Читать книгу Frauen & Mönche (Historischer Roman) - Josef Kallinikow - Страница 28

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Inhaltsverzeichnis

Jenseits der Wassilij-Insel wohnten am Fluß die Lastträger, bunt zusammengewürfeltes Volk aus allen Himmelsgegenden. Sie lebten von der Hand in den Mund. Brot und Kwas war ihre Hauptnahrung. Von Straßenmädchen, die in der Nähe der Baracken herumlungerten und für fünf Kopeken »mit Übernachten« zu haben waren, ließen sie sich ihre Lumpen stopfen und vertranken zusammen mit ihnen ihren Lohn; die Fünfer zahlten sie nicht, genossen die abgenutzten Reize als Dank für die Bewirtung.

Gegen Mittag fand Afonka Jakow Rjabin, den Sohn jenes Bauern. Rjabin war ein stämmiger Bursche mit ellenbreiten Schultern – die Säcke und Kisten hatten sie ihm geweitet. Er wohnte in einem armseligen Häuschen, das vollgepfropft war von allerlei Leuten.

»Ich bringe Ihnen einen herzlichen Gruß von Ihrem Vater.«

»Woher sind Sie denn?«

»Ich bin Ihr Landsmann, obwohl ich aus der Stadt komme.«

»Wenn er mir ein bißchen Geld geschickt hätte, könnten wir eins trinken, um unsere Bekanntschaft zu begießen; aber er ist mehr dafür, daß ich ihm welches sende.«

»Um die Wahrheit zu sagen – er schickt Ihnen zehn Rubel.«

Afonka hatte beschlossen, diese zehn Rubel aus seiner Tasche zu spenden, um den Mann zugänglicher zu machen, von dem er allerlei über die Stadt und die Sitten und Bräuche hier zu erfahren hoffte.

»Das laß ich gelten … Na, gehen wir auf die Wassilij-Insel, da sind auch die Mädel ganz was anderes als unsere hier; Sie haben wohl noch keine Petersburger Mädel kennengelernt? …«

Nach einem halben Dutzend Flaschen Bier, zu dem sie gedörrte Pilze mit Salz und Brezeln aßen, lösten sich bei den Klängen eines Grammophons die Zungen. Afonka erzählte seinem neuen Freunde dieses und jenes, hütete sich aber zu viel zu sagen und vor allem etwas davon merken zu lassen, daß er Geld hatte.

»Wir sind hier alles Arbeiter, Proletarier, wie uns die Herrschaften nennen, die in den Flugblättern schreiben.«

Afonka, der durch Lossew – wenn auch in anderer Beleuchtung – einiges von diesen Dingen gehört hatte, wollte nicht zurückstehen und sagte:

»Ja, ja, Jakow Petrowitsch, die Zeiten sind schwer. Wie sieht's denn bei uns aus? In der Zeit, da er auf dem Felde arbeiten müßte, hat der Bauer Lohnarbeit zu leisten und verdient einen halben Rubel mit Pferd und Wagen, und was kostet ihm dabei allein der Unterhalt des Pferdes! … Und von dem Verdienst der Arbeiter in der Stadt lohnt es sich ja überhaupt nicht zu sprechen …«

Als Afonka hinter dem Schenktisch in Klimows Wirtschaft saß, hatte er wenig für diese Dinge übriggehabt. Die Klagen der Arbeiter und Bauern hatten ihn nicht näher berührt; seine eigenen Angelegenheiten hatten ihn in Anspruch genommen. Jetzt erst, da er selbst erwerbslos war, kam ihm im Gespräch mit Rjabin zum Bewußtsein, daß hier eine Wahrheit lag, die auch für ihn von größter Bedeutung war.

»Sagen Sie, Afanaßij Timofejewitsch, gehören Sie nicht zu jenen Leuten, die den Ministern mit Bomben auflauern? Hier haben sie vor kurzem einen in die Luft fliegen lassen, mitsamt seinem Kutscher, der ja eigentlich schuldlos war …«

»Ich habe das nur so gemeint, weil wir gerade davon sprachen. Ich gehöre nicht zu jenen Leuten, möchte die Herrschaften aber gerne kennenlernen …«

»Da in der Ecke sitzt ja eine ganze Gesellschaft – brauchen nicht erst lange zu suchen.«

»Das sind doch Studenten.«

»Meinen Sie denn, jene wären eine besondere Art von Menschen? Studenten sind's ja gerade. Um Ihnen die Wahrheit zu sagen – es sind gute Kerle, rechtschaffene … Daß sie andere aufwiegeln, kommt daher, weil in ihnen selbst alles in Aufruhr ist, sie selbst keine Ruhe finden, wie die Seelen der Verdammten. Wie viele von ihnen sitzen im Gefängnis! Und sie machen so, als wäre das nichts. Jeder andere würde die Sache unter diesen Umständen aufgeben, sie aber – man fängt sie ab, und sie scheren sich den Kuckuck darum: neue Scharen schießen empor, wie Pilze über Nacht, und setzen die Sache fort. Ich glaube wahrhaftig, daß sie sich für unsereins abmühen. Wenn sie noch jemand für ihre Mühen bezahlen würde, aber sie tun es ja freiwillig, ganz selbstlos! Das einfache Volk hat es schwer, und darum leiden wir auch, sagen sie, das Gewissen quält uns …«

Afanaßij kam in den Sinn, daß der Student, den er an Fenjas Seite gesehen hatte, gewiß auch zu jenen gehörte, deren Gewissen unter der Not des Volkes litt. Er müßte sehen, ihn kennenzulernen; vielleicht würde sich durch diese Bekanntschaft ein gelegentliches Zusammenkommen mit der kleinen Fenja ergeben.

