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Österreich im Jahre 2020 ist eine klassenlose, kommunistische Gesellschaft, in der es kein Geld und keine Armee gibt, aber dafür einen Habsburger Kaiser, der nicht unangenehm auffällt. Das Land ist eingebettet in einen europäischen Staatenbund, an dem England nicht teilnimmt, und organisiert von einem perfekten, allgegenwärtigen, interesselosen Verwaltungsapparat. Europa bildet einen gemeinsamen Sanitätsbezirk, was die Einschleppung von Krankheiten unmöglich macht. Österreich im Jahre 2020 ist eine Reise in eine längst vergangene Zukunft.

Österreich im Jahre 2020 ist eine Erfindung des späten 19. Jahrhunderts. Das Buch kommt 1893 im Verlag Edgar Pierson, Dresden und Leipzig, heraus. Dort ist 1889 mit Bertha von Suttners Roman Die Waffen nieder! ein österreichischer Klassiker der pazifistischen Literatur erschienen. Auf den Jahreswechsel 1888/89, genau in den Tagen, als Friedrich Nietzsche in Turin ein Pferd umarmt, findet der Einigungsparteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs in Hainfeld statt.

Wer Österreich im Jahre 2020 hervorgebracht hat, ist gar nicht so einfach zu sagen. Josef Ritter von Neupauer, Doktor der Rechte, hat kaum Spuren in der Überlieferung hinterlassen. Sein Geburtsdatum ist nicht zu ermitteln, aber die Portraitphotographie, die auch dieses Buch ziert und seinem Großwerk Der Kollektivismus und die soziale Monarchie (ausdrücklich die technisch detaillierte, komplettierende Abhandlung zu seinem Roman) von 1909 entnommen ist, lässt an einen Jahrgang der 1840er-Jahre denken. Ab 1906, bereits im Ruhestand, ist Neupauer in Innsbruck belegt, wohnhaft Universitätsstraße Nr. 3/11. Dort vermutlich ist er auch gestorben, zwischen dem 1. Dezember 1913 und dem 1. Dezember 1914. (Ein herzlicher Dank an Thomas Bach von der Universität Jena und Nikolaus Bliem von der Bibliothek des Ferdinandeum, Innsbruck!)

Österreich im Jahre 2020 aber kommt nicht aus dem Nichts. Seinerzeit in Wien erfreut sich Doktor von Neupauer einiger Notorietät. Ein namentlich nicht genannter Autor schreibt in seiner Rezension zu Österreich im Jahre 2020 im Neuen Wiener Tagblatt am 3. Juli 1893: „Der Verfasser dieses Buches, Hof- und Gerichtsadvokat Dr. von Neupauer, ist eine in weiten Kreisen Wiens bekannte Persönlichkeit. Mit aufrichtiger Begeisterung für alles Gute, Edle, Schöne, allerdings in seiner Art, ausgestattet, versäumt er es nicht, sobald irgend eine neue Vereinsgründung in Sicht ist, dem werdenden Unternehmen seine Kraft zur Verfügung zu stellen, wobei es ihm auf tiefgehende Unterschiede von Parteien und Prinzipien nicht sehr ankommt. Das wäre ja sehr löblich, denn neben den Interessen der Menschheit verschwinden ja die Fraktionen und Grundsätze, aber man kommt da oft in Widerspruch mit gewissen hergebrachten Anschauungen und Begriffen, und das passiert Herrn Doktor Neupauer umso häufiger, als seine sehr positiv gemeinten Vorschläge der mehr oder minder nüchternen Auffassung seiner Zuhörer meistens nicht recht verständlich sind. So stellte sich der genannte Herr einer eben in Gründung begriffenen Gesellschaft, welche ein hohes, humanitäres Ziel verfolgt, zur Verfügung, indem er sich ohneweiters zur Herbeischaffung von zehn Millionen Mitgliedern anheischig machte. Als die Gründer der Gesellschaft sich behufs eingehender Beratung dieses sehr verlockenden, aber scheinbar schwer zu verwirklichenden Vorschlages eine dreitägige Bedenkzeit erbaten, entzog der Tiefgekränkte der guten Sache seine Mitwirkung für immer.“

Österreich im Jahre 2020 konfrontiert uns mit der Frage nach der Gegenwart und nach der Zukunft. Wie stellen wir uns die Zukunft vor, wie wollen wir sie haben? Was wird sich verändert haben, bis sie Gegenwart geworden ist? Ohne ein Dokument wie diesen Roman wären diese Fragen ununterscheidbar. Unbeantwortbar sowieso. Josef von Neupauer spricht mit sich selbst, aber er meint uns. Uns im allerweitesten Sinne der Zeitgenossenschaft. Österreich im Jahre 2020 spricht mit dir: Es redet exakt über dich und es redet so sehr an dir vorbei, wie es nur geht. Alles könnte anders sein.

Österreich im Jahre 2020 ist in gewisser Weise die Fortsetzung einer anderen Utopie: Edward Bellamys Roman Looking Backward: 2000–1887 aus dem Jahr 1888. Bellamys Protagonist Julian West, ein junger Mann aus Boston, Massachusetts, ist 1887 in einen überlangen Schlaf gefallen, aus dem er erst im Jahr 2000 erwacht. So berichtet er seinen vergangenen Zeitgenossen aus einer besseren, sozialistischen Zukunft. Bellamys Roman löst eine Flut von Antworten, Gegenentwürfen, Sequels, Prequels, Satiren, Bekräftigungen und Polemiken aus: Es entbrennt ein Romankampf, der in den Zukünften des 21. Jahrhunderts ausgetragen wird. In dieser Legion findet sich auch der Roman Looking Further Forward: An Answer toLooking Backward“ by Edward Bellamy von Richard C. Michaelis aus dem Jahr 1890. Die Zukunft ist nun Dystopie, ist sozialistischer Horror geworden. An die Seite von Julian West, inzwischen konsequenterweise Historiker von Beruf, tritt die Figur des Mr. Forest, des Antikommunisten. Die beiden bleiben ihrem Format als Beobachterfiguren treu. Unvermittelt werden wir, heute, in diese mit Romanen geführte Debatte um eine bessere Welt und Gesellschaftsform hineingezogen: Mr. West und Mr. Forest erhalten eine Einladung aus Europa und treten am 13. Juli 2020 ihre Reise durch Österreich an. In Österreich liegen auch die Bücher von Bellamy und Michaelis vor und werden mit den zwei Amerikanern diskutiert.

