Zauberer. Ich bin nur ein Kräutersammler. Die Wachen haben sich geirrt. Lass mich gehen und ich werde die Stadt verlassen. Das verspreche ich dir.“

Die Lichtgestalt kam wieder zum Vorschein und sprach zum Hexenmeister. „Nein, du kannst jetzt nicht gehen. Nach all den Jahren bist du zu mir zurückgekehrt. Du musst mir helfen und mich erlösen.“

Die Seele schwebte jetzt dicht vor Orbins Gesicht und nahm die Gestalt eines Magiers an. Sie nickte Orbin zu und verschwand. Völlig verwirrt starrte der Hexenmeister vor sich hin und der Kobold ließ seinen Feuerball verschwinden. Er merkte immer deutlicher, dass dieser eigenartige Kerl nicht wirklich gefährlich war und er berührte ihn am Arm. „Wer bist du, sag mir deinen Namen.“

Der Hexenmeister schaute Vinus an und irgendetwas in ihm meinte wohl, das er dem Kobold trauen konnte. Seine Stimme klang brüchig, als er antwortete. „Ich bin Orbin, ein Diener des Dämonicon. Wenn ich ihn verrate, so wird mich das Halsband, das ich von ihm bekommen habe, geradewegs zu ihm zurückbringen und er wird mich vernichten. So hat er es mir gesagt.“

Vinus entzündete eine Kerze. „Das glaube ich nicht. Die Macht der Feen herrscht hier in der Stadt und die Aura ihrer Königin würde das niemals zulassen.“

Orbin schüttelte den Kopf. „Nein, du kennst die Macht dieses schwarzen Herrn nicht. Er ist der Sohn eines Dämonenfürsten. Ich habe dir sicher schon zu viel gesagt und ich werde bestimmt gleich verschwinden.“

Mit Angst in den Augen drehte sich der Hexenmeister in jede Richtung. Aber es geschah nichts. Vinus stellte die Kerze auf einen Tisch und zog Orbin zu einem Stuhl. Er wischte den Staub von ihm und bat den Hexer, sich zu setzen. „Jetzt mach schon, ich will mir dein Halsband mal ansehen. Doch du bist verdammt groß. Wenn ich kann, werde ich dich von diesem Ding befreien.“

Orbin setzte sich und ließ den Kobold sein Halsband betrachten. „Na mal sehen, das Leder sieht sehr nach gegerbter Trollhaut aus. Die Zeichen darauf sind mit schwarzer Magie versehen. Doch sie haben tatsächlich keine Wirkung. Es ist so, wie ich es vermutet habe. Die Aura, die über der Stadt liegt, verhindert die Ausführung von schwarzer Magie.“

Mit einem Zauberspruch öffnete Vinus den Verschluss des Halsbandes. Er steckte es in einen Leinenbeutel und knotete diesen zu. Dann belegte er den Beutel mit einem Bannspruch und warf ihn auf den Tisch. Triumphierend sah er zu Orbin. Der war aufgestanden und reckte sich. Er rieb sich den Hals mit beiden Händen und nickte. Dann betrachtete er seinen Zauberstab.

Erstaunt drehte und wendete er ihn hin und her. „Das ist nicht zu fassen. Der Kristall meines Zauberstabs leuchtet hell. Das bedeutet für mich, dass ich die weiße Magie wieder benutzen kann.“

Orbin sah zu Vinus und schaute dann seine Kleidung an. Er trug jetzt die Tracht eines weißen Zauberschülers. Wie kleine Blitze schossen die Erinnerungen in seinen Kopf und er lächelte mit einem Mal Vinus zu. Dann sprach er mit sanfter Stimme. „Noch ist die Macht, die Dämonicon über mich hat, nicht ganz gebrochen. Doch ich bin mir sicher, dass wir das richtige Mittel hier im Haus meines alten Freundes Meerland finden. Er war einst mein Meister. Die Erinnerungen von besseren Tagen kehren zu mir zurück. Ich muss mich nur auf die Dinge konzentrieren, die ich hier finde, dann werde ich bald wissen, wer ich einst war.“