Vorerst suchte er nach einer Unterkunft. Die erste Nacht schlief er bei Rjabin; in der zweiten Nacht bummelte er mit Mädeln von der Wassilij-Insel und kehrte am Morgen wieder bei Rjabin ein; so blieb er denn vorläufig bei ihm wohnen. Nach Arbeit hielt er noch nicht Ausschau – das Geld von Klimow war ja noch nicht verzehrt. Jeden Abend trieb er sich in Wirtshäusern herum, bemüht, solche Lokale aufzuspüren, in denen möglichst viele Studenten verkehrten; dann setzte er sich in ihre Nähe und lauschte auf die Gespräche der jungen Leute. Nach der Wassilij-Insel durchwanderte er auf diese Weise auch die Petersburger Seite, den Kleinen Prospekt, immer auf der Suche nach jenem Studenten. Um mitsprechen zu können, wenn es einmal so kommen sollte, las er eifrig Zeitungen und grübelte lange über jedes Wort nach. Die Studenten warfen ihm scheue Blicke zu; trat er heran und setzte sich neben sie, so verstummten sie oder begannen von nichtssagenden Dingen zu sprechen.

Einen ganzen Monat lang suchte er bereits in Wirtshäusern und Teestuben nach jenem Studenten. Die kleine Fenja wurde ihm immer teurer dabei: wenn sie mit solchen Menschen befreundet war, mußte auch sie auf Seiten jener stehen, die nach Recht und Wahrheit strebten.

Endlich entdeckte er ihn in einer Bierhalle auf der Kleinen Spasskaja Straße und setzte sich in seine Nähe. Einer der Studenten flüsterte seinen Freunden zu:

»Meine Herren, dieser Spitzel ist wieder da …«

Petrowskij sah sich um.

»Wo?«.

»Am Tisch neben dir, der Rothaarige – welch ein Scheusal! Ein Neuer …«

Petrowskij erkannte Afonka gleich und lächelte; das Lächeln galt nicht Kaljabin, sondern der Vermutung, daß er ein Spitzel sei. Er wandte sich an die Studenten:

»Das ist kein Spitzel, meine Herren, ich weiß es bestimmt.«

Afonka erwiderte das Lächeln und wandte sich an Petrowskij:

»Wenn ich nicht irre, sind wir Landsleute?«

»Ich glaube, ja.«

»Um es gleich zu sagen: schon seit einem Monat suche ich nach Ihnen in allen Wirtshäusern.«

»Sie suchen nach mir? Was wollen Sie von mir, Kaljabin? … Sie heißen doch Kaljabin?«

»Ja, Afanaßij Timofejewitsch Kaljabin. Ich habe kein eigentliches Anliegen an Sie, wohl aber ein besonderes Interesse an einer gewissen Sache. Wenn Sie eben nicht zu sehr in Anspruch genommen sind, setzen Sie sich vielleicht auf ein paar Minuten an meinen Tisch.«

Er klopfte und ließ zwei Flaschen Helles bringen.

Petrowskij lächelte wieder. Der Gedanke huschte ihm durch den Kopf, daß ihm offenbar das Schicksal selbst helfen wollte, hinter Fenjas Geheimnis zu kommen. Er setzte sich zu Afonka.

»Sehen Sie mal, Herr Student – Ihren Namen zu kennen, habe ich nicht die Ehre …«

»Nikodim Alexandrowitsch Petrowskij.«

»Also sehen Sie mal, Nikodim Alexandrowitsch, das Leben führt mich mancherlei Wege der irdischen Wanderschaft. Nie hätte ich geglaubt, in dieses Babel verschlagen zu werden, doch um Mitternacht ist mein Stern aufgegangen und hat mich meinem Bethlehem zugeführt, wie jene Könige aus dem Morgenlande – geradeswegs nach Petersburg, will ich sagen. Ich treibe mich hier nicht zwecklos umher, denken Sie das nicht von mir. Nein, jeder Mensch hat seinen Weg zu gehen, und ich gehe den meinen, wie ich ihn erkannt habe. Da möchte ich Ihnen gleich sagen, daß ich an ein Schicksal nicht glaube, sondern ich schmiede mir – wie es in Büchern heißt – mein Schicksal selbst. Ich selbst habe auch meinen Stern entdeckt – dort leuchtet er mir« – er wies mit dem Finger in eine unbestimmte Richtung, halb auf die Decke, halb zur Tür hin.

»Er wandelt dahin auf seinem Wege, und ich folge ihm … Noch als ich in Klimows Wirtshaus saß, unter dem lärmenden Volk, das vom Markt hereinströmte und hart miteinander um jede Kopeke rang, habe ich Unrecht über Unrecht gesehen. Allein schon mein Großkaufmann ist eine Nummer … Wenn Sie wüßten! Der zieht den Menschen den letzten Zehner aus der Tasche, bloß daß er sie nicht erwürgt – wenn es anginge, würde er auch davor nicht zurückschrecken …«

»Schließlich hat er's ja auch getan, ich weiß nur nicht recht, aus welchem Grunde.«

Afonka, in seine Gedanken vertieft, achtete kaum auf Petrowskijs Bemerkung und fragte nur so nebenbei, in der Meinung, der Student bekräftige seine Ausführungen:

»Was hat er getan?«

»Einen Menschen erwürgt …«

»Erwürgt?! Wen denn?«

»Aber doch seine Frau, Marja Karpowna … Wissen Sie denn das nicht?!«

Er sah Afonka prüfend an: wußte er es wirklich nicht oder stellte er sich bloß so? Kaljabin fuhr zusammen und begann vor Verwirrung hastig die Gläser zu füllen.

»Marja Karpowna hat er erwürgt? … Aber warum denn?«

Es klang fast wie ein Aufschrei. Um seine Erregung zu verbergen, verschüttete er Bier und gab sich den Anschein, als hätte ihn seine Ungeschicklichkeit erschreckt.

»Ach Himmel, da habe ich alles daneben gegossen! … Ja, also … Sie war eine liebe Frau, gütig …«

Um Afonka noch mehr zu verwirren und ihn dadurch wenn nicht zu Vertraulichkeit, so doch zu größerer Offenheit zu veranlassen, beugte sich Petrowskij zu ihm und sagte langsam im Flüsterton, als fürchtete er, die Leute an den Nachbartischen könnten ihn hören:

»Man sagt, er hat es aus Eifersucht auf Sie getan, Kaljabin …«

Afonka streckte wieder die Hände aus, packte sein Glas und trank es mit geschlossenen Augen in einem Zuge leer.

