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Prolog: Ein „globozentrisches“ Weltbild
ОглавлениеEine Welt der Krisen?
Wir haben es heute mit drei großen Krisen zu tun, so der prominente US-amerikanische Zukunftsforscher Jeremy Rifkin1:
• erstens mit dem Ende der zweiten industriellen Revolution und der Krise jener Globalisierung, die darauf aufbaut;
• zweitens mit dem Ende des fossilen Zeitalters und der Energiekrise;
• und drittens mit dem Klimawandel, der die menschliche Zivilisation auslöschen könnte.
Dennis Meadows, US-amerikanischer Systemforscher, sah bereits in den 1970er-Jahren deren gemeinsame Ursache, die er im Buch Die Grenzen des Wachstums beschrieb: die Verknappung und damit Verteuerung von Ressourcen.2 Um die großen Auswirkungen dieser Entwicklung besonders zu betonen, meinte er in einem Interview nach der aktualisierten Neuauflage des Buches 2006 sogar, dass die Menschheit in den nächsten 30 Jahren mehr Veränderungen sehen wird als im alles andere als ereignislosen 20. Jahrhundert.
Nun kann man zwar historische Erfahrungen niemals einfach auf die Gegenwart oder Zukunft übertragen, jedoch ist aufgrund vieler Faktoren klar, dass wir in einer Phase des radikalen Umbruchs leben. Die Spannungen im bestehenden „System“ nehmen seit geraumer Zeit unablässig zu und bringen es aus dem Gleichgewicht.3 Ein neues ist aber nicht mehr auf der Basis der alten Konzepte herzustellen. Die alten „Erzählungen“, die alte Logik, sie passen nicht zu einer Zukunft, die für alle auf der Welt lebenden Menschen ökonomisch wie ökologisch nachhaltig4 sein muss, weil sonst der Kollaps droht.
Mit diesem Buch wird insbesondere der Versuch unternommen, das zu veranschaulichen und Ansätze zu liefern, wie es zu erklären ist – nicht zuletzt historisch. Gerade Letzteres ist wichtig, weil sonst unklar bliebe, welche zukünftigen Entwicklungen überhaupt möglich sind. Nur so können echte „Optionen“ von reinen „Utopien“ unterschieden werden, wobei freilich auch das Utopische schon allein dadurch Bedeutung hat, dass es ein Ziel und damit Orientierung bieten kann und dass es nur über derartige „Visionen“ möglich ist, über das Althergebrachte, über die alten Erzählungen hinauszudenken und Neues zu entwickeln. Dabei ist die Vorstellung von drei gleichzeitigen Krisen ein guter Ausgangspunkt für die Bewältigung der anstehenden Aufgaben. Denn als Menschheit ebenso wie als jeder und jede Einzelne werden wir immer Einfluss auf unsere Zukunft haben. Je später wir aber agieren – oder gar nur reagieren – desto beschränkter wird unser Handlungsspielraum sein und desto kleiner und unerfreulicher die Auswahl an Möglichkeiten. Das Schicksal von Gesellschaften, die z.B. an ihre ökologischen Schranken gestoßen sind, kann eine Warnung vor allzu viel Übermut sein, dass der Mensch mit allen Problemen schon immer irgendwie fertig wird.5
Diese Befunde von Rifkin, Meadows und anderen werden vielen aus der Seele sprechen, ebenso wie sie vielen auf den ersten Blick unverständlich sein werden. Was zutrifft, hängt eng mit dem jeweiligen Weltbild zusammen. Gerade an mancher Vorstellung von der Welt will dieses Buch aber rütteln, indem der Versuch unternommen wird, weltweite Ungleichgewichte plastisch und greifbar zu machen. Das geschieht auf zwei Ebenen, auf denen zugleich die Begründungen stattfinden, warum uns einschneidende Änderungen bevorstehen. Die eine ist eher „empirisch“, also eine Sache des Begreifens, und liegt im großen Ausmaß der Ungleichheit, die unseren Globus derzeit viel mehr prägt, als das in der so genannten „entwickelten“ Welt zur Kenntnis genommen wird. Sie hat etwas mit Beobachten und Messen zu tun. Die zweite ist „theoretisch“, also eine Sache des Verstehens. Sie liegt in der Art und Weise, wie sich die Menschen die bisherigen Entwicklungen verständlich machen, was derzeit zunehmend durch das Konzept der „Krise“ geschieht. Hier haben Erklärungen, aber auch die bereits erwähnten „Erzählungen“ Platz, die im Idealfall die täglichen Geschehnisse in ein stimmiges Ganzes einbetten.