Vinus rieb sich die Hände. „Das ist ja toll. Ich kam in die Stadt, um der Königin einen heiligen Becher zu bringen und du solltest bestimmt im Auftrag des Dämonicon das Auge der Zyklopen stehlen, was ich natürlich verhindern wollte. Doch jetzt bin ich hier in einem alten Haus und suche etwas, von dem ich nicht einmal weiß, was es ist. Und ich suche es mit jemandem, der nicht genau weiß, wer er ist. Also, worauf warten wir? Arbeit ist hier bestimmt genug zu finden und außerdem spüre ich, dass noch etwas in dir ist, was nicht zu dir gehört.“

Orbin zuckte mit den Schultern. Dieser Kobold redete entschieden zu viel. Er nahm die Kerze und ging zu einem Schrank. Den sah er sich genau an. Eine Erinnerung war plötzlich in seinem Kopf. Orbin öffnete den Schrank und machte ihn wieder zu. Dann öffnete er ihn wieder.

Er sah zu Vinus und winkte ihm zu. „Komm her, ich weiß jetzt wieder, wie ich früher in die geheime Schreibstube meines Meisters kommen konnte. Dieser Schrank ist so etwas wie eine Tür für die Stube dahinter.“

Vinus stellte sich nur ungern mit Orbin in den Schrank. Doch der Hexenmeister sagte die Wahrheit. Kaum schloss sich die Schranktür, da verschob sich die Schrankwand und eine völlig verstaubte Schreibstube wurde sichtbar. Auf dem Lesepult eines großen Schreibtisches lag ein dickes Buch von beträchtlicher Größe. Orbin stellte die Kerze in einen Halter neben dem Buch und öffnete es. Im Schein der Kerze war die Schrift gut zu erkennen.

Vinus Neugierde hatte schon längst gesiegt und er hielt es vor Aufregung kaum noch aus. „Was steht in dem Buch geschrieben, Orbin? Kannst du es lesen, oder soll ich es mal versuchen?“

Orbin klopfte dem Kobold auf die Schulter. „Bleib ruhig, ich lese vor und wir werden gemeinsam erfahren, was darin geschrieben steht.“ Er strich die erste Seite glatt und begann. „Dies ist das Buch des weißen Magiers Meerland. In ihm sind die Erlebnisse seiner Wanderungen und die Ausbildung seiner Schüler von ihm selbst aufgeschrieben worden.“

Ein helles Licht unterbrach ihn. Meerlands Seele erschien wieder und sie flüsterte den beiden sogleich etwas zu. „Das ist das richtige Buch. Doch nur die letzten Seiten sind wichtig.“

Orbin blätterte in dem Buch herum und fand eine Zeichnung. Sie stellte die heilige Altartafel und den Becher des Schöpfers dar. Daneben stand etwas geschrieben. Orbin las es vor. „Der heilige Bund mit dem Schöpfer ist zerbrochen. Seine Gaben sind entweiht. Nur wenn der Becher mit der Tafel während des Rituals des Schöpfers vereint wird, kann die Aura neue Kraft gewinnen.“

Orbin blätterte die Seite um und las weiter. „Das Gleichgewicht der Magie ist ins Wanken geraten. Die Hüter der heiligen Gaben wurden für ihren Frevel hart bestraft. Ihre Feinde haben über sie triumphiert. Doch auch ihr Preis war hoch. Nur die Feen und die Zauberer können noch helfen. Ich setze mein Vertrauen in die Kraft meines Schülers Orbin. Er sprach von einem neuen Zirkel, dem er beitreten wollte. Doch zuerst muss er ein Meister werden.“

Über dem Hexenmeister und dem Kobold schwebte Meerlands Seele. Leise sprach sie zu den beiden. „Hört gut zu, meine Freunde. Als der Priester Damian vor langer Zeit seinen König erschlug und selbst blind und einsam in der Steppe starb, war die Liebe des Schöpfers für das Volk der Zyklopen erloschen. Doch nichts ist für die Ewigkeit. Eines Tages wird die Liebe zu ihm zurückkehren und das Volk der Zyklopen wird die Fesseln der Sklaverei verlieren.“