»Aus Eifersucht auf mich? … Aber wer hat ihm denn gesagt …«

»Sie meinen, wer ihm die Sache erzählt hat? …«

»Ja, ja, das gerade meine ich – angenommen, daß etwas zwischen uns gewesen wäre (was ja keineswegs der Fall ist) – wer hat ihm denn von solchen geheimen Dingen berichten können? …«

»Von seinem Dienstmädchen hat er es erfahren; nachher hat das Mädchen dann auch einem Arzte alles ausführlich erzählt.«

»Einem Arzte? Wieso einem Arzte?«

»Weil … Aber wissen Sie denn auch davon nichts, Kaljabin?«

Wieder sah er Afonka prüfend an. Während er sprach, wurde ihm klar, daß Kaljabin wirklich nichts von den Vorfällen gewußt hatte – vielleicht hatte er sich gerade deshalb aus dem Staube gemacht, um den Ereignissen zu entgehen …

»Weil der alte Klimow, nachdem er seine Frau ermordet hatte, in seinem Zimmer unter einem Schlaganfall zusammengebrochen ist; er liegt gelähmt da, kann keinen Finger rühren, hat die Sprache verloren …«

Die Nachricht kam ihm so unerwartet, daß Afonka die Fassung verlor; er riß die Augen auf und streckte die Arme komisch vor, die Handflächen nach oben gekehrt.

»Er? Der Kaßjan? Schlaganfall …«

»Ich sehe jetzt, daß Sie wirklich von nichts gewußt haben.«

»Bei Gott, ich hatte keine Ahnung.«

Petrowskijs Kameraden sahen sich ungeduldig nach ihm um und warfen ihm und dem rothaarigen Burschen im blauen Kaftan verwunderte Blicke zu; schließlich blickten sie auf die Uhr.

Petrowskij stand auf, setzte sich aber gleich wieder, wie unter dem Zwang eines plötzlichen Gedankens. Die Gelegenheit, vielleicht etwas von der kleinen Fenja zu erfahren, wollte er sich nicht entgehen lassen. Er wandte sich zu seinen Freunden um:

»Geht allein, meine Herrschaften, ich komme später nach.«

Afonka hatte sich inzwischen gesammelt, ordnete seine Gedanken und lächelte insgeheim bei der Vorstellung, daß der alte Klimow stumm und hilflos darniederlag. Da würden auch seine Geschäfte still liegen und das Verschwinden des Wechsels nicht so bald bemerkt werden. Als Petrowskij wieder näher an ihn heranrückte, um das unterbrochene Gespräch fortzusetzen, gab sich Afonka den Anschein treuherziger Offenheit und sagte:

»Das sind mir Sachen! … Aber ich will mit meiner Erzählung fortfahren. Sie eilen; ich werde mich kurz fassen. Wenn es denn schon so gekommen ist, daß Sie mir die Nachricht als erster mitgeteilt, mich damit ganz verstört haben – ich hätte nie gedacht, daß es dazu kommen könnte – so will ich auch zu Ihnen offen und ehrlich sprechen. Es hat wirklich zwischen mir und der Frau des Kaufmanns etwas gegeben, aber auch mit ihrem Dienstmädchen, der Dunja, habe ich gelebt, und die hat dann wohl aus Eifersucht dem Alten die Augen geöffnet. Ich aber suche einen ganz anderen, meinen eigenen Weg … Ich will dahinterkommen, warum das einfache Volk verurteilt ist, solch ein Hungerleben zu führen; nach der Wahrheit strebe ich … Man hat mir gesagt, die Studenten könnten mir da helfen, und da habe ich denn an Sie gedacht. Daß Sie in Petersburg sind, wußte ich, ich habe Sie ja in Moskau auf dem Bahnhof gesehen, auch schon früher einmal, bei Fjokla Timofejewna, als ich in Geschäften zu dem Herrn Ingenieur kam. Also die Wahrheit will ich wissen: warum darf ein Mensch den anderen ungestraft bis aufs Blut aussaugen und wird schwer und fett dabei, ebenso wie sein Geldbeutel? Und warum darf der einfache Mann nicht einmal den Mund aufmachen, wenn er nicht ins Kittchen kommen will?«

»Sprechen Sie deutlicher, Kaljabin. Was wollen Sie von mir?«

»Ich möchte den Menschen, die für die Wahrheit einstehen, behilflich sein, Nikodim Alexandrowitsch. Vielleicht kennen Sie solche Menschen und könnten mich mit ihnen bekannt machen?«

»Eben habe ich keine Zeit; wenn Sie wollen, können wir ein anderes Mal darüber sprechen. Vielleicht finden wir jemand, der Ihren Erwartungen entspricht. Ich selbst kenne solche Menschen nicht, will aber bei meinen Kameraden nachfragen.«

Wenn Afonka auch kein Spitzel war, so fürchtete Petrowskij doch, er könnte im Wirtshaus vor dem ersten besten alles ausplaudern, was er über die »Wahrheit«, wie er es nannte, erfahren würde, nicht aus Dummheit – daß Kaljabin nicht dumm war, hatte Petrowskij sehr wohl gemerkt –, sondern aus Unerfahrenheit: ein Spitzel könnte im Handumdrehn alles aus ihm herausbringen, was er wissen wollte, und ihn so ins Bockshorn jagen, daß Kaljabin nicht mehr aus noch ein wissen würde und leicht zu Spionagediensten mißbraucht werden könnte. Andererseits wollte er Kaljabin nicht ohne weiteres fallen lassen; der Mann kannte das Volk und konnte unter gewissen Voraussetzungen nützlich sein; außerdem hoffte er durch ihn zu erfahren, warum die kleine Fenja bei seinem Anblick so erschrocken war.

