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Kapitel 2: Im Namen des Zeus
ОглавлениеZeus, meine große Liebe, Leidenschaft und Leidenserfahrung, lernte ich kennen, kurz nachdem mich die Polizei mit einem Joint in einer Münchner Disco erwischt hatte. Ich war 16 und die Kneipe „Münze 7“ mein Abenteuerspielplatz. Im Erdgeschoss eine Disco mit alten Autositzen als Deko, im 1. Stock standen Spielautomaten, im 2. Stock liefen auf mehreren Fernsehern unterschiedliche Videos und im 3. Stock war die Tee-Stube. Hier saß man herum, las Comics, trank Tee und, na klar, kiffte. Der Joint war immer dabei. Ich war schon ziemlich high, als ich noch mal an einem Joint zog, der gerade rumgereicht wurde. Plötzlich stürmten schwer uniformierte Polizisten die Treppen hoch und brüllten laut durcheinander. Ein Typ neben mir sagte: „Shit, das ist ‘ne Razzia!“ Mein Kopf war so langsam, dass ich die Szene um mich herum gar nicht begriff. Eben war doch noch alles so friedlich – und in meinem Kopf war es das doch immer noch. Während ich dem Treiben um mich herum noch glasig zuschaute, stand plötzlich ein Polizist vor mir und rief mir zu: „Ausweiskontrolle!“ – „Den hab ich nicht dabei“, sagte ich wahrheitsgemäß. „Und wie alt bist du?“, fragte er weiter. Ich war nie wirklich gut im Lügen und so sagte ich die Wahrheit: „16.“ Das war das Stichwort. Ich wurde mit einigen anderen in einen Bus verfrachtet und auf die nächste Polizeiwache gefahren. Meine Freundin Uschi, bei der ich damals in München wohnte, hatte Glück. Sie war schon 18. Sie wurde nicht mitgenommen. Im Bus kam ich mir ziemlich cool vor. „Ist doch lässig, so ‚Bonny und Clyde’-mäßig auf die Wache gefahren zu werden“, dachte ich mir in meinem verkifften Kopf. Doch kaum auf dem Revier angekommen, löste sich der Nebel, der meine Gedanken eingenommen hatte, schlagartig auf. „Meine Eltern flippen aus, wenn sie davon erfahren!“ Ihr kleines Mädchen aus Utzmemmingen bei Bopfingen am Ipf in der Nähe von Pflaumenloch. Ja, so hieß das kleine Städtchen, in dem ich meine ersten 16 Jahre verbracht habe.
Da stand ich also zwischen lauter Partygästen auf dem Polizeirevier und fühlte mich wie ein kleines Mädchen aus der Provinz. „Bitte rufen Sie meine Eltern nicht an, die trifft der Schlag! Ich verspreche, dass ich ab jetzt immer ab 22 Uhr die Disco verlasse und mich nirgendwo herumtreibe. Versprochen!“ Der Polizist war fast drei Köpfe größer als ich und sah mich aus dunkelblauen Augen an. „Hm! Na gut. Ausnahmsweise drücken wir ein Auge zu. Aber morgen rufen wir deine Eltern an und erzählen ihnen, wo du dich herumgetrieben hast. Und wehe, wir erwischen dich hier noch mal. Noch mal kommst du nicht so einfach davon, du hast da doch mit gehascht?“, fragte er streng. „Ich? Nein, ich weiß doch gar nicht, was das ist!“, log ich dieses Mal recht gekonnt. Dreißig Minuten später ging es im Streifenwagen zur Wohnung von Uschi. Zum Glück.
In Uschis Wohnung angekommen fühlte ich, wie die bleierne Schwere des Marihuanas meine Arme und Beine einnahm. Mit Make-up-verschmiertem Gesicht, nach Rauch und Alkohol müffelnden Haaren und in meinen speckigen Jeans fiel ich ins Bett und in Sekundenschnelle in einen tiefen Schlaf. Am nächsten Tag, ein Samstag, schlich ich ständig um das Telefon herum. Jeden Moment erwartete ich den drohenden Anruf meiner Eltern. Es wurde Mittag, es wurde Nachmittag. Nichts. Als ich am Abend immer noch keinen Anruf aus der Provinz bekommen hatte, begann ich still zu triumphieren. Die Beamten hatten nicht angerufen, meine Eltern würden von meinem ausufernden Leben in der Stadt nichts mitbekommen. „Na also, geht doch“, dachte ich. Zumindest bis dahin …
Die nächsten Abende trieb ich mich ab 22 Uhr auf der Straße vor den Kneipen herum und wartete auf Uschi. Mein Versprechen, zwei Stunden vor Mitternacht jegliche Lokalität zu verlassen, wollte ich einhalten. Während Uschi in den Kneipen noch rauchte und mit den Männern Bier trank, stand ich zwischen Prostituierten mit blonden Perücken und Freiern in Cordhosen auf dem Bordstein. Manchmal hielt mich einer der Männer in einem vorbeifahrenden VW-Passat für eine mögliche Begegnung der schnellen Zweisamkeit, aber ich lernte nach kurzer Zeit, mich abzugrenzen. Mit wütendem Blick zischte ich ihnen entgegen, sie sollten sich verziehen, sonst würde ich die Polizei rufen. Jawohl. Oft war das aber nicht nötig. Meistens stand ich umringt von meinen männlichen Freunden und Verehrern. Ich liebte es, umschwärmt und angelächelt zu werden. Mit meinen blauen Augen, den strohblonden Haaren, meinen weißen Zähnen und meinen geraden, schönen Beinen liebte ich es, im Mittelpunkt zu stehen. Und so stand ich zwischen den Jungs, tanzte um meine eigene Achse und lachte dann charmant in die strahlenden Gesichter.
An einem dieser Abende kam Uschi plötzlich aus der Kneipe gestürmt, nahm mich am Arm und sagte: „Ich hab da so einen Typen kennengelernt, das ist ein Freund von Zeus, der lädt uns auf eine Party ein, wo Zeus auch sein wird“, flüsterte sie so, dass die anderen Jungs es nicht hören konnten. Zeus? Mein Schwarm aus dem Café „Europa“ in Schwabing. Der schönste Mann, den sie und ich je gesehen hatten! Der sollte da sein? „Na, da gehen wir auf jeden Fall hin“, rief ich. Als wir auf die Party kamen, öffneten uns zwei Frauen in bunten Schlaghosen die Tür, ihre braunen Haare reichten fast bis zum Po. Überall standen Gläser auf dem Fußboden, in den schummrigen Ecken wurde gefummelt und geknutscht und in der Mitte des Raumes bewegte eine Gruppe Frauen und Männer langsam ihre biegsamen, schmalen Körper zu den Bassklängen der Musik. Uschi und ich schlichen durch die Räume der 5-Zimmer-Wohnung und hielten Ausschau nach Zeus. Doch der große schlanke Mann mit den langen braunen Haaren und den weit auseinanderstehenden Augen war noch nicht da. Klar, wer angesagt ist, taucht nicht gleich zu Beginn einer Party auf – so wie wir zwei Provinzmädchen.
