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Kapitel 1: Wer bin ich?

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Ich wollte nie erwachsen werden. Die Erwachsenen um mich herum lebten so ein langweiliges, immer gleiches und auch ziemlich verlogenes Leben. Ich stamme aus dem kleinen Ort Utzmemmingen, nahe dem Ort Pflaumloch. Kein Witz. Das liegt in Baden-Württemberg, an der Grenze zu Bayern. Die nächstgrößere Gemeinde ist Bopfingen am Ipf und das ist auch nicht groß. Mitte der 50er-Jahre geboren, war ich die jüngste von drei Schwestern. Was für eine Enttäuschung. Es sollte doch endlich ein Junge im Hause Altinger geboren werden. Und dann kam ich. Am härtesten traf es meine Eltern, die in Utzmemmingen die Konditorei und einen Laden betrieben und natürlich einen Nachfolger und Stammhalter wollten. Sie hatten auch schon einen Namen für ihn, Maximilian. Aber daraus wurde nichts. Als die Hebamme sagte: „Glückwunsch zur dritten Tochter“, antwortete mein Vater: „die können sie gleich wieder mitnehmen“ und machte sich ganze zwei Wochen gar nicht erst die Mühe, in die Wiege, die eigentlich ein Brotkorb war, zu schauen. „Noch a Mädle“, dachte er. Meine Mutter stand einen Tag nach meiner Geburt wieder im Laden und verkaufte.

In unserem Geschäft gab es alles, was so ein 800-Seelen-Dorf braucht. Vom Wurstdarm zur Herstellung eigener Wurst bis zur Kittelschürze. Und was wir nicht hatten, wurde besorgt. Der Laden war nicht groß, aber vollgestopft bis oben hin. Wie eine Art Mini-Kaufhaus. Und mittendrin natürlich die selbstgebackenen Kuchen, Torten und Gebäck aller Art.

Als mein Vater dann schließlich doch einen Blick auf mich warf, war es Liebe auf eben diesen ersten Blick. Das kleine blonde Mädchen mit den strahlend blaugrauen Augen, da konnte er einfach nicht mehr böse sein, und so wurde ich sein heimlicher Liebling.

Ich erinnere mich an warme, frische Nusshörnchen, direkt aus dem Ofen der Konditorei. Morgens setzte mein Vater mich auf die warme, aber natürlich nicht heiße Platte des großen Backofens. Dort aß ich zufrieden mein Hörnchen, baumelte mit den Beinen und sah Papa bei der Arbeit zu. Die Momente, die wir ganz für uns hatten, noch bevor die Mama die Tür aufstieß und wieder irgendetwas wollte, etwas fragte oder sagte, noch bevor meine Schwestern herumlärmten und noch bevor der Laden aufgeschlossen und die immer gleichen Kunden hereinkamen, diese Momente waren die schönsten.

Mein Vater musste jeden Morgen um 4 Uhr aufstehen, Kuchen und Torten backen, dann weckte er mich gegen 6 Uhr und schmierte mir die Pausenbrote mit viel Butter und dicken Scheiben Wurst. In den frühen Morgenstunden, in denen ich meinen Papa ganz für mich alleine hatte, waren wir jedes Mal wie zwei Provinz-Schauspieler, die davon träumen, einmal vor ganz großem Publikum zu spielen und einmal die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen. Dabei hatten wir ja nur uns zwei. Meine Mutter und meine Schwestern interessierten sich nicht für Operetten, Bücher oder Witze. Die erzählte er immer, wenn er kurz traurig wurde, und er wurde oft traurig.

Wie fast alle Männer damals war auch mein Vater im Zweiten Weltkrieg Soldat gewesen. Davon erzählte er häufig, so wie alle Erwachsenen damals. In Russland sind ihm eines Nachts in eisiger Kälte die Zehen abgefroren. Und wenn wir dann beide dasaßen, mit hängenden Köpfen, weil er wieder davon erzählt hatte, fing er erst pfeifend, dann singend an, aus einer Operette zu improvisieren, und ich sang und klatschte mit. Mein Vater freute sich immer, wenn er mich mit seinen Gesängen und den nachgesprochenen Dialogen zum Lachen brachte. „Warum bist du kein Schauspieler geworden, Papa?“, fragte ich ihn oft. Dann antwortete er immer: „Ach Kind, mein Kind“ und wirkte traurig. Traurigkeit konnte er aber nie lange im Raum stehen lassen. Sie musste schnell überspielt werden. Sein Kriegstrauma hat er wie die meisten in der Zeit nie verarbeitet. Dafür gab es ja viel zu viel zu tun. Ständig, eigentlich immer, gab es etwas zu tun, deshalb musste ich auch früh in unserem Kramerladen mithelfen. So wie die ganze Familie. Papa und ich waren immer ein Team und er war nicht nur Vater, sondern auch Mutter für mich, was damals geradezu revolutionär war. So streng wie die typischen Mutter-Vater-Rollen damals aufgeteilt waren. Vor allem in Baden-Württemberg.