Globo, ein Dorf mit hundert Menschen
Dieses Buch soll also die Welt beschreiben, aber auch realistische Optionen und angemessenes Handeln verdeutlichen. Dazu braucht es die Kenntnis aktueller Zustände, aber auch darüber, wie es zu diesen Zuständen gekommen ist, denn das ist nicht egal. Vielmehr wirkt der beschrittene „Pfad“ prägend in die Gegenwart nach.6 Um das zu erreichen, wird ein Gedankenexperiment unternommen. Es geht dabei darum, sich die gegenwärtige Welt als Dorf mit 100 Einwohnerinnen und Einwohnern vorzustellen, das GLOBO heißt. Dieser Kunstgriff soll es ermöglichen, besser mit ungewohnten globalen Realitäten vertraut zu werden, und das bezogen auf eine Gruppe, die vielleicht ziemlich genau so groß ist wie jene Gruppe von Menschen, mit der man im Bekannten- und Freundeskreis beruflich und privat wirklich zu tun hat (auch wenn sie wohl kaum je so „global“ sein wird).
Ein wichtiges Darstellungsmittel in diesem Buch stellen Grafiken dar, die die Realität in „unserem kleinen Dorf“ veranschaulichen sollen. Alle enthalten verschiedene Daten, teils historische, oft gegenwärtige und manchmal zukünftige. Manche sind einer physischen Weltkarte nachempfunden (auf der sich übrigens links von Nordamerika auch eine sonst nicht dargestellte Anomalie findet7), manche gleichen eher Diagrammen. Die vielleicht gewöhnungsbedürftige Optik wurde dabei absichtlich gewählt, um die „eine Welt“ zu verdeutlichen, in der die 100 Menschen von Globo zusammenleben.
Als Hauptbezugsjahr für die Daten wird das symbolträchtige Jahr 2000 verwendet, weshalb ein Mensch in Globo stellvertretend für rund 61 Millionen Menschen in der realen Welt steht.8 Auch die Geld-, Mengen- und Flächenangaben werden entsprechend umgerechnet. Um diese Daten besser zu strukturieren, wird das Dorf in sechs Weiler geteilt.9 In Globo gibt es die Weiler „Afrika“, „Asien“, „Europa“ (einschließlich Sibirien), „Lateinamerika“ (und Karibik), „Ozeanien“ (Australien und Pazifik) und „Nordamerika“, wobei Ozeanien sozusagen „statistisch“ unbesiedelt ist, aber wichtig für die Ressourcenversorgung. Wenn es zweckmäßig ist, wird noch weiter untergliedert, vor allem der bevölkerungsreichste Weiler Asien.
Auf den folgenden Seiten werden nun verschiedene Lebensbereiche in Globo dargestellt. Dabei birgt die Auswahl der Daten aus der Fülle des vorhandenen Materials immer die Gefahr der Willkür, es soll hier aber ein Gesamtüberblick gegeben werden, der alles Wichtige sowie das unserer Ansicht nach zu wenig Bekannte enthält. Die Darstellung auf der Basis von 100 Menschen soll dabei außerdem nicht nur der Vorstellung helfen, sondern sie soll auch den Eindruck allzu exakter Zahlen verwischen. Denn nahezu alle folgenden Angaben entbehren solcher Exaktheit, die aktuellen kaum weniger als die historischen. Viele beruhen hingegen vielmehr auf Schätzungen und Hochrechnungen und manche können nur als ungefähre Annäherung an eine eigentlich unbekannte Realität angesehen werden. Es macht insofern auch keinen Unterschied, ob man solche Zahlen mit zwei Kommastellen oder auf ganze Einheiten gerundet angibt.10 Daher wird in diesem Buch auch weitestgehend auf Kommastellen verzichtet – und das nicht zuletzt, weil ein Mensch immer ein unteilbares Ganzes ist.