Um 3 Uhr morgens war Zeus immer noch nicht aufgetaucht, aber das war uns inzwischen egal. Bekifft von dem starken Gras, das uns der schwarzhaarige Typ mit den langen Fingernägeln zu einem Joint gerollt hatte, spielten wir mit Schrat und Joachim hinter den Sofas und Sesseln Verstecken und konnten nicht aufhören zu lachen. Schließlich gingen wir zu viert Arm in Arm nach Hause und freuten uns einfach, auf der Welt zu sein. Das Leben kann doch so schön sein! Als wir gerade beim Frühstück in Uschis Küche saßen, klingelte es. Als ich aufmachte, schaute ich direkt in Zeus’ geheimnisvolle dunkle Augen. Konnte das Zufall sein? Uschi und ich ließen die Hotelfachschule für den Tag (mal wieder) sausen und gingen mit den drei Jungs in den Englischen Garten. Wir lagen im weichen Gras, kühlten unsere Füße im Eisbach und blinzelten in den bayerisch-blauen Himmel, während Zeus auf seiner Gitarre spielte und dazu sang. Die beiden anderen Jungs schnipsten im Takt und summten mit. Wenn man ein Glücksgefühl, die unendliche Leichtigkeit und berauschende Harmonie in einem Glas einfangen könnte, um diese Emotionen immer wieder einatmen und fühlen zu können, ich hätte das größte Einwegglas genommen, das ich finden konnte. Wir schwebten den ganzen Tag auf unserer Wolke und schliefen am Abend zu fünft in Uschis Wohnzimmer auf dem Sofa und dem Teppich ein. Der schrille Ton des Wählscheibentelefons weckte mich. Verschlafen ging ich ran. „Ja bitte?“ – „Wenn du nicht sofort nach Hause kommst, dann kannst du aber ein Donnerwetter erleben! Dann lassen wir dich mit der Polizei abholen!“, schallte es aus dem Hörer. Erschrocken legte ich auf. Hektisch weckte ich die anderen und erzählte, was mir drohte. Alle waren erschrocken und ratlos, da klingelte es an der Tür. Die Hausbesitzerin. Mit lauter tiefer Stimme und im satten Niederbayerisch beschimpfte sie Uschi und mich als „rauschgiftsüchtige Huren“ und sagte, wir hätten 30 Minuten Zeit die Wohnung zu verlassen. Kaum hatte ich die Tür vor ihrer Nase zugeschlagen, blickte ich mich hilfesuchend zu den anderen um. Zeus sagte: „Keine Panik, ihr könnt mit zu mir kommen, ich habe ein Zimmer zur Untermiete.“
Wir nahmen, was wir tragen konnten, und trotteten wie eine kleine Karawane durch die Straßen bis zu unserer neuen Bleibe. Die war nicht groß, nur ein Zimmer, aber wir machten es uns auf unserem Matratzenlager zu fünft gemütlich. Die nächsten Tage verbrachten wir genau dort. In unseren Nachthemden hockten wir mit den Jungs auf den Matratzen, rauchten, tranken und diskutierten darüber, in welche Richtung sich das Leben unserer Zeit verändern sollte. Ich hörte eigentlich eher zu. Andächtig und mit großen Augen. Besonders wenn Zeus sprach, denn dann war es besonders interessant. Nachts lagen wir wie die Grillwürstchen nebeneinander. Wenn sich einer umdrehen wollte, mussten die anderen vier mit – am besten alle in die gleiche Richtung, sonst drohten Nasenstöße. Morgens schwang ich mich in zwei Zügen (erst vom Liegen ins Sitzen, dann vom Sitzen ins Stehen) aus unserem Lager, machte mich fertig und ging zur Hotelfachschule. Da war ja noch was. Die Ausbildung, die ich mit geringstmöglichem Aufwand irgendwie weiterführte. Uschi konnte ich dazu nicht überreden. Sie blieb meistens liegen. Nach meinem kurzen Ausflug in die Spießer-Welt voller Regeln kehrte ich zurück in unsere Hippie-Höhle. Dort gab es heute ein neues Diskussionsthema. Beziehung zwischen Mann und Frau. Sehr spannend, wie ich fand. Also setzte ich mich in den Schneidersitz und hörte zu. Zeus hatte zu diesem Thema eine eindeutige Meinung: „Diese Pärchen-Beziehungen sind der Anfang allen Übels.“ Ich schluckte. „Wir müssen eine Gemeinschaft schaffen, in der alles offen und frei ist, in der sich Paare nicht abkapseln. Eifersucht und Neid müssen dabei als erstes verschwinden“, sprach er und alle nickten fleißig. Ab sofort wollten wir nun alle danach leben. Ganz frei, ganz locker, alles „easy“.
An einem Sonntag wollten Uschi und ich dann unsere letzten Sachen aus ihrer alten Wohnung abholen. Die Miete war bis zum Monatsende bezahlt und heute war der letzte Tag, an dem wir unser zurückgebliebenes Zeug noch holen konnten. Als wir die Tür aufsperrten, wären wir am liebsten sofort die Treppen wieder heruntergerannt. Aber es war zu spät, sie hatten uns gesehen. Unter den strengen Augen meiner Schwester Doris, ihrem Mann und meinem Vater trat ich in den Flur, Uschi direkt hinter mir. „Dann können wir ja nach Hause fahren“, sagte mein Vater und fing an, meine Sachen in eine Tasche zu packen. Meine Schwester schob mich aus der Wohnung, mein Schwager ging vor mir her. Hilfesuchend blickte ich mich zu Uschi um, die stand mit großen Augen im Flur. Keine zwei Minuten später saß ich im Auto, meine Schwester und ihr Mann neben mir. „Aber Papa, ich will doch in München bleiben, ich muss morgen wieder zur Schule, ich will nicht nach Utzmemmingen“, heulte ich jetzt wie ein kleines Mädchen.