Aufgeteilt war alles. Die Arbeit, das Geld und natürlich das Essen. Um 7 Uhr gab es Frühstück. 10 Uhr Vesper inklusive erstes Bier. Um 12 Uhr Mittagessen, immer frisch gekocht. Um 15 Uhr Kaffee und Kuchen und um 18 Uhr Abendbrot. Hunger oder nicht, daran war nicht zu rütteln. Es wurde gegessen. Dieser Essens-Rhythmus wurde so fleißig und genau eingehalten wie die Kehrwoche, das abendliche Gebet, der sonntägliche Kirchgang und die wöchentliche Beichte. So waren nun mal die Regeln. Die Regeln des Erwachsenen-Lebens, das ich für mich später so ganz anders gestalten sollte.

Schon als Fünfjährige in der Backstube meines Vaters hatte ich nicht das Gefühl, in diesen Rhythmus des Lebens hineinzupassen. Nicht, weil ich in irgendetwas besser war als die anderen im Dorf. Nein. Eher, weil ich mich gruselte beim Gedanken, diesen Rhythmus für mein eigenes Leben fortzuführen. Das war einfach nichts für mich.

Die Erwachsenen schienen nie darüber nachzudenken, was das Leben noch bereithielt. Mehr als das gehorsame Arbeiten, das disziplinierte Sparen, um dann getreu „schaffe, schaffe, Häusle baue“ alles immer in diesem immer gleichen Kreislauf zu halten. Schlafen, essen, arbeiten, putzen, beten.

Da musste doch noch mehr sein! Die Musik der 60er-Jahre, die ich im Radio hörte und auf Kassetten aufnahm, ließ mich wie durch ein Fenster in die Welt schauen. Mit all ihren Tönen, Farben und Visionen. Manchmal lief ich beim Spielen alleine in einen kleinen Wald, der an Felder grenzte. Ich kletterte auf einen Baum und sah die weiten Kornfelder vor mir und stellte mir vor, dies sei meine Bühne, auf der mich alle sehen und mir applaudieren konnten. Sobald die Kirchenglocken läuteten, musste ich mich jedoch wieder beeilen – die nächste Mahlzeit wartete. In unserem Dorf kannten sich die 800 Einwohner untereinander, halfen einander und jeder tratschte über jeden. Als ich geboren wurde, hieß es: „Der Herr Altinger hat wieder nur ein Mädchen hingekriegt.“

Ich ging sehr gern in die Schule und liebte meine Klassenlehrerin, eine sehr schöne und elegante Frau. Einmal hörte ich, wie in unserem Laden über sie gelästert wurde. Eine Frau erzählte, meine Lehrerin habe ein Verhältnis mit einem der jüngeren Lehrer an unserer Schule, dabei sei sie doch verheiratet. Die Frau zu meiner Mutter: „Wir sollten uns wirklich überlegen, ob wir die Frau Schwesinger noch grüßen, so etwas schickt sich nun wirklich überhaupt nicht.“ Ich wurde sehr wütend und stampfte mit dem Fuß auf dem Holzboden auf. Niemand sollte so etwas über meine liebe Frau Schwesinger sagen. Die Kundin verließ nach einer Weile beleidigt den Laden und meine Mutter nahm mich beiseite und sagte: „Angela, jetzt hör mir mal genau zu. Wir haben ein Geschäft und wir sind von unseren Kunden abhängig. Du musst den Leuten sagen, was sie hören wollen, dann sind sie zufrieden und kaufen weiterhin hier ein. Weißt du, die Menschen wollen die Wahrheit gar nicht hören.“

