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Wo sind die Väter heute?

Wenn Männer in unserer Zeit nach ihrer Identität fragen und suchen, so ist die Vaterrolle sicher eine Antwort oder eine mögliche Identität. Schon seit einigen Jahren versuchen Männer, diese neu auszufüllen. Trotzdem ist Erziehung in Deutschland immer noch hauptsächlich Frauensache. Hinzu kommt, dass ein sehr großer Anteil der Alleinerziehenden Frauen sind. Im Jahr 2017 gab es in Deutschland rund 416.000 alleinerziehende Väter und rund 2.203.000 alleinerziehende Mütter. Langsam wird jedoch trotzdem ein Wandel in Bezug auf die Rolle des Vaters in der Erziehung deutlich. So hat schon 2010 das EuGH entschieden, dass beiden Eltern das Sorgerecht übertragen werden soll. Seit der Reform des Kindschaftsrechts 1998 ist zudem möglich, dass unverheiratete Eltern für ihre Kinder ein gemeinsames Sorgerecht haben. Zudem unterscheidet der Gesetzgeber nun nicht mehr zwischen ehelichen und unehelichen Kindern. Seit 2013 haben Väter noch einmal mehr Rechte. Sie können nun auch ohne die Zustimmung der Mutter die Mitsorge beim Familiengericht beantragen und erhalten sie, wenn dem Kindeswohl nichts entgegensteht.

Im »Väterreport« der Bundesregierung aus dem Jahr 2018 schreibt Dr. Franziska Giffey, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: »Vaterschaft verändert sich: Väter heute haben ein neues Selbstverständnis. Sie wollen sich aktiv und auch im Alltag um ihre Kinder kümmern. Gerade junge Paare wollen auch als Eltern gleichberechtigt leben. Tatsächlich erziehen und betreuen Väter ihre Kinder heute mehr als sie es von ihren eigenen Vätern kennen. Sie wünschen sich vielfach noch mehr Zeit für die Familie und wollen auch nach einer möglichen Trennung für ihre Kinder da sein. Ich will Väter weiter dabei unterstützen, sich Zeit für ihre Kinder zu nehmen, und partnerschaftliche Vereinbarkeit in Familie und Beruf stärken: mit der Schaffung überprüfbarer Standards zur Umsetzung einer familienfreundlichen Unternehmenskultur und mit der Entwicklung von Modellen, die mehr zeitlichen Spielraum für Familien schaffen.«

Eine Politik, die dafür Sorge trägt, dass die Väter mehr in den Blick kommen, ist ein großer Gewinn für die Gesellschaft und für das Miteinander von Frauen und Männern. In der Erziehung von Kindern wird heute häufig von einer partnerschaftlichen Elternrolle gesprochen. Väter sind heute zunehmend aktiv in der Fürsorgerolle, was bisher häufig den Müttern vorbehalten war. Sie sehen ihre Aufgabe nicht mehr nur darin, der »Ernährer« der Familie zu sein. Das ist sicher gut, aber gleichzeitigt verändert sich die Rolle des Mannes, der diese Aufgabe über einen sehr langen Zeitraum in unserer Kultur übernommen hat. In einer Untersuchung der BBC stellte man fest, dass sich Männer, deren Partnerin schwanger war, in Mehrarbeit stürzten. Das war jedoch keine Flucht der Männer vor der Schwangerschaft, sondern es ging ihnen darum, eine bessere wirtschaftlich Grundlage zu schaffen. Oder, archaisch gesprochen: Es muss ein Mammut mehr gejagt werden, da es demnächst einen Esser mehr gibt. Nach Jared Diamond, einem amerikanischen Evolutionsbiologen, ist der moderne Mensch noch sehr stark geprägt von der vorzivilisierten Zeit. Also von der Art zu leben, wie sie über tausende von Jahren üblich war. In seinem Buch »Vermächtnis« stellt er fest, dass Väter in allen untersuchten Gesellschaften weniger in die Versorgung der Säuglinge eingebunden sind als Mütter. Allerdings spielten die Väter in den meisten menschlichen Gesellschaften eine bedeutende Rolle für Nahrungsbeschaffung, für den Schutz der Familie und die Erziehung der Kinder. Und: Je nachdem, wie sehr auch die Frau in die Nahrungsbeschaffung involviert war, kümmerten sich die Väter eben mehr oder weniger um die Versorgung der Kinder.