Mein Vater legte wortlos den Gang ein und gab Gas. Auf der Fahrt in die Provinz sang ich vor mich hin. Es beruhigte mich und ich wollte, dass es die anderen nervte. Ich sang:
„Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten. Sie fliegen vorbei wie nächtliche Schatten. Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen. Mit Pulver und Blei. Die Gedanken sind frei. Ich denke, was ich will und was mich bedrücket. Doch alles in der Still, so wie es sich schicket. Denn meine Gedanken, die brechen die Schranken und Mauern entzwei. Die Gedanken sind frei.“
Zuhause empfing uns meine heulende Mutter. Sie zeterte und schimpfte, mein Vater grummelte und meine Schwestern sagten gar nichts. Ich ging in mein Zimmer und schloss mich ein. Ich wollte mich gerade heulend auf mein Bett werfen, als es an meiner Tür klopfte. „Ich mache nicht auf, lass mich in Ruhe“, rief ich. „Fein“, sagte meine Schwester. „Dann erzähle ich dir eben durch den Türspalt, was unsere Eltern mit dir vorhaben.“ Ich hob den Kopf und lauschte. „Du sollst mit zu mir kommen, nach Bopfingen, und morgen gehst du dort zum Arzt. Ich soll dich begleiten“, sagte sie emotionslos. Ich sagte nichts. Jedes Widerwort könnte meine Situation jetzt noch verschlechtern. „Ruhig bleiben und einen Plan schmieden“, sagte ich leise zu mir selbst. Ich packte ein paar Klamotten in einen Stoffbeutel zusammen, öffnete die Tür und ging unter den strengen Blicken meiner Schwester die Treppe herunter. Sie und ihr Mann ließen mich die nächsten Stunden nicht aus den Augen. Im Auto drehte ich mich nicht mehr nach meinen Eltern um, obwohl ich wusste, dass meine Mutter verheult in der Tür stand und mir hinterhersah. Mein Vater war, nachdem er mich zu Hause abgeliefert hatte, wieder wortlos in die Konditorei gegangen. Er war der Schweigsamere in der Ehe meiner Eltern. Was manchmal wirklich ärgerlich war, denn er wusste meistens das Richtige zu sagen. Mit Feingefühl und ruhiger Stimme. Ganz im Gegensatz zu meiner Mutter. Sie verstand es genau dann mit Vorwürfen und Schimpftiraden um sich zu werfen, wenn die Luft durch die angestaute negative Energie eh schon vibrierte. Diese Energie schien sie noch aufzuladen und sie redete sich erst recht in Rage. Ich glaube, meinem Vater kam es manchmal ganz gelegen, dass er wegen der Arbeit in der Konditorei immer so früh schlafen gehen musste.
In Bopfingen angekommen, gab ich vor in einem Buch zu lesen. Meine Schwester kümmerte sich um ihr schreiendes Baby und ihr Mann klapperte in der Küche mit den Töpfen herum. Meine Tasche stand im Flur. Seit meine Schwester mich über den Plan meiner Eltern informiert hatte, versuchte ich einen Plan zu schmieden, wie ich aus dieser Situation rauskäme. Jetzt schien die Situation günstig. Die Erwachsenen waren abgelenkt und der Geräuschpegel hoch. „Könnte klappen“, murmelte ich leise und schlich auf Zehenspitzen Richtung Tür. Mein Schwager hatte inzwischen das Radio angemacht, das das Baby noch überschallte. Mit der einen Hand griff ich meine Schuhe, mit der anderen meine Tasche, Tür auf, raus auf den Flur. Auf Socken lief ich die Treppen hinunter, schlüpfte unten im Hausflur in meine Schuhe, rannte auf die Straße und hielt das erste Auto an. „Nehmen sie mich mit nach Nördlingen?“, rief ich atemlos in den Opel Kadett hinein. „Ja, das liegt auf dem Weg“, antwortete eine nette Frauenstimme. Tür zu und los. Im Rückspiegel konnte ich die Fenster zur Wohnung meiner Schwester sehen. Alles ruhig, sie hatten meine Flucht noch nicht bemerkt.
Von Nördlingen aus nimmt mich ein netter Schweizer mit nach München und schon stehe ich wieder in unserer WG-Höhle und schaue in vier ungläubige Augenpaare. „Mensch Angie, das ging ja schnell!“, rief Schrat. Mein geglückter Ausbruch aus der Provinz musste natürlich sofort gefeiert werden. Tasche abgestellt, Joint angezündet, Gedanken abgeschaltet. Herrlich. Als die ersten Nebelschwaden sich wieder lichteten, sagte Zeus: „Wir müssen etwas unternehmen. Es besteht die Gefahr, dass deine Eltern dich in eine Erziehungsanstalt stecken. Das darf nicht passieren.“ Ich nickte langsam. „Ich werde deine Eltern davon überzeugen, dass es das Beste ist, wenn du hierbleibst“, sagte er und stand auf. Im Türrahmen sah er mich auffordernd an. „Was jetzt?“, frage ich und springe schwankend auf. Wir laufen zur nächsten Telefonzelle und ich wähle die Nummer. Es tutet zweimal, dann geht meine Mutter ran. Zeus reagiert sofort: „Hier ist Peter März, Ihre Tochter Angela ist bei uns. Bitte tun sie nichts, ihr geht es gut hier und morgen geht sie wieder in die Schule“, höre ich ihn mit geschäftsmäßig monotoner Stimme sagen. „Wir würden Sie außerdem gern am Wochenende besuchen und einiges klarstellen“, fährt er fort. „Wunderbar, vielen Dank.“ Er legt auf und drückt die Tür der Telefonzelle schwungvoll auf. Ich tapse ihm hinterher. Zeus ist so viel durchsetzungsfähiger und männlicher als die Jungs in der Provinz. So erwachsen, aber gar nicht spießig und engstirnig, sondern kreativ und frei. Ich bin begeistert und merke, dass ich mich noch nie so zu einem Mann hingezogen gefühlt habe. Abends liegen wir fünf wieder wie die Rollmöpse auf unserem Matratzenlager. Jeder bekommt einen Kuss, mehr passiert nie. Dann schlafen wir.
Nachts wache ich auf, weil sich neben mir etwas bewegt. Als ich mich umdrehe, sehe ich Zeus und Uschi kuscheln, eng umschlungen. Mein Magen kneift. Ich presse die Augen zusammen und versuche wieder einzuschlafen. Morgens stehe ich auf, um in die Berufsschule zu gehen. Stumm verlasse ich die Wohnung. Auf der belebten Münchner Straße sind die Leute fröhlich. Das flaue Gefühl in meinem Magen ist noch da. Warum können andere fröhlich sein und ich nicht? Sich freudestrahlend etwas erzählen und dabei mit den Händen in der Luft kreisen, sich zum Abschied umarmen und dann mit großen Schritten davongehen. In ihr fröhliches Leben. Meine Schritte sind klein und zaghaft. Ich weiß nicht, wo ich hingehöre. In mir ist so viel Sehnsucht. Die Sucht nach dem Kribbeln im Bauch. Die Suche nach dem Glück.
Ich sitze teilnahmslos in der Schule und denke auf dem Nachhauseweg weiter nach. Zeus und Uschi. Zeus und ich. Als Paar würde das doch gar nicht gehen. Denn das war ja genau das, wovon Zeus als „Wurzel allen Übels“ gesprochen hatte. Exklusivität, Eifersucht, Enge. Eine Person nur für sich haben zu wollen, zerstört die Gemeinschaft.
Am Wochenende fuhren wir fünf nach Utzmemmingen, damit Zeus und die Jungs wie vereinbart meine Eltern besuchen konnten. Fünf Langhaarige mit der Mission mich in ihrer Gruppe zu behalten. Zeus war wieder so souverän, so stark, so sicher. Wie vor ein paar Tagen in der Telefonzelle. Meine Eltern waren beeindruckt und ließen mich endgültig ziehen.