Ich dachte kurz über die Worte meiner Mutter nach und sagte dann: „Aber Mama, das ist doch nicht richtig. Mir sagst du doch immer, ich soll die Wahrheit sagen. Warum soll ich denn die Wahrheit sagen, wenn Erwachsene ständig lügen – und auch noch lügen dürfen?“ Meine Mutter hob leicht die Schultern und sagte, während sie etwas in die Kasse tippte: „Mein Kind, so ist das Leben nun mal.“ Ich schaute sie weiter an: „Mama, so will ich nicht leben. Ich werde alles ändern. Denn wenn jeder die Wahrheit sagen würde, dann gäbe es keine Lügen mehr.“

Da lachte meine Mutter kurz auf und antwortete: „Du bist noch jung und dumm. Früher habe ich auch mal so gedacht, aber das sind bloß Träumereien. Da führst du einen aussichtslosen Kampf. Bis jetzt haben die Leute noch jeden kleingekriegt. Je früher du dich daran gewöhnst, desto einfacher wird dein Leben. Am besten ist es, wenn du nicht auffällst, deine Pflichten erfüllst und nicht zu viel aneckst.“ Sie schrieb in mein Poesie-Album: „Sei fröhlich mein Kind, die Jugend zerrinnt nur allzu geschwind, die spätere Zeit hält Kummer bereit und Trübsal und Not und Leid.“ Papa schrieb in mein Album: „Unschuld wohn in deinem Herzen, keine Handlung töte sie, du magst spielen, oder scherzen, doch verlier die Unschuld nie.“

Sonntags mussten wir drei Mädchen immer mit Papa in die Kirche. Mama wollte einmal in der Woche ausschlafen. Und so standen wir vor dem Kircheneingang und ich hörte, wie die anderen Frauen darüber tratschten, dass meine Mutter wieder nicht dabei war. Mir kam die Messe jedes Mal ewig vor. Wie in Trance verfolgte ich sie, fast schlafend in meinem weißen Sonntagskleid auf der harten Holzbank. Nur das ständige Aufstehen und Hinknien hielt mich vom Schlafen ab. Der Pfarrer sagte, dass wir Sünder seien, um Erlösung bitten und uns mit Opfergaben von unseren Sünden freikaufen müssten. Dafür hatten auch die sparsamen Schwaben immer Geld. Der Pfarrer predigte, dass wir doch bitte schön die CDU wählen sollten. Natürlich. Dann beteten wir für die Länder Afrikas, damit diese auch zum katholischen Glauben fänden. Das verstand ich nun gar nicht. Warum kann nicht einfach jeder seinen eigenen Glauben haben? Warum müssen wir alle an das Gleiche glauben? Und gibt es eigentlich nur einen Gott? Alles sehr unerwünschte Fragen damals in Utzmemmingen bei Pflaumloch.

Einmal in der Woche kam der alte Mess- und Gemeindediener zu uns ins Dorf, um eine oder mehrere Bekanntmachungen zu machen. So ganz altertümlich auf dem Marktplatz. Er stand dann da, in der Mitte des Platzes, er bimmelte mit einer großen Glocke und brüllte ganz laut „Beeeeekannnnnntmachuuuuung“. Dann strömten aus allen Gassen die Leute zu ihm und umringten ihn. Er begann seine Reden dann immer mit: „Der Bürgermeister hat beschlossen, dass ...“ Mehr verstand ich meist nicht, weil ich nie vorne stand und er wirklich sehr stark nuschelte. Wichtig war es für mich nicht. Nach ein paar Minuten liefen die Leute so schnell, wie sie gekommen waren, wieder zurück zu ihrer Arbeit.

„Die Leute rackern sich den ganzen Tag stupide ab, immer dasselbe, Tag für Tag. Nur nie die Wahrheit sagen. Bierflaschen stehen auf den Tischen wie die Soldaten. Was werden die Leute sagen? Immer kriechen und sich abplagen.“ (Aus meinem „Hinterm Mond geboren“-Song)

Weil meine Mutter so viel im Laden arbeitete, war unser Haus meistens nicht besonders ordentlich und auch nicht so sauber. Meine Mama war schön, obwohl sie wenig Zeit für ihr Äußeres hatte. Nur samstags wurde bei uns gebadet. Es gab eine Wanne voll Wasser für alle. Es gab immer Streit darum, wer als Erster badete. Der Letzte badete im Brackwasser.