Orbin schaute zu Meerlands Seele auf. „Meister, ich kann mich an so viele Ereignisse in meinem Leben nicht mehr erinnern. Wenn wir dir helfen sollen, dann musst du uns verraten, wie wir das anstellen müssen. Ich weiß nicht, wie ich die Seele eines Meisters der alten Hoch-Elfen erlösen kann.“

Meerlands Seele leuchtete hell auf, als sie rief. „Das ist nicht weiter schwierig. Doch zuerst will ich dir und deinem kleinen Freund noch etwas über mich erzählen. Dann wirst du verstehen, warum ich als Lichtgestalt an diesen Ort gebunden bin und noch nicht in das Seelenreich der Hoch-Elfen gelangen konnte.“

Orbin setzte sich auf den Sessel, der hinter dem Schreibtisch stand und seufzte. „In meinem Kopf drehen sich die Gedanken, ich weiß bald nicht mehr, was ich noch alles wieder lernen muss. Aber bitte, Meister Meerland, wenn es uns hilft, dann erzähle uns von dir.“

Die Seele Meerlands schwebte dicht über dem Schreibtisch. Beinah sah es so aus, als wollte sie sich setzen. „Also dann hört mir gut zu. Vor vielen Tausend Jahren erschuf der Schöpfer die Erz-Elfen. Sie waren die Reinsten und Edelsten aller Geschöpfe. Sie waren über alle Maßen klug und schön wie das Licht der Sonne, wenn es sich im Morgentau widerspiegelt. Viele Jahrhunderte lebten sie glücklich den Traum der Unsterblichkeit. Doch eines Tages zerbrach dieser Traum. Albaron, der König der Erz-Elfen, verlor durch einen schrecklichen Unfall bei einer Hirschjagd seinen einzigen Sohn Elion. Er gab seinem Jagdmeister Zassan die Schuld und aus Rache verbot er ihm noch am selben Tag, seine Tochter, Prinzessin Lianda im heiligen Pantheon des Schöpfers zur Frau zu nehmen.“

„Das kann nicht stimmen“, unterbrach der Kobold die Lichtgestalt. „In den Büchern meines Bruders Artur steht geschrieben, dass Lianda die Schwester von Albaron war.“

„Ach ja, das stimmt“, erklärte Meerlands Seele. „Doch Zassan liebte die Schwester des Königs so sehr, dass er sie entführte und mit seiner ganzen Sippe weit weg in ein abgelegenes Tal des Drachengebirges zog. Dort lebten sie verborgen vor den Häschern des Königs. Da Zassan und seine Sippe nicht mehr im Pantheon beten und heiraten konnten, brachten alle ihre Frauen nur noch Hoch-Elfen zur Welt. Diese Hoch-Elfen hatten ein sehr langes Leben, doch ihnen fehlte der Segen des Schöpfers. Nur der Oberste Priester im Pantheon konnte diesen Segen im Namen des Schöpfers aussprechen und er war nur für die Erz-Elfen bestimmt. Die Nachkommen der Hoch-Elfen wurden deshalb nur noch weiße Elfen. Da auch ihnen der Segen des Schöpfers fehlte, war ihre Lebensspanne noch kürzer. Schon viele Elfen versuchten deshalb, die Schattenseite der Magie zu nutzen, um ihre Lebensenergie zu stärken. Doch der Weg von der dunklen zur schwarzen Magie ist sehr kurz. Oft ist die Grenze fließend und man bemerkt nicht den Irrtum, den man gerade beging.“

Meerland schaute traurig zu Orbin und Vinus. Dann seufzte er. „Ach nein, ich schweife ja von dem ab, was ich euch eigentlich erzählen wollte. Also, der König der Erz-Elfen ließ überall nach Zassan und seiner Sippe suchen. Doch das Tal lag weit weg und die Erz-Elfen hatten schnell andere Sorgen. Denn des Königs Bruder, Prinz Leanderich, wollte selbst König sein. Da die Schar seiner Anhänger groß war, forderte Leanderich Albaron heraus. So kam es zum ersten Elfenkrieg. Albaron besiegte Leanderich und hielt ihn in einem Turm gefangen. Seinen Bruder töten, das wollte der König nicht, denn das war gegen die Gesetze, die er selbst erlassen hatte. Aber da er befürchtete, das Leanderich von seinen Freunden befreit würde, betete Albaron im Pantheon. Er bat den Schöpfer, ihm sichere Wachen zu schicken, denn wenn Leanderich entfliehen konnte, so würde der nächste Krieg nicht lange auf sich warten lassen. Noch am selben Tag schickte der Schöpfer die Drachen. Sie sollten von nun an den Frieden bewahren. Doch Leanderich war listig. Es sang die Drachen in den Schlaf und entkam. Nach langer Suche fand er Zassan und seine Sippe. Mit ihnen wollte er in Frieden leben und nie wieder gegen seinen Bruder in den Krieg ziehen.“