Ich war jetzt ein sicheres Mitglied unserer Fünfer-Familie. Zeus der Anführer, Schrat der Spaßmacher, Max der Tiefgründige, Uschi die Wilde und ich? Der Hase, die Stille, die Vernünftige, die ihre Ausbildung im Hotel brav weitermacht, zur Berufsschule geht, ein bisschen Geld verdient, den Kühlschrank füllt, die Krümel aus den Bettlaken schüttelt, die Aschenbecher leert und die Wäsche in den Waschsalon schleppt und wartet, bis alles sauber ist.
Es nahte der Kontrollbesuch meiner Eltern. Nachdem Zeus sie davon überzeugt hatte, dass er und meine Clique im besten Sinne ein guter Umgang für mich seien, wollten meine Eltern – vor allem meine Mutter – sehen, wie wir denn in München so lebten. Wir schrubbten den Fußboden, schüttelten die staubigen Vorhänge aus, wuschen die wenigen Teller und Becher ab, die wir hatten, und rissen alle Fenster auf. Meine Mutter inspizierte scheinbar jeden Quadratzentimeter der kleinen Studentenbude, mein Vater folgte ihr wortlos. „Viel Platz habt ihr ja nicht, aber ihr seid ja noch jung, das dürfte reichen. Wo schlaft ihr denn alle“, fragte sie. „Na hier“, sagte Uschi und deutete auf die Dielen des Fußbodens. „Was? Hier? Um Gottes Willen“, erschrak meine Mutter. „Das geht so nicht“, sagte sie und bahnte sich einen Weg an uns vorbei Richtung Wohnungstür.
Noch am selben Abend rief sie mich an und sagte, dass ich in einer kleinen Dachwohnung meiner Tante wohnen könne. Ab sofort. Damit war ich also auf mich allein gestellt. Ohne meine Clique, in der ich der Hase war. Der Hase, der sich stets fügte. Bloß keine Auseinandersetzung.
Mein Bild von mir nervte mich. Und allmählich fing mich auch unser Bild von der freien Liebe an zu nerven. Was ist daran frei, wenn man sich vor Liebeskummer heimlich in den Schlaf weint? Was ist schlimm daran, wenn Mann und Frau nur einander haben? Und nicht zwei Frauen einen Mann oder umgekehrt oder wie auch immer. Mich nervte dieser Zustand jedenfalls. Ich wollte Zeus für mich. Ich wollte seine Freundin sein. Seine feste Freundin. Und ich wollte meine Clique nicht verlassen. Wir fünf waren wie eine Familie. Uschi die dominantere von uns beiden Frauen. Sie bestand sehr darauf, dass jeder weiterhin mit jedem Sex haben könne und es kein Recht auf Exklusivität gäbe. Und die drei Jungs natürlich auch, war es doch Zeus’ Überzeugung, dass eine feste Partnerschaft nur Negatives mit sich bringen würde. Umso überraschender war es, als er seine Meinung änderte.
Nach dem Besuch meiner Eltern tat ich so, als sei ich in die kleine Dachwohnung bei meiner Tante gezogen. Sie duldete keinen Männerbesuch und ich wollte nicht mehr ohne Zeus sein, also überlegte ich mir etwas. Früh morgens schlich ich mich in das Zimmer, zerwühlte das Bett, damit meine Tante dachte, ich hätte dort übernachtet. Tatsächlich aber schlief ich weiterhin jede Nacht auf unserem Fünferlager. Die Bindung zwischen mir und Zeus wurde immer enger, bald schlief er nur noch mit mir und nicht mehr mit Uschi.
An einem Freitagmorgen, wir schliefen alle noch, klingelte es plötzlich mehrmals an der Tür. Wer konnte das sein so früh? Es waren Zeus’ Eltern. Wütend schob sich seine Mutter durch die Tür, als er öffnete, und drehte sich mehrfach in unserem Wohnzimmer um die eigene Achse und gestikulierte mit ihren Armen wie ein Dirigent. „Wir haben einen Brief von deiner Schule bekommen, du warst seit Wochen nicht dort. Das eine sage ich dir, Junge. Wenn du dort nicht mehr hingehst, dann bist du auf dich allein gestellt. Von uns gibt es dann keinen Pfennig mehr!“ Wie mein Vater stand auch der Vater von Zeus eher hilflos und steif wie ein Paket im Weg herum. Unangenehme Dinge zu klären, war scheinbar irgendwie Frauensache. Und als hätte sie ihn bestellt, quetschte sich noch der dickbäuchige Vermieter keuchend durch den Türspalt und blies die Backen auf. „Wie sieht’s denn hier aus? Und warum sind hier so viele Menschen? Was ist das hier, ein Lager für Vagabunden? So etwas gibt es in meinem Haus nicht!“, rief er mit leicht kieksender Stimme.
Nach dem Besuch, der sich anfühlte, als hätte ein starker Wind das Zimmer verwüstet, saßen wir zusammen und überlegten. „Ich suche uns was Neues“, sagte Uschi. Und alle waren froh, dass wieder eine Frau wusste, was zu tun sei. Und sie fand tatsächlich eine neue Bude – was für eine Erleichterung. Die fünf Freunde konnten zusammenbleiben. Wir zogen ein, schlugen unser Lager auf dem Boden auf und lebten weiter wie bisher. Mit dem Unterschied, dass Zeus und ich jetzt ein Paar waren. Entgegen aller Überzeugung hatte es sich einfach so ergeben. Ich war überglücklich und himmelte Zeus an. Ich liebte alles an ihm. Seine schulterlangen, braunen Haare, seine dunklen, weit auseinanderstehen Augen, die einen so magischen Blick hatten, dass ich auch nach Monaten noch Gänsehaut bekam. Seine markanten Gesichtszüge, seine schönen Hände, die auch durchs Gitarrenspielen nicht ihre zarte Weichheit verloren. Seine große Gestalt und sein breites Grinsen, wenn er zur Tür hereinkam. Zeus war alles für mich. Und ich wollte alles für ihn sein – Frau, Geliebte, Beschützerin, fürsorgliche Mutter. Ihn stellte ich an erste Stelle und mich dahinter. Zeus gefiel das. Vielleicht hat er unsere Rollenverteilung aber auch nicht so bewusst wahrgenommen. Eine, die uns bewusst wahrnahm, war Uschi. „So geht das nicht, ihr zwei. Hier gibt es feste Regeln. Alle sind frei, Pärchen gibt es nicht und jeder kann die Liebe des anderen empfangen und weitergeben. Wenn ihr euch weiter so abkapselt, müsst ihr ausziehen. Ihr habt die Wahl. Entweder ihr bleibt hier in unserem Zuhause oder ihr macht euer eigenes Ding“, verkündete sie eines Abends und stand angriffslustig vor uns, die Fäuste in die Hüften gestemmt.