Wir bekamen so gut wie nie Besuch. Mit Sorgenfalten im Gesicht stand meine Mutter abends da und sagte: „Kind, wann soll ich das auch noch machen? Und so wie es hier aussieht, kannst du niemanden einladen.“ Als Schulkind fand ich das ganz schrecklich. Schließlich luden die anderen ihre Freunde ja auch ein. Nun hatte ich gar keine Freunde. Ich war die Außenseiterin, nie wirklich irgendwo dazugehörig. Immer dabei und doch allein. Doch das änderte sich mit Irene. Braunes dünnes Haar, blaue Augen, Sommersprossen, Brille. Sie war meine erste beste Freundin. Und die einzige. Wir spielten zuhause bei ihr auf dem Dachboden, robbten über den staubigen Holzboden, versteckten uns hinter großen Truhen und fanden jedes Mal lustige Hüte, Fächer und elegante Sonnenschirme, mit denen wir „feine Dame“ spielten. Dann wollte sie mich besuchen. Ich wollte das auch. Unbedingt. Also räumte ich das ganze Haus auf, putzte, fegte, faltete, bis alles sauber und ordentlich war. Ich durfte Irene einladen. Ich war ganz aufgeregt und zeigte ihr stolz jeden Raum unseres Hauses. Dann gab es Mittagessen – und das Unheil nahm seinen Lauf … Es war Freitag, da war Fleisch essen bei uns eine Sünde. Also gab es nur Spinat, Spiegelei und Kartoffeln. Irene und ich mochten das Essen nicht. Sie würgte ihres herunter und ich spuckte meinen Spinat heimlich ins Klo. Ein Geheimnis, das ich ihr später erzählte. Nach dem Essen spielten wir Verstecken. Bei uns zuhause machte das aber nicht so viel Spaß, weil ich ständig gerufen wurde, um im Laden zu helfen. Irene besuchte mich nach diesem Tag nie wieder. Ein paar Monate später hatten wir Streit. Sie lief mit ihren neuen Freundinnen hinter mir her und rief: „Bei euch zuhause ist es ganz schön dreckig. Und dein Papa ist ein Hampelmann.“ Mein Papa – ein was? Ich begann zu rennen. Sie und ihre Freundinnen mir dicht auf den Fersen. Dann brüllte Irene: „Du Spinat-ins-Klo-Spuckerin!“ Sie hatte mein Geheimnis verraten. Nur ihr hatte ich es erzählt und geglaubt, sie behielte es für sich. Und nun schrie sie es über den Gehweg. Ich lief weinend nach Hause und beschloss, niemals wieder jemandem ein Geheimnis anzuvertrauen.

Eines Morgens wachte ich auf und konnte nichts mehr sehen. Alles schwarz, verschwommen. „Ich kann nichts mehr sehen!“, rief ich so laut ich konnte! Bin ich blind? Das kann nicht sein, ich bin doch noch so klein. Meine Eltern und meine Schwestern stürmten in mein Zimmer und fingen nach wenigen Sekunden an zu lachen. Was war so witzig? Dann schnappte mich mein Vater und setzte mich in die Badewanne, während meine Mutter den Duschkopf auf mich hielt und mir mit einem Waschlappen das Gesicht abrubbelte. Nach einer Weile konnte ich wieder schemenhaft die Umrisse im Badezimmer erkennen und schließlich wieder alles sehen. „Was war das, Mama?“ – „Das, mein Kind, war der Kaugummi, den du gestern Abend nicht aus dem Mund nehmen wolltest und scheinbar in der Nacht verloren und dich reingelegt hast“, sagte meine Mutter trocken. Oh Mann, der Kaugummi!

„Ich stand mit Kaugummi auf und ging mit Kaugummi zu Bett. Beim Essen schob ich ihn unter die Zunge und er war weg.“ (Auszug aus meinem „Kaugummi“-Song)

Natürlich hatte sich die klebrige Masse nicht nur auf meinem Gesicht verteilt, sondern auch in meinen Haaren. Da half kein Rauswaschen oder Rausbürsten. Die blonden Haare mussten abgeschnitten werden, und so sah ich eine Weile aus wie der Junge, der ich eigentlich hätte werden sollen.