Petrowskij wollte aufbrechen, doch Afonka bestellte noch zwei Flaschen Bier, schenkte ein und sagte:

»Nikodim Alexandrowitsch, zur Feier unserer Bekanntschaft lassen Sie uns noch eins trinken. Ich will Sie nicht mehr lange aufhalten. Ich darf wohl sagen, daß ich jetzt auf dem rechten Wege zu meinem Stern von Bethlehem bin; wenn ich ihn gefunden habe, bin ich in Bethlehem …«

Petrowskij, seinen Gedanken nachhängend, trank hastig, um schneller von Kaljabin loszukommen. Um etwas zu sagen, fragte er:

»Was meinen Sie damit, Kaljabin? Ihr Stern von Bethlehem – ist das ein bestimmtes Ziel, das Sie ins Auge gefaßt haben, ein Ideal, das Ihnen vorschwebt?«

»Aus Gewohnheit, noch vom Kloster her, spreche ich noch immer wie ein Mönch. Die Sprache der Städter ist mir noch fremd, trotzdem ich die letzten zwei Jahre in der Stadt gelebt habe.«

»Waren Sie denn Mönch?«

»Ja … Novize …«

Petrowskij dachte: Der rothaarige Mönch … Lag hier der Schlüssel zu Fenjas seltsamer Veränderung nach der Begegnung mit Kaljabin?

»Ich war noch nie in einem Kloster … Ich wüßte nicht recht, was ich da hätte anfangen sollen …«

»Da haben Sie recht, Klosterbesuche sind nichts für einen Mann.«

Vielleicht war Kaljabin nahe daran, etwas Wichtiges zu sagen, das, worauf es ihm, Petrowskij, ankam; er wollte versuchen, ihn zum Sprechen zu bringen.

»Und warum sollen Frauen Klöster besuchen – um zu beten?«

»Ja, um zu beten.«

»Kommen auch Damen aus der Stadt?«

»Doch, meist aber einfaches Volk.«

»Man sagt, die Mönche machen den Wallfahrerinnen oft den Hof?«

»Davon weiß ich nichts, zu uns kam meist nur Bauernvolk.«

Afonka spürte, daß Petrowskij ihn nicht zufällig über das Leben im Kloster ausfragte. Eben noch hatte der Student Eile gehabt, möglichst schnell fortzukommen, jetzt goß er selbst wieder die Gläser voll. Er ahnte, daß Petrowskij wohl Näheres über Fenjas Aufenthalt im Kloster erfahren wollte. Vielleicht hatte er darüber munkeln hören, wußte aber nichts Bestimmtes und stellte ihm darum Fragen. Afonka war auf der Hut; kein Wort würde er über sein Kloster sagen.

»Vielleicht gibt's das in den Klöstern Troizk und Kijewo-Petschersk … Dahin kommen allerlei Leute, mit der Bahn und zu Fuß, und die Mönche dort sind anders als bei uns, bekommen ein Gehalt vom Kloster, ihre Arbeit aber besteht darin, daß sie den Wallfahrern was vorerzählen zum größeren Ruhme ihres Klosters. Bei uns aber heißt's – büßen und beten …«

Petrowskij begriff, daß er sich übereilt hatte; nicht gleich beim ersten Male hätte er damit beginnen sollen, sondern gelegentlich später einmal. Es war klar, daß eben aus Kaljabin nichts weiter herauszubringen war, nicht umsonst war er Mönch gewesen. Petrowskij trank sein Glas aus.

»Ein anderes Mal erzählen Sie mehr über das Klosterleben, Kaljabin. Wenn ich auch niemals in einem Kloster war, so interessiert es mich doch, was diese Nichtstuer treiben. Ich hatte darüber ganz vergessen, daß ich gehen muß …«

»Gern erzähle ich Ihnen davon, Nikodim Alexandrowitsch, weshalb nicht! … Ich hätte viel Interessantes zu berichten … Also bis zum nächsten Male.«

Sie verließen zusammen das Wirtshaus und trennten sich auf den Stufen beim Laternenschein. Wieder wie damals fühlte Afonka, daß sie Feinde seien, Feinde um der kleinen Fenja willen, und beschloß dem Studenten nichts von ihr, vom Kloster, von Nikolka und Marja Karpowna zu erzählen. Es war besser, in Fenja nicht die Meinung aufkommen zu lassen, er habe über sie geklatscht; etwas anderes sollte ihn mit Petrowskij verbinden, das würde ihm mehr bei ihr nützen.

An den beiden folgenden Abenden wartete Afonka in derselben Schenke an der Kleinen Spasskaja Straße, bis das Lokal geschlossen wurde; doch erst am Sonnabend erschien Petrowskij wieder. Wie das vorige Mal kam er in Gesellschaft von Studenten, setzte sich aber gleich an Afonkas Tisch und fragte gerade heraus: »Sagen Sie mir die Wahrheit, Kaljabin; sind Sie bestimmt kein Spion, kein Polizeispitzel?«

»Nein, Nikodim Alexandrowitsch, bei Gott nicht.«

»Ich glaube Ihnen. Hören Sie zu: Wenn Sie mit Menschen zusammenkommen wollen, die, um Ihr Wort zu gebrauchen, der Wahrheit dienen, müssen Sie vor allem sehen, Arbeit zu finden, damit Sie keinen Verdacht erregen. Wenn Sie ohne Beschäftigung in der Stadt herumbummeln, lenken Sie die Aufmerksamkeit auf sich. Lassen Sie sich irgendwo in einer Fabrik anstellen.«

»Was sollte ich denn da machen, Nikodim Alexandrowitsch? Ich verstehe ja nichts anderes, als hinter dem Schenktisch zu sitzen …«

»Treten Sie bei Leßner ein, in der Wiborger Vorstadt. Kraft haben Sie ja eher zuviel als zuwenig – lassen Sie sich als Hammerschwinger einstellen, das ist bald gelernt. Sehen Sie sich Ihre neuen Kameraden genau an, horchen Sie auf ihre Gespräche, nachher reden wir dann weiter. Ich bin des Samstags abends immer hier. Sie müssen sich als Arbeiter aber anders kleiden, in Ihrem langen Kaftan sehen Sie aus wie ein Kaufmann.«

Petrowskij hatte auf einer Parteiversammlung von Kaljabin erzählt und darauf hingewiesen, daß dieser das einfache Volk gut kenne; er könnte sich darum als nützlich erweisen, von der Stimmung in Arbeiterkreisen berichten, auch zu allerlei Aufträgen verwendet werden. Es war beschlossen worden, Kaljabin auf seine Tauglichkeit hin zu prüfen, aber ihn einstweilen nicht in die revolutionären Kreise einzuführen. Mit der Zeit würde er sich selbst zurechtfinden. Petrowskij, der die Verantwortung für Kaljabin tragen sollte, erhielt den Auftrag, ihn anzuleiten.