Unsere Wahl war klar. Wir gegen den Rest der Welt. So empfand ich es. Also hieß es wieder umziehen. Doch wohin? Zeus’ Eltern hatten ihm den Geldhahn zugedreht, weil er nun gar nicht mehr zur Schule ging. Mit zwei Taschen, meinen persönlichen Sachen und meiner Hoteluniform, die ich während meiner Ausbildung zur Hotelfachfrau in einem Münchner Hotel trug, Zeus mit seinem alten Lederrucksack und seiner Gitarre, standen wir auf dem Bürgersteig. Die Münchner um uns herum beachteten uns nicht, hetzten weiter durch ihr strikt durchorganisiertes Leben mit den Gedanken bei der nächsten Verpflichtung, dem nächsten Termin oder noch bei der morgendlichen Zankerei zwischen Frühstück, Badezimmer und Hausflur, aber nicht mit einer Zelle ihres Körpers im Hier und Jetzt. Für Zeus und mich gab es nur das Hier und Jetzt. Und im Hier und Jetzt waren wir obdachlos und hatten nur noch ein paar Mark in der Tasche. Die ersten drei Nächte fanden wir Unterschlupf bei einem Freund. Doch weil seine Wohnung schon von zu vielen Menschen bewohnt war, schliefen wir nachts auf unserer ausgebreiteten Kleidung auf dem Flur. Abends mussten wir warten, bis alle in ihren Zimmern waren und morgens mussten wir als Erste aufstehen, damit wir den Flur nicht blockierten. Zeus streifte tagsüber umher auf der Suche nach einem Job, während ich morgens in meiner dunkelblauen Hoteluniform frisch gestylt ins Hotel ging. Nach drei Tagen hatte Zeus einen Job als Fahrer bei einer Arzneimittelfirma. Die gab ihm einen grünen Renault 4 zum Ausfahren der Ware. Der Wagen wurde unser neues Zuhause. Abends fuhren wir an einen Waldrand, klappten die Sitze zurück und machten es uns so gemütlich es ging. Morgens fuhr Zeus mich zum Hotel, wo ich mich im Badezimmer des Angestelltenzimmers duschte, schminkte und den Rest meiner Sachen in einer Tüte versteckte. Niemand bemerkte, dass ich keinen festen Wohnsitz hatte, und nicht mal Zeus und mich störte das sonderlich.
Nach einer Weile fanden wir ein leer stehendes Haus. Die ersten beiden Stockwerke wurden als Toiletten benutzt, doch je weiter man hochstieg, desto erträglicher wurde der Geruch. Ganz oben lagen Matratzen verteilt auf dem Boden. Einer von ihnen, wir nannten ihn den „Clochard“, weil er gebildet und fast vornehm immer in einem langen Mantel auf seiner Matratze saß und las, hatte so was wie die Aufsicht hier. Er befragte uns kurz und wies uns dann eine Matratze und eine Kerze zu. Und so lagen wir da zwischen Bettlern, Landstreichern und Aussteigern auf unserer Matratze und versuchten zu schlafen. Der Kerzenschein der vielen Kerzen tanzte an der Decke und verbreitete eine fast romantische Stimmung. Trotzdem hatte ich ein bisschen Angst. Ich war die einzige Frau unter lauter Männern und spürte ihre interessierten Blicke auf meiner Haut. Ich wickelte mich eng in meine Wolldecke und presste mich ganz dicht an Zeus. Nach ein paar Tagen gewöhnte ich mich an unser neues Beton-Zuhause. Die anderen akzeptierten mich entweder oder ignorierten mich, was mir auch recht war.
Zeus und ich freundeten uns mit dem Clochard an. Bei flackerndem Kerzenschein saßen wir abends da und hörten uns seine Theorien über die Gesellschaft an: „Lasst euch nicht von der Gesellschaft kaufen. Ihr beide seid klug, so wie wir alle hier. Die Gesellschaft glaubt, sie lebe mit ihrem Lebensmodell in Sicherheit, aber sie irrt. Man muss seinem Glück eine Chance geben, aber wie kann man das, wenn bis zur Rente jedes Detail und jeder Tag genauestens verplant sind? Wir hier leben jetzt noch am Rande der Gesellschaft, aber wartet es nur ab, das wird sich ändern. Es wird eine Zeit kommen, in der sich alle Außenseiter zusammentun, eine neue Gesellschaft gründen und damit das bisherige System stürzen. Unsere Zeit wird kommen, habt nur Geduld.“ Während er das sagte, saß er mit seinem schwarzen Mantel im Schneidersitz und gestikulierte langsam mit den Händen, fast so, als würde er etwas in der Luft hin und her schieben. Seine langen braunen Haare fielen dabei in Strähnen über seine Schultern, sein Schatten flackerte im Kerzenlicht. Ich fand ihn sehr sympathisch. Zeus war absolut überzeugt von ihm. Beim Einschlafen sagte er: „Entweder werde ich Pop-Star oder Clochard.“ Wäre es nach seinen Eltern gegangen, wäre er Arzt geworden. Wie sein Vater.
Die Idylle in dem Abbruchhaus bekam nach ein paar Wochen kleine schwarze Flecken. Nämlich auf unseren Köpfen. Läuse. Wir kratzten uns die Kopfhaut blutig, wuschen uns ständig mit Regenwasser die Haare, aber wir wurden die winzigen Tierchen nicht los. Da Zeus als Arzneimittelfahrer immer Medikamente in seinem Wagen hatte, suchten wir den R4 von oben bis unten ab und wurden tatsächlich fündig. Ein Läusemittel! Wie Wasser schütteten wir die stinkende Flüssigkeit auf unsere Köpfe und dachten daran, dass so eine feste Wohnung doch keine schlechte Idee sei. Das fand auch Clochard, der inzwischen eine winzige 1-Zimmer-Wohnung gefunden hatte und uns anbot, dort zu übernachten. Was er nicht erwähnt hatte war, dass er fast jeden Abend noch eine oder mehrere Frauen mitbrachte. Wieder lagen wir im Fünfer-Päckchen auf dem Boden wie die Ölsardinen.
Inzwischen war ein halbes Jahr vergangen und eines Morgens stand Zeus mit seiner Gitarre und seinem zerschlissenen Lederrucksack an der Tür und sagte: „Eigentlich wollte ich ja keine Beziehung, aber nun sind wir doch schon seit sechs Monaten zusammen. Ich muss für ein paar Monate ans Meer, ich brauche meine Freiheit wieder. Keine Tränen bitte, mein Hase, ich hab dich lieb. Machs gut!“ Die Tür schloss sich hinter ihm.