Seit ich denken kann, hatte ich Angst. Nachts vor der Dunkelheit, tags vor dem Alleinsein. Und vor allem vor meinen Gedanken. Jeden Abend fragte ich meine Schwestern Moni und Doris abwechselnd, ob ich bei ihnen im Bett schlafen konnte. Wenn sie murrend die Tür vor meiner Nase zumachten, kroch ich zu meinen Eltern ins Bett und war am nächsten Morgen froh, wieder eine Nacht überstanden zu haben. So groß war die Angst vor der Dunkelheit und vor allen Gestalten, die sich darin verstecken konnten. Geschichten dazu hatte ich reichlich gehört. Im Garten meiner Großeltern stand ein Hühnerstall. Opa hackte den gackernden Hühnern den Kopf ab und ich schaute zu, wie sie ohne Kopf noch eine Weile herumliefen. Oma rupfte schließlich die Federn und füllte damit unsere Kissen und Bettdecken. Neben dem Hühnerstall stand das alte Plumpsklo aus Holz. Das benutzten meine Großeltern nachts aber nicht, da musste die Bettpfanne her. Denn „nachts ist es draußen gefährlich“, sagte Oma. „Nachts sind Geister und Hexen unterwegs und treiben ihr Unwesen.“ Geister und Hexen – das klingt toll, dachte ich. Doch meine Großmutter sagte, vor denen müsse ich mich in Acht nehmen.

Als ich im Religionsunterricht vom 6. und 7. Buch Moses, der Zauberei und dem Aberglauben hörte, wollte ich mehr darüber wissen und ging zu meiner bibelfesten Oma. Doch die wusste nichts darüber. „Ich habe es nicht gelesen und es ist auch besser, wenn man die Finger von solchen Sachen lässt. Das ist Magie und die ist sehr gefährlich“, sagte sie mahnend. Als ich weiter quengelte, fügte sie hinzu: „Da steckt der Teufel drin, der lauert nämlich überall, verstärkt durch Helferlein. Die können zum Beispiel die Gestalt von schwarzen Katzen einnehmen. Die beobachten alles und jeden. Schau also keiner schwarzen Katze in die Augen, wenn du eine siehst, hörst du! Sonst bist du in ihrem Bann gefangen.“

Die Frage, was man anstellen solle mit diesem Leben, behandelten wir einmal in der Schule. Wir sollten auf die Straße gehen und Leute fragen, was für sie der Sinn des Lebens sei. Die meisten wussten auf diese Frage keine Antwort. Manche sagten: arbeiten, heiraten, Kinder kriegen. Viele schauten mich einfach nur interessiert an, als hätten sie diese Frage zum allerersten Mal gehört. Hatten sie vielleicht auch. Ich fragte mich seitdem auch ständig, was der Sinn des Lebens und was vor allem der Sinn meines Lebens sein sollte. Einen Mann finden, Kinder gebären, arbeiten, kochen, putzen, backen, auf das Geld ebenso aufpassen wie auf die Kinder, noch mehr arbeiten, sonntags in die Kirche gehen und dann irgendwann auf dem Friedhof begraben werden? Das konnte nicht alles sein, was das Leben für mich bereithielt. Männer ja, arbeiten ja, aber bitte nur eine Arbeit, die mir auch Spaß macht. So wie die Schauspielerei zum Beispiel. Oder das Singen und das Schreiben. Diese Ideen behielt ich in unserem Dorf in Süddeutschland für mich. Hätte sie jemand verstanden, meine Vorstellungen vom Leben? Vielleicht der Papa, aber wohl auch nicht wirklich. Richtig verstanden hätte es in unserem kleinen Dorf wohl niemand. Ich wollte raus aus der Enge. Ich wollte raus und Abenteuer erleben, Unbekanntes entdecken und herausfinden, warum ich in diesem Leben steckte.