Orbin wurde jetzt ungeduldig. Er lehnte sich im Sessel zurück und zog die Luft hörbar durch seine Nase ein. Dann unterbrach er Meerland. „Meister, was ist an dieser Geschichte denn so wichtig? Das hat doch alles nichts mit mir zu tun. Zu dieser Zeit kann ich noch nicht gelebt haben, denn ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern.“

Meerland leuchtete jetzt hell auf. Das war ein sicheres Zeichen für den Zorn, der in ihm aufstieg. „Du kannst dich wohl überhaupt nicht mehr an deine Kindheit erinnern? Doch damit du es weißt. Du bist Leanderichs einziger Sohn und König Albaron war dein Onkel!“

Orbin saß für einen kurzen Augenblick mit offenem Mund steif im Sessel und wurde immer blasser. Dann schüttelte er den Kopf und seinem Mund entfuhr wie von selbst eine Frage. „Wenn das wahr ist, wieso kann ich mich dann nicht daran erinnern?“

Meerland wiegte seinen Kopf hin und her. Dann sprach er weiter. „Du warst gerade erst drei Jahre alt, da fanden Albarons Krieger mitten im Winter die Spur eines unvorsichtigen Jägers aus Zassans Sippe. Sie meldeten Albaron sofort, wo sich sein Bruder und dessen Freunde befanden. Mitten in der Nacht ließ Albaron das Lager seines Bruders angreifen. Ich selbst war ein Jüngling von fünfzehn Jahren. Deine Schwester und dich konnten Zassan und ich gerade noch in Sicherheit bringen. Doch dein Vater und deine Mutter fielen im Kampf. Ich brachte euch in die Wälder und ließ dich und deine Schwester von den Zwergen großziehen.“

Orbin war aufgestanden. Er sah die Lichtgestalt vor sich an und konnte kaum glauben, was er da hörte. „Du sagst, ich habe eine Schwester? Wer ist sie und ist sie überhaupt noch am Leben?“

Meerland grinste, als er antwortete. „Jetzt kommt der beste Teil deines einstigen Lebens. Deine Schwester ist die Feenkönigin Theodora und mein eigener Vater ist Zassan, der einstige Jagdmeister von Albaron. Da meine Mutter des Königs Schwester ist, ist dieser auch mein Onkel. Deine Schwester, du und ich, wir sind vom selben königlichen Blut.“

Vinus mischte sich jetzt ein. „Ich kenne mich mit diesen alten Legenden der Erz-Elfen nicht so aus. Was ist aus dem König geworden? Für gewöhnlich seid ihr Elfen doch alle sehr auf Rache aus. Sie ist ein Teil eurer Gesetze.“