Nach dem »Väterreport« der Bundesregierung 2018 sagen etwa 70 Prozent aller Väter, dass sich ihre Rolle in der Erziehung der Kinder im Vergleich zu ihrer Kindheit zum Positiven verändert hat. Das ist natürlich sehr erfreulich und zeigt auch, dass Frauen stärker in die ökonomische Entwicklung der Familie eingebunden sind, sodass die Väter mehr Zeit haben, sich um die Versorgung und Erziehung der Kinder zu kümmern. Wichtig ist aber auch zu schauen, wie Vatersein heute gelebt werden kann und was wir Männer unseren Kindern, im Besonderen unseren Söhnen, mit auf den Weg geben.

Die Situation des Mannes in der modernen Gesellschaft ist äußerst prekär. In ihrem Buch »Das Ende der Männer und der Aufstieg der Frauen«, das auch in Deutschland ein Bestseller war, analysiert Hanna Rosin den epochalen Niedergang amerikanischer Männlichkeit. Männer sind heute in vielfacher Hinsicht die Verlierer, gerade auch im Niedergang der Industriegesellschaften. In Amerika sind immer mehr Frauen die Haupternährerinnen der Familien: Während der großen Rezession ab dem Jahr 2007 waren in den Vereinigten Staaten drei Viertel der 7,5 Millionen Entlassenen Männer. Im Jahr 2009 gab es dort zum ersten Mal mehr erwerbstätige Frauen als Männer. Auch in Deutschland ist dieser drastische Rollenwechsel zu bemerken: »Überall, wo ich hinkam, passten sich Paare an die neue häusliche Realität an: Die Frau zahlt die Hypothek ab. Die Frau fährt jeden Tag zur Arbeit und gibt dem Mann vorher noch schnell Anweisungen, wie er die Wäsche machen muss«, so Hanna Rosin in ihrem oben erwähnten Buch.

In meiner Zeit als Jugendhausleiter in unserem Kloster saß ich an einem Sommerabend mit den Zivildienstleistenden und Jugendlichen um einen Tisch. Es war ein lockeres und harmloses Miteinander in angenehm warmer Sommerluft. Irgendwann sagte ich in die Runde: »Ich denke, dass es so langsam Zeit wird, dass ich die Leitung des Jugendhauses abgebe. Ich komme ja langsam schon in das Alter eurer Väter!« Die Stimmung bei einem der Zivildienstleistenden veränderte sich und er sagte sehr ernst und nachdenklich zu mir: »Und glaubst du nicht, dass wir Väter brauchen?« Dieser Satz hat mich zum Nachdenken gebracht. Ich fragte mich, wie ich als Mönch, der ja ehelos lebt, mein Vatersein ausleben könnte. Eigentlich war diese Frage der Auslöser, mich mit Männerarbeit zu beschäftigen. Hier war also ein junger Mann, der die Frage nach dem Vater stellte – an mich, einen kinderlosen Mönch. Offensichtlich suchte er diesen Vater, der das nicht unbedingt in biologischer Hinsicht sein musste. Vielmehr beschrieb er die Suche nach dem Mann, der ihm den Weg ins Leben zeigt, der ihm glaubhaft vorleben kann, wie ein gelungenes männliches Leben aussieht. Heute ist dieser Mann selbst Vater und ich frage mich manchmal, wie er diese Rolle lebt.

Die Vaterrolle zu übernehmen bedeutet, in einer großen Verantwortung zu stehen. Ihm ist die Aufgabe übertragen, junge Männer anzuleiten – ob es sich jetzt dabei um den biologischen Vater oder einen anderen Mann handelt, der diese Rolle übernommen hat, ist unerheblich. Dies ist einer der wichtigsten Aufgaben des »neuen Vaters« und knüpft an eine uralte Tradition an: Bei vielen indigenen Völkern gab es den Brauch, dass die Jungen ab einem gewissen Alter in den Männerhäusern, sprich, in von den Frauen getrennten Wohnbereichen, mitlebten. Sie wurden also relativ bald aus dem Einflussbereich des Weiblichen genommen. Auch wenn wir heute nicht mehr in getrennten Räumen leben, ist es doch wichtig, dass Jungen und junge Männer rein männliche Lebensräume erfahren. In meiner Kindheit durften mein Bruder und ich manchmal unseren Vater samstags am späteren Nachmittag zu seinem Stammtisch in seiner Stammkneipe begleiten. In den späten 60er-Jahren waren diese Kneipen noch ein deutlich männlich geprägter und dominierter Raum. In meiner Erinnerung waren diese Besuche, selbst wenn sie nur ein bis zwei Mal im Jahr stattfanden, wichtige Erfahrungen und taten der Beziehung zu meinem Vater und zu Männern gut.