In einer Nacht in dieser Zeit hatte ich einen Traum: Ich flog durch die Luft und hatte dabei das Gefühl, meinen Körper zu verlassen. Mit weit ausgestreckten Armen sauste ich durch die Lüfte, bis alles unter mir, die Straßen, Autos, Bäume und Häuser immer kleiner wurden. Ich flog immer höher und höher, schraubte mich schließlich bis hoch zum Mond. Ich schwebte um ihn herum und landete auf der Rückseite des Mondes. Dort stand ein großer Mann mit breiten Schultern und vollem Haar. Er hatte anscheinend schon auf mich gewartet. Er lächelte mich mit weißen Zähnen freundlich an und machte eine Bewegung mit der Hand, die deutlich machte, dass ich ihm folgen sollte. „Komm, ich will dir etwas zeigen“, sagte er zur Bestätigung. Mehr sprach er zunächst nicht. Er führte mich durch ein großes, graues Tor ins Innere des Mondes. Eine weiße, große Schiebetür öffnete sich und gab den Blick frei in ein riesiges Labor. Blinkende, piepende Monitore, überdimensional große Bildschirme und eine Menge Leute in schneeweißen Anzügen tummelten sich in dem scheinbar endlos großen Raum. Der Mann, der mir seinen Namen nicht nannte, erklärte mir, dass die Erde eine Versuchsstation sei. Hier wurde ausgewählt, welche Seelen auf der Erde sich bewähren und dabei von hier aus beobachtet werden sollten. Von hier aus würde bestimmt werden, welchen Sinn, welche Lebensaufgabe die einzelnen Seelen auf Erden haben sollten. Auch wann diese Menschen sterben sollten, würde von hier aus bestimmt werden. Die Menschen mit ihren auserwählten Seelen wussten davon natürlich nichts. Da auf der Erde das Materielle die herrschende Macht ist, sei es die Seelenaufgabe der auserwählten Menschen, diese Macht zu überwinden und die persönliche Seelenaufgabe, die in jede Seele eingeprägt ist, durch tiefes Vertrauen zu ergründen. Dann drehte sich der Mann zu mir, sah mir in die Augen und sagte: „Auch du hast eine Seelenaufgabe und wir beobachten dich dabei, wie du ihr auf den Grund gehst und sie erfüllst. Aber hab keine Angst! Du hast viele unsichtbare Helfer, die dich auf deinem Weg unterstützen und beschützen.“

Ein bisschen bestärkt, aber mit einem tiefen Gefühl der Sicherheit wachte ich auf und trug dieses Gefühl noch eine Weile in mir – bis ich es an einem Tag in der Schule wieder wegfliegen ließ. Als wir auf dem Gymnasium einen Berufsberatungs-Tag hatten, wurde ich ins Lehrerzimmer gerufen, wo uns Mitarbeiter vom Arbeitsamt nacheinander fragten, was wir später werden wollten. Als ich dran war sagte ich wahrheitsgemäß: „Schauspielerin“. Die Mitarbeiter vom Arbeitsamt und die Lehrer, die drum herumstanden oder sich von der lautstark röchelnden Kaffeemaschine Kaffee in ihre Namensbecher schenkten, fingen an zu lachen. Nicht ein unterdrücktes Kichern, nein, sie lachten richtig. Besonders die zwei Damen und der Herr vom Arbeitsamt lachten. Ich wurde rot und wünschte mir sofort, ich hätte etwas anderes gesagt. Krankenschwester zum Beispiel, oder Sekretärin. Das wollten viele Mädchen aus meiner Klasse damals werden. Ich nicht. Aber konnte ich denn etwas anderes werden?

Mit hängenden Schultern und traurigem Blick ging ich an dem Tag nach Hause. Meine Schwester, die wegen Papa auch Konditorin geworden war, um ihn zu unterstützen, empfing mich triumphierend mit den Worten: „Du bist jetzt eine richtige Frau.“