„Das ist richtig“, stimmte Meerland dem Kobold zu. „Wir haben uns auch gerächt. Mein Vater Zassan erklärte mir die Regeln der Magie. Er erkannte schnell, dass alle Hoch-Elfen für die weiße Magie sehr begabt waren. Die Sippen der Erz-Elfen, die Albaron hassten, verbündeten sich mit meinem Vater und schon dreißig Jahre später gab es mehr Hoch-Elfen als Albaron zählen konnte. Der Zorn des Königs wuchs unaufhörlich und er befahl den Drachen, zusammen mit seinem Heer in den Krieg zu ziehen. Doch die Drachen weigerten sich. Sie rieten Albaron von seinem Vorhaben ab und zogen sich in die Berge zurück. Aber dadurch fühlte sich der König nur noch mehr verraten. An der Spitze seines Heeres zog er in die Schlacht. In dieser Schlacht traf er auf meinen Vater. Sie waren beide von Hass und Rache getrieben und sie ahnten wohl, dass die Zeit der Erz-Elfen vorbei war. Am Ende dieses furchtbaren Tages suchte ich das Schlachtfeld nach Ihnen ab. Mein Vater und der König Albaron lagen tot neben ihren Pferden. Der König hatte seinem einstigen Jagdmeister sein Schwert in die Brust gerammt und mein Vater hatte ihm mit seiner Jagdlanze aufgespießt. Ich werde diesen Anblick niemals vergessen. Die überlebenden Hoch-Elfen suchten überall, doch sie fanden keinen einzigen lebenden Erz-Elfen mehr. Albaron hatte sogar die Frauen und die Kinder mit in die Schlacht genommen und mein Vater hatte es ebenso getan. An diesem Tag gab es keine Sieger.“

Orbin stöhnte auf. Seine Erinnerungen versuchten, mit aller Macht wiederzukommen. Doch etwas blockierte sie offenbar. Zitternd stand er vor dem Tisch und er drückte seine Hände gegen seine Schläfen. „Vinus hilf mir. Da ist etwas in meinem Kopf. Ich habe Schmerzen … ich habe … ich … äh …“

Orbin verlor das Bewusstsein und brach zusammen. Der Kobold hatte Mühe ihn aufzufangen. Er legte ihn auf den Fußboden und sah eine kleine schwarze Rauchwolke aufsteigen. Sie verschwand sehr schnell, denn die Aura der Feenkönigin ließ keine schwarzen Geister in der Stadt zu.

Meerland schwebte über Vinus und Orbin. „Das war ein kleiner Seelengeist. Die sind sehr bösartig und lassen dich Dinge tun, die du ohne ihn gar nicht tun würdest. Orbin muss sich heftig gegen ihn gewehrt haben, sonnst hätte dieser Geist ihn niemals freiwillig verlassen. Wahrscheinlich kommt er nicht weit. Die Aura wird ihn schnell zerstören. Wir müssen unseren Freund wieder aufwecken. Er kann uns vielleicht sagen, woher er diesen Geist hat.“

Vinus winkte nur ab. „Unser Freund ist gleich wieder bei uns. Dieser Geist muss eine Art Absicherung von seinem ehemaligem Herrn Dämonicon sein. Ich habe vorhin schon gespürt, dass da noch etwas in ihm ist. Mit ein wenig Glück können nun seine Erinnerungen schnell zu ihm zurückkehren. Das hoffe ich jedenfalls.“

Meerland stimmte dem Kobold zu. „Du hast recht. Orbin war früher ein zäher Bursche. Du solltest ihn wachrütteln und ihm etwas zu trinken geben. In dem Regal hinter dir findest du einige Flaschen mit leckerem Wein. Der ist zwar schon alt, aber er wird seinen Zweck erfüllen.“

Vinus sah sich das Regal an und grinste. Er zog eine bauchige Flasche heraus und pustete den Staub herunter. Dann las er das Etikett. „Zwergenblut. Das muss wahrhaftig ein alter Wein sein. Ich werde ihn erstmal probieren.“

Der Kobold zog mit aller Kraft den Korken aus der Flasche und nahm einen Schluck. „Oh, das ist ein leckerer Tropfen. So einen Kräuterwein habe ich ja noch nie getrunken.“

Meerland sah Vinus zu, wie er Orbin mit der Hilfe des Weines wieder auf die Beine brachte. Er freute sich und kicherte leise. Seufzend setzte sich Orbin in den Sessel hinter dem Schreibtisch und sah sich im Schein der Kerze sein Gewand an. Es veränderte sich schon wieder. Aus der weißen Tracht eines weißen Zauberschülers war nun der rote Mantel eines Meisters der Nekromanten geworden. Auch sein Zauberstab hatte sich noch einmal verändert. Er war jetzt größer und der Kristall an seiner Spitze leuchtete heller als die Kerze. Seine Gestalt hatte nun die Größe und das Aussehen eines Hoch-Elfen.