Mit offenem Mund und starrem Blick sah ich ihm nach. Er hatte mir keine Möglichkeit gegeben ihn abzuhalten. Er hatte seine Entscheidung einfach getroffen und umgesetzt. Nach einem Moment zwang ich mich, tief Luft zu holen. Es war also doch eingetreten. Ich habe seinen Freiheitsdrang nicht bändigen können. „Ich reiche nicht“, sage ich leise vor mich hin und zwang mich nicht zu weinen. „Sei jetzt tough, Angela“, sagte ich mir und stand auf, um meine Sachen zu packen. Allein wollte ich bei Clochard nicht bleiben. Ich zog wieder in die Dachwohnung im Hause meiner Tante und ging weiter ins Hotel. Bald stand die Abschlussprüfung an. Nach der Arbeit lernte ich und am Wochenende fuhr ich nach Utzmemmingen zu meiner Familie. Ich fühlte mich allein und brauchte vertraute Menschen um mich herum.
Mit den Kindern meiner Schwester war ich abgelenkt und dann die vielen Mahlzeiten, die zuhause ja immer eingenommen wurden. Für ein paar Stunden fühlte ich mich ganz leicht und innerlich stark. Doch dann kam die Nacht und damit ein immer wiederkehrender Albtraum. Ein schwarzer Schatten, der sich über mich legt und mich verfolgt, wohin ich auch laufe. Dieser schwarze Schatten legt sich auf meine Seele und löst in mir ein tiefes Gefühl der Traurigkeit, Verzweiflung und Angst aus. Ich wachte mit wild klopfendem Herzen und klebrigen Haaren an der Stirn auf, riss die Decke weg und schlich mich nach unten. Ich öffnete die Haustür und lief auf die Straße. Ich hatte das Gefühl, nicht richtig atmen zu können. Alles war so eng - in mir und um mich herum. Barfuß, nur im Nachthemd, stand ich im Mondschein auf der Straße vor meinem Elternhaus und atmete schwer ein und aus. Dabei blickte ich hilfesuchend Richtung Mond. Was war los mit mir, was passierte hier? Ich ging wieder rein, legte mich ins Bett und beschloss, jetzt etwas Schönes zu träumen. Aber Moment mal, warum immer träumen? Warum musste ich mir das Schöne im Leben immer erträumen? Warum nicht erleben? Wovor genau hatte ich denn solche Angst? Kurz bevor ich wieder einschlief, begriff ich. Ich hatte Lebensangst. Angst vor dem Leben.
Zurück in München bestand ich meine Abschlussprüfung zur Hotelfachfrau und bekam über meine Freundin Mausi ein Zimmer zur Untermiete. Ich zog ein und ging direkt zum Arbeitsamt. „Guten Tag, ich möchte gern Schauspielerin werden“, sagte ich selbstbewusst und schob meinen Lebenslauf durch den Schlitz der Trennscheibe. Die Dame mit dem strengen Zopf hinter der Glasscheibe sah mich durch ihre dicke Brille an wie durch ein Aquarium. Dann fing sie an zu lächeln und zog einen dicken Ordner aus einem Regal neben ihr. „Schau’n Sie mal. Das sind alles arbeitslose Schauspieler und die haben den Job sogar gelernt. Sie sind doch Hotelfachfrau, da hätte ich hier einen Job für Sie“, sagte sie und schob mir eine Stellenausschreibung entgegen. Im Büro des „Holiday Inn“ suchten sie eine Mitarbeiterin. „Hm! Nicht das, was ich eigentlich wollte, aber was soll’s“, sagte ich und bewarb mich auf den Job. Kurz darauf fing ich an. Für 380 Euro Mark netto im Monat.
Als ich eines Abends nach der Arbeit nach Hause kam, hatte ich Lust, unseren alten Freund Schrat zu sehen. Ein bisschen Wein trinken und über eine bessere Welt philosophieren. Ich klopfte an seiner Tür. Es raschelte in dem engen Raum, ein Stuhl wurde zur Seite geschoben, dann sagte Schrat: „Jetzt kommt bestimmt der Hase“. Ich horchte auf. Was hatte er gesagt? Der Hase? Das erinnerte mich an Zeus, er hatte mich immer so genannt. Aber woher wusste er, dass ich vor der Tür stand? Die Tür öffnete sich und im Türrahmen stand nicht Schrat, sondern Zeus! Braungebrannt, mit weißem Strahlelächeln, eine Hand an der Tür, mit der anderen stützte er sich lässig im Türrahmen ab. „Hase, wie geht es dir, komm doch rein“, sagte er. Aber ich war schon in seine Arme gestürzt. Ich umklammerte seinen Hals wie eine Rettungsboje, er hob mich hoch und ich drückte mich weinend an ihn. Ich hatte ihn wieder, meine große Liebe. Und er roch so gut. Nach Salz und Abenteuer. Wir waren wieder zusammen. So wie am ersten Tag. Zeus hatte den Sommer in Cannes verbracht und dort für die reichen Cotê-d’Azur-Touristen gesungen und dazu auf seiner Gitarre gespielt. Jetzt, da er wieder da war, fühlte ich mich wieder vollständig. Ganz.
Bei Schrat konnten wir nicht bleiben, er hatte schweren Liebeskummer, trank zu viel und rief dann nachts wirres Zeug, während er durch seine Wohnung stolperte. Wir kamen wieder bei Freunden unter, konnten jedoch nirgendwo länger bleiben. Also zogen wir von Lager zu Lager und landeten nach einer Weile in einem leer stehenden Keller. Wir ernährten uns von Zwiebelreis, steifgeschlagenem Eiweiß mit Zucker und Haferflocken. Im Winter wurde es zu kalt in dem Keller. Morgens, wenn ich aufwachte, konnte ich meinen Atem sehen, die Finger waren kalt und steif, wenn ich mich aus unserem Deckenlager schälte, um zur Arbeit zu gehen. Zum Glück gab es auch dort eine Dusche. Und so verwandelte ich mich jeden Morgen von der freigeistigen Obdachlosen in eine strenge Bürokraft. Ich lernte, wie ein Betrieb funktioniert, und vor allem, wie er Geld spart. Ständig wurden Gastarbeiter nach München geholt und zu sechst in winzigen Zimmern untergebracht. Und dafür mussten sie auch noch was bezahlen. Sie arbeiteten von früh bis spät und kosteten das Hotel weniger als die einheimischen Mitarbeiter. Nach der Arbeit zog ich wieder meine zerschlissene Jeans an und merkte, dass mich meine Arbeit immer mehr anwiderte. Ich lebte wie in zwei Welten. Auf der einen die, deren Vorstellung von einer freien, konsumfreien Welt geprägt war, und auf der anderen die, in der es nur um die Vermehrung von Materiellem und Macht ging.