Bei einem Alttrödler auf der Sennaja Straße tauschte Afonka seinen Kaftan gegen Rock und Weste ein, behielt aber seine hohen Stiefel und seine Mütze, und ging in die Wiborger Vorstadt.

Afonka bekam eine blaue Schürze um, einen Hammer in die Hand und wurde in die Werkstatt geführt, wo er Eisenstangen plattschlagen mußte. Nach zwei Tagen war er schwarz von Rauch und Ruß, die in jedes Fältchen drangen und sich in die Haut einfraßen, und begann auf die Gespräche seiner Arbeitsgenossen zu lauschen. Mit seinen neuen Freunden besuchte er Kneipen und Teestuben, wo er Zeitungen las, meist in dem Wirtshaus »Treffpunkt für Freunde«. Er wohnte jetzt zusammen mit einem Schlosser in einem kleinen Zimmer, lebte bescheiden; von dem Klimowschen Gelde nahm er nur, um seine Freunde zu bewirten, hatte ihm Petrowskij doch eingeschärft, den Genossen auf den Zahn zu fühlen.

Wenn man zu zweien in einem Zimmer wohnt, macht man zusammen Jagd auf Wanzen und verbringt auch seine Mußestunden zusammen.

»Wird's dir sauer, Afanaßij?«

»Das Kreuz tut einem weh; am Abend kriegt man den Rücken nicht mehr gerade, es zieht einen krumm …«

»Sein Brot verdient sich unsereiner wahrlich im Schweiße seines Angesichts …«

»Ja, arbeiten tun wir schon …«

»Die einen arbeiten, die anderen gehen auf dem Newskij spazieren …«

So hatte ihr erstes Gespräch begonnen, daraufhin hatten sie Freundschaft geschlossen. Bald begann der Schlosser ihm des Abends Flugblätter und Broschüren zum Lesen zu geben.

»Lies das mal durch, Afanaßij; da wirst du gleich merken, woran es hapert. Arbeiten soll der Mensch … gewiß, ohne Arbeit ist der Mensch nichts … Aber Arbeit macht einem nur dann Freude, wenn man dafür auch seine Rechte hat und anderen gleichgestellt ist … Dem Kapital müssen Fesseln angelegt werden, sonst verdient der Bourgeois, der Besitzer, der Aktionär seine zweihundert Prozent durch unserer Hände Arbeit und fährt im Auslande spazieren. Es ist so, wie es im Lied heißt: ›Sie mästen sich an unserm Schweiß‹.«

»Wer stark ist, dem gehört die Welt, und wer Geld hat, der ist stark …«

»Das wollen wir erst mal abwarten, wer der Stärkere ist, jene, die das Geld haben, oder jene, die keins haben … Nimm diesen Krieg, Afanaßij: wer von uns hat einen Vorteil davon, daß sie mit den Japanern Krieg führen? Was gehen uns die Japaner an? Da hieß es: Wir begraben sie unter unseren Mützen 10; es stellt sich aber heraus, daß man mit Mützen allein nicht weiter kommt, sondern auch Geschütze nötig sind.«

In den Werkstätten führten die Arbeiter ähnliche Reden. Allmählich, Tropfen um Tropfen, durchdrangen solche Ansichten auch Afonkas Vorstellungswelt. Wenn man Minister totschlug, so hatten sie es reichlich verdient – da mußte er, Afonka, zum Beispiel mit schmerzendem Kreuz umherlaufen, selbst seine Riesenkraft genügte noch nicht, um das zu leisten, was verlangt wurde! Jeden Schutzmann begann er zu hassen und sich überall vorsichtig umzusehen: vielleicht horchte jemand, vielleicht könnte ihn jemand bei der Polizei anschwärzen! Den Werkmeister betrachtete er, wie die übrigen Genossen, mit scheelen Blicken; der dachte wohl nur an den Vorteil des Chefs. Im Kloster, auf dem Ausspannhof, im Wirtshaus war er jahraus, jahrein mit den verschiedensten Leuten zusammengekommen, aber erst seit er auf der Fabrik arbeitete, waren ihm die Augen aufgegangen: solch eine Sträflingsarbeit hatte er bisher nicht gesehen … Des Sonnabends ging er, rußbedeckt und ölbeschmiert, gleich von der Fabrik in das Wirtshaus an der Kleinen Spasskaja, bestellte sich zwei Flaschen Bier und wartete auf Petrowskij.

»Na, was haben Sie gehört, Afanaßij Timofejewitsch?«

»Was ich gehört habe? Immer dasselbe, wer auch sprechen mag. Jeder hängt denselben Gedanken nach. Welchen, wissen Sie ja.«

»So will ich Ihnen denn jetzt sagen – von der Partei werden Sie ja bereits gehört haben – auch ich gehöre zur Partei. Ihnen hat ja die Arbeit im Handumdrehen die Augen geöffnet; nicht wir haben das getan, sondern die Verhältnisse.«

»Geben Sie mir Parteiarbeit; ich stehe schon meinen Mann.«

»Arbeit können wir Ihnen noch nicht geben, das kommt mit der Zeit, gedulden Sie sich. Aber wenn Sie diese Flugblätter gegen den Krieg in Ihrer Werkstatt unbemerkt verstreuen könnten, so wäre uns damit gedient; das ist auch Parteiarbeit. Aber geben Sie acht, seien Sie vorsichtig; Sie wissen ja selbst, als Genosse gilt nur, wer zur Partei gehört; auf die übrigen ist kein Verlaß.«

»Könnte ich nicht auch in die Partei eintreten?«

Am nächsten Sonnabend wurde er unter dem Spitznamen »Der Mönch« in die Partei aufgenommen, unter Petrowskijs Verantwortung, der für ihn gebürgt hatte. Unberührt geblieben von den neuen Erlebnissen war nur Afonkas Schwäche für die Mädel; jene der Wiborger Vorstadt suchte er zuweilen auch in Gesellschaft seines Freundes, des Schlossers, auf; er machte sich auch an die Arbeiterinnen der nahegelegenen Trikotagenfabrik heran, aber mit wenig Erfolg; es fehlte ihm an Zeit, um sich eingehender mit ihnen abzugeben; auch schreckte sie der rothaarige Unhold in der blauen Mütze, die er noch von den Klimowschen Zeiten her trug.