Meerland nickte zufrieden. „So ist es richtig. Orbin, du siehst jetzt wieder wie ein Mitglied des Zirkels der Nekromanten aus. Benutze deinen Zauberstab und du wirst dich an alles erinnern, was du jemals erlebt hast.“

Orbin zauberte sich einen Spiegel herbei und betrachtete sich. Seine Mine hellte sich auf und er rief. „Schaut mich an, meine Freunde. Ich habe wieder meinen langen weißen Bart und die buschigen Augenbrauen. Sogar die silberne Kappe befindet sich auf meinem Haupt. Jetzt bin ich wieder ein richtiger Nekromant. Nun muss ich nur noch wissen, ob ich auch alle meine Erinnerungen in meinem Kopf habe.“

Orbin schloss seine Augen. Er berührte mit seinem Zauberstab seine Stirn und kleine magische Blitze durchzuckten für einen Moment seinen ganzen Körper. Er legte den Zauberstab vor sich auf den Tisch und schlug die Augen auf. „Meine lieben Freunde. Es gibt doch nichts Besseres, als ein perfekt funktionierendes Gedächtnis.“

Der Kobold klatschte in die Hände und Meerland schwebte eine Runde durch die Stube. Vinus trank noch einen Schluck vom Wein und rief. „Nun Orbin, jetzt sag uns, wie wir die gute Seele deines alten Meisters von diesem Ort erlösen können.“

Orbin hob beschwichtigend die Hände. „Nicht so schnell, mein kleiner Kobold. Erst möchte ich noch erzählen, wie ich zum schwarzen Hexenmeister wurde. Das sollte Meerland wissen, bevor ich ihn in das Seelenreich der Elfen schicke. Ihr werdet beide staunen.“

Vinus zog sich einen bequemen Stuhl zum Tisch und Meerland schwebte über ihm. Sie schauten beide wie gebannt zu Orbin. Der nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche, tupfte sich mit einem Tuch den Wein von den Lippen und begann zu erzählen. „Also Freunde, ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich mit dir, Meerland, zu den Ruinen von Illwerin unterwegs war. Du hattest mich gebeten, dich zu begleiten. Zu dieser Zeit war der Zirkel der Nekromanten nicht mehr vollständig. Nur der erste Magier Albanarius und ich waren noch übrig. Du, Meerland, du wolltest ja nie in unseren Zirkel eintreten. Doch wir trafen uns mit Albanarius vor den Ruinen und vereinbarten mit ihm, ein Heer aufzustellen, um Dämonicon zu vernichten. Aber auf dem Rückweg nach Bochea liefen wir in eine Falle. Mich konnte der schwarze Zauberer mit der Hilfe einer Bande von hinterhältigen Erdtrollen lebend fangen, aber dich, Meerland, dich hat er im Kampf getötet. Du warst der schwarzen Magie dieses dämonischen Prinzen nicht gewachsen. Er war zu dieser Zeit so mächtig, dass selbst die Drachen ihn fürchteten. Dämonicon zerschmetterte deinen Körper an den Felsen des Drachengebirges und deine Seele floh zurück in dein Haus. Da ich ein Nekromant war, tötete er mich nicht. Er versklavte mich, in dem er aus mir einen Iht-Dag machte. Das heißt, ich war sein persönlicher Sklave, und ich musste ihm als schwarzer Hexenmeister dienen. Die weiße Magie war mir verwehrt und die schwarze Magie machte aus mir viele Jahre später einen Untoten. Dadurch konnte ich nur noch in der Nacht meinem Herrn dienen. Ich bekam eines Nachts von Dämonicon den Auftrag, die Stadt Darontyn auszuspähen. Ich sollte eine schwache Stelle in ihren Verteidigungsanlagen finden. Doch ich kam überhaupt nicht an die Stadt heran. Alfagil, ihr König, hatte mich schon vorher mit einer Gruppe seiner besten Krieger gestellt. Er trug einen geweihten Speer bei sich. Gegen die weiße Magie dieser Waffe konnte ich nicht lange ankämpfen. Sie sperrten mich in einen riesigen Krug ein. Den Deckel versahen sie mit einer eisernen Kette. Ich wurde in ein tiefes Loch gestoßen und mit einem sehr starken Bannfluch belegt. Dieser Alfagil war sehr schlau. Er hatte beim Kampf bemerkt, dass ich nicht sterben würde und mir deshalb dieses Schicksal auferlegt. Die ersten dreihundert Jahre habe ich ihn dafür verflucht, die nächsten dreihundert Jahre habe ich ihn nur noch verachtet und die letzten dreihundert Jahre habe ich dann verschlafen.“