In Österreich im Jahre 2020 herrscht utopischer Kommunismus, die zentralisierte Verwaltung durchdringt alles, entspannt alles, lässt alles zu allen kommen. Der Klassenkampf hat sich in seinem Wärmetod gelöst. Die Gütergemeinschaft ist friedlich und sanft wie bei Platon oder Morus. Der Mangel hat aufgehört und mit ihm sind Wettbewerb, Verteilungskampf, Geltungssucht und ähnliche Gewalt verschwunden. Dennoch gibt es Adel und Kaiser, dessen Juwelen, Allgemeineigentum versteht sich, gerne zu besonderen Anlässen getragen werden.

In Österreich im Jahre 2020 sind die Städte geschrumpft. Wien ist eine Hauptstadt ohne Türme, in der nur drei Kirchen aus Sentimentalität stehengeblieben sind; die Bevölkerung indes ist stupend bibelfest. Die pneumatische Tram gleitet durch die Gärten, die überall angelegt sind. Fahrrad und Pferd, Garten und Handwerk. Dem Pfarrer und Arbeiterseelsorger Rudolf Eichhorn, der über Die weißen Sklaven der Wiener Tramway-Gesellschaft (1885) und Die Sklavennot der Fabriksarbeiterschaft von Floridsdorf (1886) geschrieben hat, sind Denkmäler errichtet. Karl Lueger taucht auf, denn sein Urenkel, der statt eines Vornamens den Titel Professor führt, ist eine Nebenfigur. In diesem 2020 weiß man aber nichts mehr vom alten Lueger und seinen Kollegen, auch ist er nie Bürgermeister von Wien geworden und nurmehr „Chroniken und Spottlieder seiner Gegner“ erinnern an ihn. Im Zentrum der Hauptstadt steht eine Säule aus Gold, die die Wertlosigkeit dieses Metalls und der alten Ordnung demonstriert.

In Österreich im Jahre 2020 herrscht eine groteske Sittlichkeit und Sexualmoral, begleitet von eugenischen Wahnvorstellungen, restriktiver Familien- und Bevölkerungspolitik und Paragraph gewordener Neurose. In einem flüchtigen Nebensatz, als wäre es ein Versehen, wird plötzlich eine Nebenfigur interniert. Dennoch blüht Österreich im Jahre 2020 auf, wenn es um schmalzige Liebesgeschichten, strenggeregelten Hochzeitskitsch und Körperkult geht. Die Welt dieser Zukunft ist nicht aus Glas und Stahl, sondern aus Bronze und Plüsch.

Österreich im Jahre 2020 hat seine eigene Vergangenheit. Daten, die für uns etwas ganz Bestimmtes bedeuten, bedeuten hier etwas anderes. Als 1943 das Denkmal über die Wertlosigkeit des Goldes aufgestellt wird, herrscht kein Krieg, und 1985 ist der beste Weinjahrgang aller Zeit (was mich persönlich besonders freut). Die Welt von Österreich im Jahre 2020 hat die Konflikte und Krisen, hat die Kriege und Verwüstungen des uns bekannten 20. Jahrhunderts nicht erlebt. Aber Österreich im Jahre 2020 birgt seine eigenen erschreckenden und unerklärten Abgründe. Ein großer Krieg hat die Bevölkerung dezimiert und die Metamorphose der Gesellschaft erzwungen, aber über seinen Grund, Verlauf und seine sonstigen Folgen entsteht keinerlei Klarheit. Dass Salzburg nur mehr 1.500 Einwohner hat, wird nebenbei erwähnt. Es bleibt, als eine der unzähligen Irritationen, einfach stehen.

Österreich im Jahre 2020 repräsentiert nicht die seltsamste Gesellschaftsform, die die Menschheit je gesehen hat. Auch wenn man lange suchen kann, bis man eine andere kommunistische Monarchie gefunden hat.

Österreich im Jahre 2020 enthält keinerlei Prophetie. Sich über die politische Brauchbarkeit so mancher Anregungen oder Ideen, über ihren Widerspruch mit gewissen hergebrachten Anschauungen und Begriffen eine kleine Phantasie auszumalen und abzuwägen, ist aber an sich aufschlussreich. Hier zeigt sich etwas Grundlegendes über das Politische, über die Verfügbarkeit und die Vielfalt der Formen, in denen eine Gesellschaft zusammenleben kann: Sie sind veränderlich, sie sind Verhandlungssache. Zu dieser Verhandlung ist keine Einladung nötig, sie findet beständig statt. Utopie, nicht mehr und nicht weniger: Es könnte sein ist etwas anderes als Es war einmal. Österreich im Jahre 2020 wird unsere Perspektiven auf und für Österreich im Jahre 2020 bereichern.

Österreich im Jahre 2020 scheint seinerseits keine Zukunft zu haben.

Tobias Roth, München im Juli 2020


Österreich im Jahre 2020

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