„Doris, bitte behalt das für dich“, flehte ich. Aber es war zu spät, sie hatte bereits jedem in der Familie erzählt, dass ich meine Periode bekommen hatte. Das blutige Laken von letzter Nacht hatte ich vor meiner Mutter versteckt. Es war mir so peinlich und ich wollte bestimmt nicht, dass jeder davon wusste, schon gar nicht mein Vater. Beleidigt und beschämt schloss ich mich im Badezimmer ein und betrachtete meinen Körper. Hatte ich Star-Potential? Mein Gesicht war zwar ganz hübsch, aber reichte das? Ich fand mich viel zu klein. Sind Stars nicht immer sehr groß? Und kurvig. Meine Kurven waren noch nicht zu erkennen. Am schlechtesten aber bewertete ich mein inneres Potential. Wenn ich das überhaupt so nennen konnte. Ich war doch viel zu dumm, um berühmt zu werden und die Menschen in meinen Bann zu ziehen. „Ja, dumm bist du“, sagte ich zu meinem eigenen Spiegelbild. Nein, so wirst du kein Schauspielstar, dachte ich und überlegte, wie ich meine missliche Lage irgendwie verbessern konnte und öffnete den Avon-Koffer meiner Schwester Doris. Darin hatte sie ihre Lippenstifte, Lidschatten, Mascara und Puderdosen gelagert. Wie eine Miniatur-Kosmetikabteilung eines Kaufhauses. Sie war Kosmetikvertreterin einer großen Firma und ich machte mich über ihren Schatzkoffer her. Sofort begann ich, so wie ich es mir von ihr abgeschaut hatte, mir das Gesicht anzumalen. Nach ein paar Minuten, ich gefiel mir gerade etwas besser, riss meine Mutter die Tür auf und ihre Augen wurden größer und größer: „Um Gottes Willen, mach dich sofort wieder sauber, so lass ich dich nicht auf die Straße, du siehst ja aus wie eine … Naja. Hier sind Binden, die brauchst du ja ab jetzt einmal im Monat. Übrigens darfst du nicht baden, wenn du blutest.“ Dann drehte sie sich schwungvoll um und ich stand wieder allein im Bad. Ich gefiel mir besser mit Schminke. Beim nächsten Mal würde ich es allerdings etwas schlauer anstellen. Ganz früh morgens, wenn ich allein mit meinem Papa beim Frühstückstisch saß und meine Mutter noch schlief, schminkte ich mich für die Schule und konnte so in eine neue Rolle zu schlüpfen. Papa hatte nichts dagegen.

Die Augen schwarz umrandet, die Haare leicht toupiert und die Lippen kirschrot saß ich mit ihm beim Frühstück. Ich erzählte meinem Vater, dass wir in der Schule gefragt wurden, was wir werden wollen und mir sei nichts eingefallen. Ich traute mich nicht, ihm die Wahrheit zu sagen – nämlich, dass ich Schauspielerin werden wollte. Berühmte Schauspielerin. Er überlegte und meinte, dass ich doch Hotelfachfrau werden könne. Dazu müsste ich aber nach München, denn dort gäbe es eine Hotelfachschule. Nach München? Wow! – Ja, das war’s! Außerdem - Stars wohnen in Hotels, überlegte ich. Vielleicht kam ich meiner Vision dadurch ja ein Stückchen näher.

Geschminkt und mit viel Haarspray im Haar ging ich in die Schule. Den Jungs in meiner Klasse gefiel es und damit mochte ich mich gleich noch mehr. Nach dem Unterricht traf ich meinen Freund, den alle „Schubi“ nannten. Er war DJ im „Aquarium“, einer Disco in Nördlingen, und fuhr eine rote Vespa Piaggio. Schubi trug die blonden Haare lang wie alle um ihn herum. Er verstand was von Musik und Haschisch. Und damit war er für mich der aufregendste Junge weit und breit. Er lud mich zusammen mit drei Freunden auf einen Joint ein. Es war mein erstes Mal. „Tief inhalieren und dann ganz lange die Luft anhalten“, instruierte Schubi mich. „Und wenn dir schlecht wird, musst du kaltes Wasser über deine Schläfen und Handgelenke laufen lassen“, warnte er noch. Beim ersten Mal passierte nichts, ich musste husten. Der Klassiker. Nach einigen Anläufen spürte ich schließlich, wie sich langsam ein wohlig warmes Gefühl in meinem Inneren ausbreitete und ich mich ganz leicht fühlte. Alles lief so langsam ab, aber sehr friedlich dabei. Es gab keine Anweisungen, keine Regeln, die es zu beachten gab. Alles, was es gab, war das Hier und Jetzt.