In den Werkstätten wurde davon getuschelt, daß das Volk beabsichtige, sich an den Zaren zu wenden11, in hellen Haufen zu ihm zu ziehen, um ihn um Hilfe und Erbarmen zu bitten – wie es in früheren Zeiten üblich gewesen war – mit Kreuzen und Kirchenbannern, von einem Priester geleitet, dem Zaren eine Bittschrift zu überreichen und sich über die Minister und die Generale zu beschweren.

Afonka erzählte davon Petrowskij, mit dem er als seinem Bürgen regelmäßig zusammenkam.

»Ich weiß, Mönch; ich weiß auch, daß es zu nichts führen wird; trotzdem muß es geschehen, damit einmal angefangen wird. Dies ist ein Anfang. Das ist noch nicht versucht worden. Wie es ablaufen wird, wissen wir selbst nicht. Es muß aber ein Stoß kommen, um die Sache in Gang zu bringen; nachher breitet es sich dann aus wie eine Überschwemmung.«

Wenn die starken Fröste um die Weihnachtszeit das werktätige Volk in die Wirtshäuser und Kneipen treiben, wo die Leute beim Schnarren eines heiseren Grammophons hinter einer Flasche Bier sitzen, um in ein warmes, erleuchtetes Zimmer und unter Menschen zu kommen, statt in dumpfer Schwermut in ihren rußgeschwärzten Winkeln zu hocken, dann lösen sich die Zungen, werden die Gespräche freier und ungehemmter. Im Licht der zischenden Azetylenlampe wird es auch in der Seele lichter; die Hoffnung auf ein besseres Leben erwacht.

Durch die Kneipen und Schenken zog das Gerücht, das Volk beabsichtige zum Zaren zu gehen, um sich vor dem Selbstherrscher zu verneigen und ihn um die Gnade zu bitten, er möge die übermütigen großen Herren und Minister zur Ordnung rufen. In allen Herzen glomm Hoffnung auf Erfolg; das war noch nicht versucht worden; vielleicht gelang es. Im Volk lebte noch die Erinnerung an die märchenumwobene Zeit, da die Moskauer Zaren schuldig Befundene eigenhändig verprügelten, selber zu Gericht saßen und mit Leuten aller Stände über deren Nöte sprachen. Es würde sich alles schon wieder einrenken lassen, denn – wie das Sprichwort sagt – weiß der Zar erst die Wahrheit, so bricht die Sonne wieder aus den Wolken hervor. Niemand hatte den Tag bestimmt; eines Sonntagmorgens geschah es ganz von selbst, wie es im Märchen heißt, daß das Volk von allen Seiten dem Winterpalais zuströmte, bis zur Heiserkeit »Herrgott, erlöse die Menschen dein« singend. Verzweiflung veranlaßte die Leute ununterbrochen das Gebet zu singen, damit die Angst sie nicht überwältige und sie zurückdränge in ihre armseligen Behausungen.

Vom frühen Morgen an irrte auch Afonka durch die Straßen, um sich die Menschen anzusehen. Nach einer Zusammenkunft mit Petrowskij in unmittelbarer Nähe von dessen Wohnung, schritt Afonka aus ihm selber unklaren Gründen noch eine Weile auf der Kleinen Spasskaja Straße auf und ab, als warte er auf jemand. Und es fügte sich so, daß sein Warten nicht vergeblich war; die kleine Fenja trat aus einer Pforte gleich neben jener Bierhalle, in der Afonka sich mit Petrowskij des Sonnabends zu treffen pflegte. Beim ersten Blick meinte er, sie erkannt zu haben, lief auf die andere Seite und eilte ihr nach; sie war es wirklich. In einiger Entfernung folgte er ihr, bloß weil er seinem Stern von Bethlehem näher sein wollte. Auch Petrowskij wohnt wohl hier, dachte er; wenn nicht in einem Hause mit ihr, so doch in der Nähe; darum besucht er auch jene Schenke. Auch die kleine Fenja wollte sich die Sache ansehen, trotzdem Petrowskij sie am Abend vorher gebeten hatte, zu Hause zu bleiben; aus zuverlässiger Quelle sei ihm bekannt, daß die Demonstranten ein schlimmer Empfang erwarte; darum beteilige sich auch fast niemand von der Partei an dem Zuge, bloß einige Beobachter seien hinbeordert worden. Die kleine Fenja beachtete die Warnung nicht; sie hatte noch niemals eine Massendemonstration gesehen und war neugierig. Beim Anblick der frohen, hoffnungsvollen Gesichter der dahinströmenden Menge wurde auch ihr froh und licht ums Herz, zumal es ein klarer sonniger Tag war, was die Stimmung noch erhöhte. Auf dem Konnogwardejskij-Prospekt wurde die Menge dichter und zugleich auch die Reihen der Schutzleute, die in ihrem besten Zeug ebenfalls strahlten und den Kosakenabteilungen blinzelnd zulächelten. Afonka hielt sich jetzt nur drei Schritte hinter der kleinen Fenja, um sie nicht aus dem Auge zu verlieren. Auch sein Gesicht strahlte festtäglich, während er die vor den Torwegen stehenden Hausknechte musterte, deren Messingschildchen auf der Brust glänzten wie die Knöpfe der Offiziere bei einer Truppenschau. Gedankenlos schlenderte Afonka hinter der kleinen Fenja durch die Menge, in der jeder dem anderen zugleich Feind und Freund ist.