Eine andere Tradition geht in eine ähnliche Richtung: In einigen Teilen Österreichs nahmen die Großeltern einen Jungen, wenn er etwa sechs Jahre alt war, mit in den Wald. Sie suchten Bäume, die so gewachsen waren, dass sich in ihrer Mitte ein großer Spalt, eine Lücke auftat. Dann reichte die Großmutter den Knaben durch die Öffnung und der Großvater nahm ihn entgegen. Der Knabe wurde so, wenn auch nur symbolisch, aus der Obhut des Weiblichen entlassen und in die Obhut des Männlichen gegeben.

Ich habe mir häufig die Frage gestellt, wo heute solche »Männerorte« zu finden sind – und wo die Männer und Väter, die ihre Jungen mit zu solchen Orten nehmen. Ich glaube, dass es für die Entwicklung von Jungen und jungen Männern geradezu elementar ist, solche Räume zu haben und zu besetzen. Es ist jedoch an uns Männern und Vätern, dafür zu sorgen, dass es diese Räume gibt. Weiterhin glaube ich, dass es für die männliche Identität existenziell ist, dass wir uns bereiterklären, Väter zu sein, selbst wenn der Junge oder Jugendliche nicht unser biologisches Kind ist. Umgesetzt finden wir dies oft in Filmen, hier spielen Vaterfiguren, die von den jungen »Helden« erwählt werden, häufig eine große Rolle. Zwei Beispiele möchte ich hier nennen: »Der Club der toten Dichter« und »Mann ohne Gesicht«. Hier ist die Vatersuche wunderbar beschrieben. In beiden Filmen suchen sich Jugendliche einen Ersatzvater – und dieser ist auch bereit, die Rolle zu übernehmen. Allerdings stellt er ihnen Aufgaben, die den Jugendlichen herausfordern. Diese Aufgaben überfordern nicht, aber sie nehmen die Jugendlichen in ihrem Suchen und Fragen und in ihren Gefühlen ernst. So können sie zu erwachsenen Männern heranreifen.

Diese Art von Vatersein hat auch C. G. Jung, den berühmten Schweizer Psychologen, beschäftigt. Für ihn ist die Vaterrolle, gerade auch, wenn es sich dabei nicht um eine biologische Vaterschaft handelt, etwas Archetypisches im Leben eines Mannes. Das meint, es geht hier um ein (häufig unbewusstes) Grundbild oder Grundmuster menschlichen Lebens. C. G. Jung entwickelte eine Theorie verschiedener Archetypen oder Urbilder, die uns helfen, die Wirklichkeit zu begreifen, indem wir uns mit ihnen für eine Zeitlang identifizieren und so die Energie zu unserer Entwicklung nutzen, die in diesen Bildern steckt.

C. G. Jung sieht den Vater repräsentiert im Archetyp des Königs. Darüber hinaus steht der König auch als Urtyp für das Göttlich-Männliche in uns. Um in einer immer matriarchaler geprägten Gesellschaft zu überleben, ist es für uns Männer wichtig, diese Kräfte auch in den jungen Männern zu stärken.

Eine meiner Lieblingsikonen ist eine Darstellung, bei der Jesus von Josef auf den Schoß genommen wurde. Jesus hält eine Thorarolle in der Hand und Josef erklärt ihm die heiligen Schriften. Im Judentum war es die Aufgabe der Männer, den Glauben an ihre Söhne weiterzugeben. Der Vater lehrte seinem Sohn die Thora: »Wenn dich morgen dein Sohn fragt: Warum achtet ihr auf die Satzungen, die Gesetze und Rechtsvorschriften, auf die der Herr, unser Gott, euch verpflichtet hat? Dann sollst du ihm sagen ...« (Deuteronomium 6,20ff). Das heißt: Der Vater führt den Jungen in das Mannsein, in das Leben ein. Vatersein darf sich auch heute nicht in Erziehungsjahr und Windelwechseln erschöpfen. So schön und gut es ist, wenn die Väter bei der Betreuung der Kleinkinder dabei sind, so viel wichtiger ist es, wenn der Vater auch im Kindesalter und während der gesamten Pubertät anwesend ist, um ihnen so zu helfen, dass aus Söhnen Väter werden.

Übung für zu Hause

Nimm dir Zeit für dich, suche dir einen ruhigen Ort und denke einmal über folgende Fragen nach:

Welche Orte, Räume kennst du, an denen du mit Männern – und ausschließlich mit Männern! – zusammen bist? Wie geht es dir damit?

Spüre dem nach, vielleicht bei einem Waldspaziergang. Notiere dann auf einem Zettel Namen von Männern, die dir heute als Vorbild gelten und in deiner Jugend als solches galten. Was weißt du von ihnen, oder was fasziniert dich an ihnen? Was möchtest du an Eigenschaften, Haltungen, vielleicht auch Taten gerne auch in deinem eigenen Leben verwirklichen?

Mann werden – Mann sein

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