Es geht also nicht zuletzt darum, den Blick für Realitäten zu schärfen, die „wirklich“ globale Bedeutung haben, ist doch dieser Blick oft durch näher liegende Probleme getrübt. Diese „Wirklichkeit“ ist dabei allerdings mit voller Absicht in Anführungszeichen gesetzt, denn natürlich ist die Prozentgrenze, mit der hier letztlich gearbeitet wird, ein willkürliches numerisches Konstrukt. Auf dieser Ebene relativiert sich aber vieles, was nur scheinbar wichtig ist. Es gibt in ganz Globo z.B. nur 2,6 Kilogramm Gold, nur 11 Autos und nur höchstens vier Menschen können dieses Buch lesen, weil sie überhaupt Deutsch verstehen. Es schließt aber auch vieles aus: z.B. gibt es in Globo „statistisch“ keinen einzigen Löwen oder Elefanten, keinen einzigen Arzt und natürlich keinen einzigen Fernsehsender.11
Bei der folgenden Betrachtung handelt es sich nun zumeist um eine Beschreibung der Gegenwart mit einigen Rückblenden, vor allem ins 19. Jahrhundert, und Ausblicken in die nähere und fernere Zukunft. Trotz des Hauptbezugsjahres 2000 wurden für die Darstellung der jeweiligen Lebensbereiche aber natürlich stets möglichst aktuelle Daten verwendet.12 Dass dabei oft eine Zeitspanne von etwa zweihundert Jahren betrachtet wird, ist kein Zufall. Neuerdings hat man dafür sogar ein Wort erfunden: Anthropozän.13 Gemeint ist damit jener Zeitraum seit etwa 1800, in dem der Mensch zu dem prägenden Faktor des Weltgeschehens geworden ist und sich in Globo viele in ihrer Dimension und Dynamik historisch einzigartige Entwicklungen ereigneten. Es mag dabei bezweifelt werden, ob der Mensch, das Steinzeitwesen, sich an die absolute Einmaligkeit und Beispiellosigkeit des Wandels in jüngster Vergangenheit wirklich bereits gewöhnt hat, denn erdgeschichtlich betrachtet gleicht diese letzte Phase einem Hauch. Stellt man z.B. die Zeit seit Entstehung der Erde vor 4,5 Milliarden Jahren in einem Tag dar, so ereignet sich selbst die neolithische Revolution, also die „Erfindung“ der Landwirtschaft, erst in der letzten Sekunde.14 Und das Anthropozän könnte man gerade noch auf dem Zielfoto eines Hundertmeterlaufs erkennen, nicht aber mehr in der Zeitnehmung. Dieses Bild mag auch so verstanden werden, dass nicht mehr viel Zeit bleibt, den Kurs in Globo zu korrigieren. Es weist aber vielleicht auch auf die große Aufbauarbeit der Natur hin, die in den Händen der heute lebenden Menschen liegt, und damit auf deren Verantwortung.