Natürlich brauchten wir das Geld, aber ich wollte mich nicht mehr täglich unwohl, feige und falsch fühlen. Ich kündigte und das Hotel bot mir das doppelte Gehalt. Ohne zu zögern sagte ich wieder ab. Hier ging es um mich, nicht bloß um Geld. Ich hatte gehört, dass es die Möglichkeit gab, das Fachabitur nachzumachen. Das wollte ich machen und dann Sozialpädagogik studieren. Im Herbst sollte die Schule losgehen. Zeus wollte Musiker werden und hatte sich ein Tonband gekauft, komponierte Songs und übte jeden Tag seine Songs. Wir saßen im Englischen Garten und ich sammelte mit meinem weißen Hut Münzen von Passanten, die kurz stehenblieben. Ich war wie im Himmel. Frei und mit ihm. Zeus und ich waren wie eine Familie. Eine Einheit. Nichts konnte uns trennen. Dachte ich.
Dann kam der Sommer und Zeus stand mit seiner Gitarre über der Schulter und dem Lederrucksack auf dem Rücken vor mir und sagte: „Mein lieber Hase, nun sind wir schon zwei Jahre zusammen. Ich muss ein paar Monate ans Meer. Ich brauche meine Freiheit. Keine Tränen bitte. Ich hab dich lieb. Mach’s gut“, sagte er und ging mit entschlossenen Schritten die Straße hinunter. „Er tut es wirklich schon wieder“, murmelte ich leise und hob cool meine Hand zum Abschied. „Dann viel Spaß und verbrenn dir nicht die Nase!“ Bloß nicht vor ihm heulen. Lieber später wieder allein.
Ich war Zeus die ganze Zeit treu gewesen. Vielleicht war es jetzt an der Zeit, auch mal einen anderen Mann auszuprobieren. Oder mehrere. Ich zog durch die Kneipen, traurig innen, fröhlich außen, und traf einen Typen, der mir gefiel. Er hieß Marco, hatte schwarzes, wuscheliges Haar und tiefblaue Augen. Wenn er lachte, bildeten sich kleine Grübchen in seinen Wangen. Wir tanzten und tranken Münchner Bier, bis ich müde wurde. Ich ging mit zu ihm. Wir schliefen miteinander und er war wirklich sehr lieb zu mir. Bemühte sich mir zu gefallen, wollte mich unbedingt wiedersehen. Doch ich dachte nur an Zeus. Nachdem wir uns ein zweites und ein drittes Mal trafen, sagte ich ihm, dass ich einen anderen Mann liebe.
Ich ging zurück in mein Zimmer, fand dort einen Brief. Die Handschrift kam mir bekannt vor. Es war Zeus! „Mein lieber Hase, ich bin immer noch in Cannes und es ist wunderschön hier. Du kannst mir an diese Adresse hier schreiben. Ich hab dich lieb, mach’s gut, Zeus.“ Sofort schrieb ich ihm zurück: „Ich würde dich gern besuchen, ich habe ja noch Zeit, bis die Schule anfängt. Holst du mich vom Bahnhof ab, wenn ich den Zug nehme?“
Das wollte er tun, doch als ich in Cannes ankam, war dort kein Zeus. Traurig und mit einem tiefen Gefühl des Verlassenseins zog ich allein und ziellos durch die Straßen. Auf der Promenade sah ich eine Menschentraube und ging näher heran. Plötzlich hörte ich seine Stimme. Den Song hatte er im Park komponiert, während ich daneben im Gras lag und die Wolken zählte, die vorbeizogen. Ich stellte mich an einen Baum und beobachtete ihn durch die Menschenmenge hindurch. So oft hatte ich mir in München gewünscht, er würde es schaffen und tatsächlich ein Popstar werden. Sogar dafür gebetet habe ich, so sehr wollte ich es. Und jetzt stand er hier vor Publikum und bekam johlenden Beifall.
Ein Star war er damit noch nicht, aber der Anfang war gemacht, dachte ich. Nach einer Weile hörte er auf zu spielen und die Menschen zogen schnell weiter wie ein Schwarm Fische auf dem Weg zur nächsten Attraktion. Ich ging auf Zeus zu und er sah mich mit großen Augen an: „Hase, ich dachte, du kommst erst morgen!“ Er zog mich an seine Brust, gab mir einen Kuss auf den Kopf und sagte: „Komm, du musst alle kennenlernen, alles sehen!“ Wir gingen zum Yachthafen, dort lagen unweit der Mole große Steine im Wasser. Jeder so groß wie ein Doppelbett. Mit Schlafsäcken, Kissen und Decken hatten sich hier zwischen 20 und 30 Jugendliche und die, die es noch sein wollten, ein Lager eingerichtet. „Hotel on the Rocks“ nannten sie es. Und das war es auch. Nachts der klare Sternenhimmel, so nah und grenzenlos. Morgens die ersten Sonnenstrahlen, die schon nach wenigen Minuten so warm waren, dass der Schlafsack sich aufheizte wie ein Backofen. Die Sonne war unser Wecker und sorgte jeden Morgen dafür, dass wir rechtzeitig vor der Polizei aufwachten. Die kontrollierte den Hafen fast täglich und verjagte uns dann für ein paar Stunden. Manchmal haben sie uns in die Berge gefahren, aber nach spätestens zwei Tagen waren wir wieder hier. Und inzwischen sind wir so viele, dass sie sich die Mühe gar nicht mehr machen.
Nachdem wir wach waren, sprangen wir jeden Morgen ins Meer, schwammen, tauchten, lachten und warfen uns in die Wellen. Alle nackt, alle mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Anschließend spülten wir uns mit den Süßwasserduschen am Strand das Salz von unseren schlanken, gebräunten Körpern und zogen in die Stadt zum Frühstücken. „Baguette und Apfelmus in Milch getunkt sind nahrhaft und billig“, sagte Zeus. Mittags dösten wir im Schatten, diskutierten über die Weltgeschehnisse, machten aus Muscheln Ketten, die wir zu verkaufen versuchten, lauschten Zeus’ warmer Stimme, während er Gitarre spielte, und warteten darauf, dass wir abends etwas aus dem Restemüll der Restaurants klauen konnten. Die fauligen Stellen im Gemüse schnitten wir heraus; aus dem Rest kochte die blonde Inge aus Dänemark mit den vielen Sommersprossen jeden Abend ein feines Mahl. Uns kam es vor wie das feinste Mahl an der französischen Südküste, während in den Restaurants um uns herum Hummer und Kaviar verspeist wurden. Wir waren glücklich. Vielleicht gerade weil wir so wenig hatten.
Wenn Zeus am Abend an der Promenade vor dem glitzernden Meer und der untergehenden Sonne sein kleines Konzert gab, ging ich wie in München mit meinem Hut herum und sammelte Münzen. „Avez-vous un Franc pour le musicien?“, fragte ich und legte dabei mein charmantestes Lächeln auf. Mein Haar war von der Sonne fast weißblond geblichen, meine Zähne schneeweiß und meine Augen wirkten in meinem tiefbraunen Gesicht wie Saphire. Die Münzen in meinem Hut hörten nicht auf zu klimpern. Abends tranken wir französischen Rotwein am Strand und drehten einen Joint nach dem anderen, bis wir im Dunkeln, nur von den Sternen beleuchtet, in unser „Hotel on the Rocks“ zurückkehrten. Bei jeder Sternschnuppe, die ich vor dem Einschlafen sah, wünschte ich mir, Zeus würde wirklich einmal ein großer Popstar werden. Er wünschte es sich so sehr und ich hatte fast das Gefühl, ich wünschte es mir noch mehr.