Meerland schwebte dicht an Orbin heran. „Mein alter Freund, ich bin nur eine Lichtgestalt und kann keine Tränen weinen. Doch wenn ich das könnte, so würde ich es tun und einen See mit ihnen füllen. An das, was du soeben erzählt hast, erinnere ich mich gut. Ich weiß jetzt, dass du mich beerben kannst. Beim ersten Strahl der Sonne öffnest du morgen früh alle Fenster und Türen dieses Hauses und sprichst für mich ein Gebet. Durch dein Gebet kann ich mich von diesem Haus trennen und in das Seelenreich der Elfen gelangen. Dann gehst du zu deiner Schwester und zeigst ihr einen Brief von mir. Du findest ihn zwischen den Seiten meines großen Buches auf dem Tisch. Gib ihr diesen Brief, sie muss ihn lesen. Darin steht, dass du mein Erbe bist.“

Orbin erhob sich und blätterte im Buch, bis er den Brief fand. Er betrachtete das Siegel auf dem Pergament und sah zu Vinus. „Mein lieber Kobold, du wirst mich doch zu meiner Schwester begleiten?“

Vinus lächelte und stimmte zu. „Mit dem größten Vergnügen, mein lieber Meister Orbin.“

Der erste Schrei eines Hahnes ließ die drei Freunde aufhorchen. Das Tier war bestimmt nicht weit von Meerlands Haus auf dem Hof eines Händlers und kündigte recht laut den nahenden Sonnenaufgang an. Orbin steckte den Brief ein und Vinus nahm die Flasche mit dem Wein an sich. Dann verließen sie die geheime Schreibstube so, wie sie gekommen waren.

In dem Raum daneben erwartete sie bereits Meerland. Er schwebte durch jede Ritze seines Hauses. Bei einem der Fenster konnten sie nach Osten sehen. Orbin zog die staubigen Vorhänge zur Seite und nur wenige Minuten später warf die Sonne ihren ersten Strahl hinein.

Der Nekromant sah zur Lichtgestalt seines einstigen Meisters. Der lächelte ihm zu. „Nun öffnet die Türen und Fenster. Sobald das Gebet gesprochen ist, werde ich euch verlassen.“

Schweigend stießen Orbin und Vinus alle Türen und Fenster auf. Die frische Luft durchströmte alle Räume und der Nekromant sank auf die Knie. Er richtete seinen Blick nach Osten zur aufgehenden Sonne und faltete seine Hände. Dann sprach er sein Gebet. „Oh Herr, der du mein Schöpfer bist. Deiner Gnade vertraue ich die Seele meines Herrn und Meisters Meerland an. Er hat dir bis zum Tod treu gedient. Ich bitte dich, lass ihn in das Seelenreich seiner Ahnen gehen. Ich schwöre dir dafür ewige Treue und ich werde dir immer dienen.“

Die Strahlen der Sonne erfassten die Lichtgestalt und zogen sie aus dem Raum. Immer weiter entfernte sich Meerland von den beiden Freunden und das Letzte was sie von ihm hörten war sein Gruß. „Ich danke euch beiden und ich werde meinen Ahnen von euch berichten.“

Langsam stand Orbin auf und Vinus stellte sich neben ihn. „Mein lieber Freund, ich glaube, nun bist du erst richtig wieder bei den Lebenden angekommen. Diesen Tag wird dir niemand aus deinem Gedächtnis stehlen können.“

Als Meerland völlig verschwunden war, drehte sich der Nekromant um sah den Kobold an. „Jetzt bin ich auf das Gesicht meiner Schwester gespannt.“

Vinus und das Auge der Zyklopen: Die Abenteuer der Koboldbande (Band 4)

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