Schubi und ich wurden ein Paar. Ich war 16 und natürlich noch Jungfrau, deswegen war ich froh, dass er irgendwann die Initiative ergriff: „Beim ersten Mal wird es ein bisschen weh tun, du darfst dich nicht verkrampfen. In Ordnung?“ Es war weniger schlimm, als ich befürchtet hatte. Doch als wir gerade dabei waren einzuschlafen, erschrak ich. Schubi säuselte „ich liebe dich“ in mein Ohr und dass er sich eine Zukunft mit Haus und Kindern mit mir vorstellen könne. Ich weiß, viele hätten sich an meiner Stelle genau das gewünscht oder nicht einmal zu erträumen gewagt, aber in mir haben diese Sätze in der Nacht Angst ausgelöst. Große Angst. Ich wollte nach München auf die Hotelfachschule und von dort irgendwann die ganze Welt sehen und erleben. Ich wollte doch Menschen kennenlernen und vor allem herausfinden, wer ich bin und warum ich hier auf dieser Erde bin. Ich musste doch finden, was noch alles in mir steckt und ich wollte Schauspielerin werden. Vielleicht gab es ja doch irgendwie eine Möglichkeit. Hier in der Provinz würde ich so eine Möglichkeit sicher nicht finden.

Ich wusste schon als Kind, dass es eine meiner Aufgaben sein würde, aus der Provinz rauszukommen. Nicht, weil ich mich als besser, gebildeter oder in irgendeiner Weise befähigter fühlte als die 800 Bewohner von Utzmemmingen, sondern weil ich das Gefühl hatte, mich zeigen zu müssen. So wie ich bin, auf einer Bühne, vor Publikum. Mir im Wege standen aber oft meine Ängste. Auch meine Angst vor Konflikt, Streit, Ablehnung. Deswegen habe ich mich gerade in Bezug auf Männer, aber auch auf dominante Frauen immer gefügt und unterlegen gezeigt. Obwohl ich das gar nicht war, aber ich hatte einfach Angst vor dem Verlust des anderen. Mein Spitzname war daher lange Zeit „Hase“. Harmlos wie ein Hase. Stellt kaum Ansprüche, macht keine Szenen, bezahlt brav die Rechnungen. Naja, ganz so war es nicht immer. Ich konnte ganz schön ausflippen, wenn meine wunden Punkte getriggert wurden. Lange Zeit schluckte ich alles herunter, ertrug Erniedrigungen und Ungerechtigkeit und dann plötzlich, paff, wie eine als Häschen verkleidete Frau, die aus einer Torte hüpft, konnte ich aus der Haut fahren – und mich dann praktisch nicht mehr einkriegen. Diese Momente des Kontrollverlustes spiegelten sich dann auch in meinen Handlungen wieder. Plötzlich betrog ich den Mann, den ich liebte, um ihn zu verletzen, und fügte mir dabei noch viel größeren Schaden zu. Auf einmal verließ ich Wohnungen, Orte, um die Zurückgebliebenen damit vor den Kopf zu stoßen, und rannte dann selbst gegen eine Wand.

Mit Anfang 20 las ich das Buch „Die Einweihung“ von Elisabeth Haich. Darin erzählt sie von vorherigen Leben. Das faszinierte mich. Sollte es etwa mehr als dieses eine Leben geben? Hatte ich schon mehrfach gelebt? Welche Personen habe ich in meinen vorherigen Leben verkörpert? Vielleicht war es zu dieser Zeit, als ich bewusst begann, mich meiner Lebensangst zu stellen und herauszufinden, was meine Aufgabe in diesem Leben ist. Und welche Rolle meine vorherigen Leben spielen.

Alles, was ich gelernt habe, habe ich immer durchs Machen gelernt. Theoretisch hätte ich einiges vorher wissen können, aber ich musste es immer auch praktisch ausprobieren. Auch wenn ich damit blaue Flecken und tiefen Herzschmerz in Kauf nehmen musste.

Das Herz schmerzte mir eigentlich immer. Ständig saß ich in meiner ersten Münchner WG auf dem Holzstuhl neben dem grünen Wählscheibentelefon und wartete. Die Lehne des Stuhls war so kerzengerade, dass es nur zwei Sitzpositionen gab: aufrecht wie in einem rechten Winkel oder vornüber gebeugt, den Kopf herunterhängend. So saß ich da und wartete, dass Thomas, Rainer, Bernd oder Christian, oder wer auch immer es war, zurückrief. Ich fand einfach die Balance nicht, verstand nicht, was ich falsch machte. Was falsch an mir war. So weinte ich meine Kissenbezüge nass und streifte nachts durch die Bars – immer auf der Suche.

Groupie, Boss & Angel

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