Ein erster Blick auf die Globo-Geographie und die Globo- Ökonomie
Die Beschreibung soll mit einem Blick auf das Umfeld des Dorfes beginnen. Die Oberfläche beträgt etwa 8,4 Quadratkilometer bzw. 840 Hektar, von denen aber ca. 71 Prozent aus Wasser bestehen, das nahezu ausschließlich Salzwasser ist. Die restlichen 29 Prozent (also etwa 2,5 Quadratkilometer) bestehen zwar aus Festland, sind aber deshalb noch lange nicht bewohnbar. Mehr als ein Drittel des Festlands besteht nämlich aus Wüsten, Ödland, Gebirgen und Gletschern und insgesamt vier Fünftel der Dorffläche fallen damit als Wohngebiet zur Gänze aus. Doch auch der Rest besteht größtenteils aus Wald (ca. 65 Hektar), Wiesen- und Weideflächen (ca. 57 Hektar) und Ackerland und Dauerkulturland (ca. 25 Hektar). Übrig bleiben nur etwa 3 Hektar, auf denen Häuser und Infrastruktur stehen.15
Die reine Betrachtung der Oberfläche scheint noch wenig spektakulär zu sein. Aber auch sie ist aufschlussreich, wenn man etwa an die fortschreitende Entwaldung während des Anthropozän denkt, die alle Formen von Wald flächenmäßig dezimiert hat, zuletzt speziell den tropischen Regenwald. Dabei bleibt es aber nicht, denn auch sonst ereigneten sich während der zwei Jahrhunderte des Anthropozän viele langfristig betrachtet extreme Entwicklungen: Die Bevölkerung „explodierte“, ebenso die Industrieproduktion, damit aber auch die Menge an „produziertem“ Müll und die Belastung von Wasser, Boden und Luft, wobei all das natürlich auch direkt zusammenhängt.
Generell gleichen viele Zeitreihen von Entwicklungen während dieser Periode jenen, die in Abb. 0.02 als eine Art „Ikonen“ der Veränderung durch den Menschen zusammengetragen wurden.16 Denn obwohl eine große Zahl solcher Reihen durch den Rost der Aufnahmefähigkeit einer solchen Publikation gefallen ist, werden in diesem Buch immer wieder vergleichbare Bilder auftauchen.
Eine Warnung vor den Tücken der Statistik
Über die Ungenauigkeit vieler der hier präsentierten Daten ist bereits geschrieben worden. Zahlen zum selben Sachverhalt aus vergleichbar zuverlässigen Quellen unterscheiden sich oft, teils um ein Vielfaches. Manchmal ist der Grund nachvollziehbar, wie z.B. unterschiedliche Definitionen, manchmal auch nicht. Dass hier meist nur eine Zahl präsentiert wird, soll daher nur Verwirrung vermeiden und nicht etwa den Eindruck erwecken, es gebe korrekte Angaben (wobei aber stets die als am zuverlässigsten eingeschätzte wiedergegeben wird). Eine zweite sehr wichtige Anmerkung zum Umgang mit den vielen statistischen Daten ist aber noch zusätzlich nötig. Es wird in weiterer Folge oft von der durchschnittlichen Entwicklung im gesamten Dorf Globo oder in einzelnen Weilern die Rede sein. Allerdings zeigt sich hier eine statistische Tücke, denn Durchschnitte sagen nichts über die Verteilung der zugrundeliegenden Daten und damit wenig über Einzelereignisse aus. In der Statistik kursiert ein Witz, der dieses Problem auf ironische Art recht anschaulich macht: Wenn ein Jäger einem Hasen nachstellt und einmal genau 5 Meter links und bei seinem zweiten Schuss genau 5 Meter rechts an ihm vorbei schießt, dann wäre der Hase statistisch betrachtet im Durchschnitt dieser beiden Schüsse mausetot. Praktisch aber würde sich jeder Hase einen solchen Jäger wünschen und sich weiter seines Lebens freuen. Man sollte bei allen Durchschnittsangaben, die auch in diesem Buch sehr häufig vorkommen werden, diese Tücke niemals vergessen.
Nun gilt es aber, in ein Panoptikum globaler Lebensrealitäten einzutauchen, das von der Bevölkerung über die Landwirtschaft, die Energie, den Verkehr, die Arbeitswelt und den Konsum bis zu den größten Bedrohungen und aktuellen Herausforderungen führen wird. Die Darstellung ist dabei bewusst dem Konzept des „Globalen Lernens“17 verpflichtet, indem sie auf vielfältige Weise zum gemeinsamen Entdecken der Welt einladen will, vor allem einer Welt außerhalb des für viele der Leserinnen und Leser gewohnten Horizonts. Was sich dabei entfaltet, ist ein neues, ein globozentrisches Weltbild.18