Von der Millionnaja Straße kommend, traten sie unter den Bogen der Senatoren und blieben etwas abseits stehen; in einiger Entfernung rauschte Betgesang über den Köpfen der grauen Menge. Einer dichten Mauer gleich war sie bis zur Alexandersäule vor dem Zarenpalais vorgedrungen und wäre noch weiter gerollt, doch die Granitsäule versperrte ihr den Weg – als Grenze menschlichen Begehrens und eitler Hoffnungen.

Die Menge verdeckte vor der kleinen Fenja und Afonka die Bajonette der Soldaten; hinter der barhäuptig Gebete singenden Menschenmasse sahen sie nicht die in Anschlag gebrachten Gewehre, hörten nicht die verhängnisvollen Worte:

»Kompanie … Feu-er!«

Sie hörten nur das tierische Aufheulen der zurückdrängenden Menschen. Wie ein Funken stob es durch die Reihen: »Rette sich, wer kann!« Unter demselben feierlichen Bogen hindurch liefen sie auf den Newskij hinaus, bogen aber hier nicht zur Admiralität ab, weil auch von dort her schreiende Massen heranströmten, sondern nach der Kasaner Kathedrale. Afonka, der sich dicht neben Fenja hielt, schonte seine Ellenbogen nicht, stieß in die Quere Kommende beiseite und schützte das junge Mädchen mit seinem Körper vor den von hinten heranflutenden Scharen, die von Kosaken verfolgt wurden, deren schwere Lederpeitschen auf die Köpfe und Rücken der Fliehenden niedersausten. Afonka stolperte, wurde dabei beiseite gedrängt und sah, wie der kleinen Fenja der Hut durch eine Kosakenpeitsche heruntergerissen wurde und wie sie in Erwartung eines zweiten Schlages den Kopf duckte. Er warf seinen schweren Wintermantel ab, war mit einem Sprung an ihrer Seite und deckte sie mit seinem breiten Rücken. Die herabsausende Peitsche traf statt ihres Kopfes seine Schulter, fraß sich durch Kleider und Haut bis auf den Knochen durch und riß, jäh zurückgeschnellt, Fleischfetzen mit heraus. Afonka spürte keinen Schmerz, schob die Hände unter Fenjas Achseln und bugsierte sie vom Fahrdamm auf den Bürgersteig und weiter in eine Nebenstraße, wobei er sie halb emporhob, so daß sie im Laufen nur mit den Zehenspitzen den Boden berührte. Erst im halbdunklen Torweg eines gelben fünfstöckigen Amtsgebäudes blickte er sich um und blieb vor Schmerz stehen: beim Laufen mit ausgestreckten Armen wurde die Wunde durch die blutdurchnäßte Kleidung gerieben.

Während sie lief, hatte Fenja nichts mehr von all dem wahrgenommen, was um sie her vorging, nur den einen Gedanken im Kopf: Fliehen! Im Gedränge war ihr ein Strumpfband aufgegangen und der Strumpf bis an den Knöchel herabgeglitten, ohne daß sie es gemerkt hätte; ihre Haare hatten sich unter dem Hieb, der ihr den Hut vom Kopf riß, gelöst und waren vom Laufen zerzaust. Als ihr Retter stehen blieb, wandte sie sich, vor Schreck und Entsetzen halb benommen, zu ihm um, schlang schnell die Arme um seinen Hals und küßte ihn mit geschlossenen Augen auf die stopplige Wange, wobei sie sich die Lippen zerstach.

»Sie haben mir das Leben gerettet; danke, Kamerad.«

Kamerad hatte sie ihn genannt – wie einen Studenten!

»Schicksal, Fenitschka!«

Vor Überraschung, sich beim Namen genannt zu hören, fuhr die kleine Fenja zusammen und schlug erschrocken die Augen zu ihm auf, während ihre Finger etwas Nasses, Klebriges an ihrer Handfläche abtasteten. Wie erwachend sagte sie:

»Er! Sie sind es, Sie, Afanaßij Kaljabin! …«

»Ja, Fjokla Timofejewna – es ist wohl Schicksalsfügung …«

Ihre Finger tasteten noch immer hilflos die nasse Handfläche ab; verwirrt hob sie die Hand, blickte diese, dann Kaljabin an.

»Blut, sehen Sie, Blut … Woher kann das kommen?«

Sie entsann sich, daß sie Kaljabin die Hände auf die Schultern gelegt hatte, als sie sich zu ihm emporreckte und ihn küßte.

»Es kommt gewiß von Ihnen, Kaljabin, Sie müssen verwundet sein …«

»Stimmt, Fjokla Timofejewna.«

Er strich mit den Fingern prüfend über die Wunde, die Zähne zusammenbeißend, um nicht aufzustöhnen. Leise sagte er:

»Macht nichts, das vergeht schon wieder … Bis auf die Knochen …«

Schweiß trat ihm auf die Stirn, als er die frierende Achsel bewegte. Während des Laufens hatte er geschwitzt, im Stehen fror ihn jetzt, und an der Schulter nagte der Schmerz.

»Sie sind ohne Mantel?«

»Ich habe ihn während der Flucht abgeworfen, er störte beim Laufen.«

»Man müßte Ihnen einen Verband anlegen … Einen Verband …«

Suchend blickte sie an sich hinab, bemerkte den hinabgeglittenen Strumpf und errötete. Dann aber knöpfte sie entschlossen ihren Pelz auf, brachte den Strumpf in Ordnung und riß von ihrem Unterrock einen Streifen und von diesem den Spitzenbesatz ab, den sie fortwarf. Im halbdunklen Torweg des stummen Hauses legte sie ihm, die warmen Hände unbeholfen unter sein Hemd steckend, einen notdürftigen Verband an und half ihm dann behutsam wieder in seinen Rock. Vor Erregung und Kälte klappten ihre Zähne nervös gegeneinander.

