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I. Erste Schritte – Gedanken zu einem Gemälde von Vincent van Gogh*

Ein in leuchtenden Farben gemaltes Bild, eine junge Familie, eine ländliche Idylle. In einem umfriedeten Garten hinter dem Wohnhaus ist eine junge Frau mit ihrem Kleinkind gerade durch das Gatter getreten, führt das Kind dem überrascht-beglückten Vater entgegen.

Ein erster Eindruck, den man haben kann: ein Kind, das nur kleine, sehr kleine Schritte tun kann; ein Kind, von der Mutter geführt, vom Vater freudig erwartet. Überall hilfreiche und sprechende Hände! Auch das Kind streckt seine kleinen Hände aus, sieht den Vater – und kann plötzlich nur noch eines: in dessen ausgebreitete und einladende Hände hineinlaufen.

Vieles ist hier angedeutet: Nähe suchen – Geborgenheit erfahren – willkommen geheißen werden – gehalten sein – kleine Schritte tun auf jemanden zu, der uns erwartet. Die Eltern haben und nehmen sich Zeit. Wichtige Zeit. Weil es das Kind gibt, weil ein Kind Zeit braucht. Der Vater hat seine Schaufel beiseitegelegt, ist in die Hocke gegangen und hat sich für das kleine Kind klein gemacht. Vielleicht hört das Kind zum ersten Mal den Lockruf »Komm!«. Vielleicht helfen die Hände der jungen Mutter dem Kind zu begreifen, was ihm ermunternd gesagt wird: »Geh!« Und so geschieht es: Das Kind macht erste Schritte. Es »weiß« nicht, dass es Schritte macht, aber es sieht und erlebt Arme, die es willkommen heißen. Im Vertrauen auf diese einladenden Arme kann das Kind etwas, was es vorher nicht konnte: Schritte tun, weil es erwartet ist. Es beginnt auf ein »Du« zuzugehen, das es unendlich gut mit ihm meint.

Ein Familien-Idyll? Ja, vielleicht – aber vielleicht auch mehr. Nicht zufällig spielen in dem Bild, das van Gogh »Erste Schritte« genannt hat, Arme und Hände der Eltern eine entscheidende Rolle: die weit ausgebreiteten Arme des Vaters, die Stütze und Halt gebenden Hände der Mutter, die das Kind zwar führen, ihm aber gleichzeitig zutrauen, die wichtige Freiheit für die ersten eigenen Schritte auszuprobieren. Halt geben – und doch die selbst gewählten Schritte ermöglichen helfen. Das Kind selbst: In einem noch ungebrochenen Vertrauen ahnt der kleine Mensch, dass da jemand ist, dem er sich überlassen kann. Und das genügt, um aufzubrechen, sich anzuvertrauen, ja sich auszuliefern.

Es bedarf nur eines aufmerksamen Blickes in die Bibel, um dort an unzähligen Stellen, in ganz verschiedenen Situationen, so z.B. in vielen Psalmen, die starken Hände eines Vaters und die beschützend-sorgenden Hände der Mutter gleichnishaft für die Liebe Gottes zu uns Menschen zu entdecken. Ohne diese Hände gäbe es keine Schritte; alle Versuche aufzubrechen würden rasch in Stürzen enden. Doch so bleibt der Mensch gehalten und geführt, er bleibt eingeladen zu einem Ziel, das ihm Zuflucht und Zärtlichkeit für ein ganzes Leben schenken will: »Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: ich vergesse dich nicht. Sieh her: Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände« (Jes 49,15–16).

In einem Gedicht-Text hat der evangelische Pfarrer und Schriftsteller Albrecht Goes eine ähnliche Erfahrung im Umgang mit den eigenen Kindern beschrieben, wie sie Vincent van Gogh uns in seinem Bild vermittelt hat. Es heißt: Die Schritte.1

Die Schritte

Klein ist, mein Kind, dein erster Schritt,

Klein wird dein letzter sein.

Den ersten gehn Vater und Mutter mit,

Den letzten gehst du allein.

Seis um ein Jahr, dann gehst du, Kind,

Viel Schritte unbewacht,

Wer weiß, was das dann für Schritte sind

Im Licht und in der Nacht?

Geh kühnen Schritt, tu tapfren Tritt,

Groß ist die Welt und dein.

Wir werden, mein Kind, nach dem letzten Schritt

Wieder beisammen sein.

Albrecht Goes

* Siehe beiliegende Karte

Und er stellte ein Kind in die Mitte

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