Auf Umwegen, durch unbekannte Straßen, suchten sie die Kleine Spasskaja zu erreichen; beide froren. Durch die überstandenen Schrecken und die Begegnung mit Kaljabin noch immer verstört, dachte die kleine Fenja nicht daran, eine Droschke zu nehmen. Als sie an einer Schenke vorübergingen, blieb Afonka plötzlich stehen, als wäre ihm etwas Wichtiges in den Sinn gekommen, und sagte:

»Warten Sie hier … Ich bin gleich wieder da.«

Nach wenigen Augenblicken kam er, eine halbe Flasche Branntwein in der Hand, aus dem Wirtshaus geeilt.

»Trinken Sie. Sie müssen warm werden.«

Wortlos, gleich einem Befehl, kam Fenja seiner Aufforderung nach und trank ein paar Schluck, die ihr die Kehle versengten; hustend reichte sie ihm die Flasche zurück.

»Mehr kann ich nicht.«

»Das reicht für Sie, ich trinke den Rest.«

Ganz heiß wurde es der kleinen Fenja in der Brust, so daß ihr der Atem stockte. Dann aber schritt sie munterer neben Afonka einher.

Über den Litejny Prospekt und dann wieder durch verlorene Gassen strebten sie der Petersburger Seite zu.

Nach einer Weile bemerkte Afonka, daß sich die kleine Fenja nur noch mit Mühe vorwärts bewegte. Stumm schlang er den Arm um ihren Rücken und schob ihr die Hand unter die Achsel. So gestützt, ging es besser, wenn auch seine Wunde dabei heftiger schmerzte.

Die kleine Fenja, die sich sehr schwach fühlte, fügte sich schweigend. Als sie schließlich die Kleine Spasskaja erreichten, sagte sie leise:

»Als wir vom Newskij flüchteten, haben Sie mich beinahe getragen …«

»Wenn es nötig wäre, würde ich Sie auf den Armen tragen, wohin Sie nur wollten.«

Schweigend setzten sie ihren Weg fort und kamen an jener Schenke vorüber, in der Afonka sich des Sonnabends mit Petrowskij zu treffen pflegte. Zwei Häuser weiter blieb die kleine Fenja stehen.

»Ich danke Ihnen, Kaljabin … Sie haben mich gerettet …«

»Schicksal, Fjokla Timofejewna – zum zweiten Male … Nun muß ich es noch ein drittes Mal tun.«

»Ich wohne hier … Leben Sie wohl.«

Wieder nannte er sie mit ihrem Kosenamen:

»Leben Sie wohl, Fenitschka …«

Er warf einen Blick auf die Haustür und schritt, in Gedanken über sein Schicksal vertieft, mit gesenktem Kopfe davon, beglückt durch ihren Kuß, den er noch auf seiner unrasierten Wange spürte.

Die kleine Fenja, die sich wieder ganz schwach fühlte, stieg mit Anstrengung die zwei Treppen hinauf, und während sie mühsam Stufe um Stufe erklomm, dachte sie an Afonkas ungeheure Kraft, der sie sich unwillkürlich gefügt hatte, als sie durch die einsamen Gassen schritten; ihr kam sogar der Gedanke, daß man unter dem Schutz eines solchen Menschen niemals für sein Leben zu fürchten hätte. Bei dem Gedanken an den Wechsel und Kaljabins Handkuß zuckte sie zusammen, obwohl sie den unangenehmen Fleck an ihrer Hand nicht mehr spürte; ein Tag wie dieser konnte einen selbst mit so unheimlichen Dingen aussöhnen. Obwohl sie in ihrem Zimmer Petrowskij vorfand, der auf sie wartete, warf sie sich, nachdem sie den Pelz abgestreift hatte, erschöpft auf ihr Bett und erzählte kurz, abgerissen, das Gesicht halb in die Kissen vergraben, flüsternd und oft zusammenschauernd, von ihren Erlebnissen.

»Und wissen Sie, wer mich gerettet hat?«

»Wer, Fenja?«

»Kaljabin … Er, er hat mir das Leben gerettet! … Mit seinem Leibe hat er mich gedeckt und den fürchterlichen Hieb aufgefangen.«

Nur daß sie ihn geküßt und er sie gezwungen hatte, Schnaps zu trinken, verschwieg sie. Dann lag sie still und stumm da und wartete; vielleicht würde Nikodim zu ihr treten, sie umarmen, sie leise küssen; so müde und hilflos fühlte sie sich; ganz verstört war sie; er würde sie wieder aufrichten und das aufdringliche Bild des rothaarigen Mönches verscheuchen.

Und da er nicht kam, nicht gleich kam, wie ihre Seele, entblößt und erschüttert durch das Erlebte, sich sehnend auftat, sagte sie, die aufsteigenden Tränen zurückdrängend, ins Kissen hinein:

»Gehen Sie … Ich bin müde und möchte schlafen.«

»Ich komme morgen wieder mit heran, Fenitschka.«

»Ja … Morgen …«

Vor Enttäuschung, daß er den Augenblick nicht wahrgenommen hatte, da ihre Seele sich nach Hingabe sehnte, da er sie durch ein Wort, eine kleine Liebkosung, für immer hätte gewinnen, zu seinem Geschöpf machen können, schluchzte sie verzweifelt in die Kissen. Warum war er es gewesen, wieder er, der rothaarige Mönch, der sich zwischen sie und den Tod geworfen hatte, und nicht der Geliebte, der Ersehnte!

10 »Wir begraben sie unter unseren Mützen«: Volkstümliche Redensart, deren Sinn etwa ist: Wir sind ein so ungeheuer großes Volk, daß wir nur unsere Mützen nach dem Feinde zu werfen brauchen – er würde unter der Last ersticken, wie unter einer Lawine begraben.

11 »das Volk beabsichtige, sich an den Zaren zu wenden usw. ...«: Gemeint ist der historische Zug der revolutionären Elemente der Hauptstadt zum Winterpalais unter der Führung des Priesters Gapon am 9. Januar 1905. Die Demonstranten wurden durch Schüsse zerstreut. Der Tag gilt als Beginn der russischen Revolution.

Frauen & Mönche (Historischer Roman)

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