Mein südfranzösischer Traum endete nach drei Wochen am Bahnhof in Cannes. Ich musste wieder nach München, die Schule ging los. Der Abschied fiel mir unglaublich schwer. Das freie Leben, Zeus bei mir, die Sonne und immer lachende Menschen. Sei es aus eigener Fröhlichkeit oder berauscht durch Wein und Hasch, das ist doch egal – dieses Lebensgefühl würde mir im strengen Deutschland fehlen.
Wenigstens musste ich nicht mehr ins Büro und konnte endlich etwas Sinnvolles lernen. Ich ging in die Schule und streifte an den Wochenenden wieder durch die Bars, nicht sicher, ob ich mich hier nur vergnügen oder etwas suchen sollte. Als die Herbsttage kühler wurden, die orangebraunen Blätter die Bürgersteige säumten und die Menschen mit grob gestrickten, bunten Schals durch den Englischen Garten spazierten, klopfte es an einem Tag an meiner Tür. Ich hatte inzwischen ein eigenes kleines Apartment gefunden. Vor der Tür stand Zeus. Braun, strahlend, unwiderstehlich. Wir umarmten uns im Türrahmen und waren von dieser Sekunde an wieder so zusammen wie am ersten Tag. Zeus zog bei mir ein. Ich ging in die Schule, kaufte ein, kochte, hielt das Zimmer sauber und er machte Musik. Leider waren wir jetzt nicht mehr so viel allein, wie wir es in der Zeit waren, als wir noch in Abbruchhütten und Autos hausten. Täglich waren Leute da, manche kannte ich, viele jedoch nicht. Sie nebelten meine Bude ein, aschten ihre Zigaretten und Joints in meine Topfpflanzen und löffelten aus den Töpfen, die ich auf dem Herd stehen hatte. Ich mochte die tiefgründigen Gespräche und lauschte gespannt den gesellschaftspolitischen Theorien, aber ich brauchte auch Zeit für mich. Zum Lernen, Alleinsein und ich wollte Zeus für mich.
Unsere Beziehung verlief nach einem interessanten Muster. Im Herbst entdeckten wir uns neu, alles an dem anderen war spannend; im Winter waren wir wie eine Einheit und kosteten dieses Gefühl aus bis in den Frühling. Dann, wenn sich die Gewohnheit einschlich und einen grauen Mantel der Langeweile über die Beziehung zu legen drohte, trennten sich unsere Wege. Jeder verbrachte den Sommer in einer anderen Stadt und im Herbst trafen wir uns wieder. Wie ein bizarrer Liebeskreislauf war das und ich fürchtete mich vor dem nächsten Sommer.
Aber jetzt war erst einmal Weihnachten und Zeus wünschte sich einen Hund. Wir kauften uns eine Dackeldame und nannten sie Lieschen. Sie war wie unser Baby. Und wir waren ihre Eltern. Zeus und ich vergötterten diesen Hund. Zeus wollte, dass sie frech und wild wird, doch Lieschen war ganz brav und hörte auf jedes Wort. Jeden Tag gingen wir stundenlang mit ihr spazieren und nachts schlief sie mit in unserem Bett. Wir waren wie die drei Musketiere – ein eingeschworenes Team. Wir hatten sogar unsere eigene Babysprache, in der wir mit albernen Lauten miteinander kommunizierten, wenn wir unter uns waren und uns anschließend über uns schlapplachten. Als wir mit Lieschen in einem kleinen Boot auf einem See paddelten, sagte ich, dass Hunde ganz instinktiv schwimmen könnten. Einfach so, von Geburt an. Zeus wollte mir nicht glauben und warf Lieschen völlig ohne Vorwarnung über Bord. Erschrocken sah ich, wie Lieschen mit Panik in den weit aufgerissenen Augen um ihr Leben paddelte. Natürlich konnte sie schwimmen, aber so war es ein Schock für sie. Ein Schock mit Folgen. Von diesem Tag an mied Lieschen das Wasser und rannte weg, sobald sie einen See oder einen Fluss sah.
So verbrachten wir den Winter und einmal sagte Zeus: „Ist es nicht herrlich, hier zu Hause habe ich alles, was ich brauche. Eine warme Wohnung, dich, meinen Hund, meine Gitarre, leckeres Essen, Freunde, die zu uns in die Wohnung kommen und der Fernseher ist ja auch noch da. Warum sollte ich also rausgehen, da gebe ich nur Geld aus“, sagte Zeus zufrieden und lehnte sich auf dem braunen Stoffsofa nach hinten. Sofort sprang Lieschen auf seinen Schoß und ließ sich die Ohren kraulen. „Hm! Ja, aber ich gehe schon gern aus, sehe gern auch andere Menschen und ich verreise so gern. Wir sprechen so viel über die Gesellschaft und du hast so viele interessante Theorien dazu, wie sie geworden ist, was sie heute ist und wie sie werden könnte. Ich möchte sehen, ob es da draußen nicht schon Orte gibt, an denen schon so gelebt wird. Wenn wir immer nur hier theoretisch darüber philosophieren, werden wir ja nie wissen, ob an den vielen Theorien auch etwas dran ist. Ich finde das Leben da draußen schon sehr spannend“, sagte ich. „Klar, du bist eben eine echte Dame des süßen Lebens“, grinste Zeus. „Ich würde gern mal wieder verreisen, du reist doch sonst so gern“, jammerte ich und schob die Unterlippe vor. „Na, gut, wenn du alles organisierst, komme ich mit“, brummte Zeus.
Also organisierte ich uns Trips nach Berlin und Amsterdam. Dieses Nachtleben, so wild, so frei, so bunt! Ich fand es wahnsinnig faszinierend und konnte nicht genug bekommen. Zeus war froh, als wir wieder zuhause waren und er wieder auf seiner Couch sitzen konnte. Ich kümmerte mich ja um den Rest. So wie ich mich immer um alles kümmerte und jede der bei uns im Freundeskreis so verhassten Spießertätigkeiten wie abwaschen, aufräumen, den Müll rausbringen und die Stromrechnung bezahlen ohne zu murren erledigte.
Es kam, wie es jedes Jahr kam. Es wurde Sommer und Zeus stand wieder mit seiner Gitarre und seinem Rucksack in der Tür und sagte seinen Spruch: „Nun sind wir schon drei Jahre zusammen. Ich muss wieder ein paar Monate ans Meer. Ich brauche meine Freiheit. Keine Tränen bitte, ich hab dich lieb. Mach’s gut!“ Dann war ich mit Lieschen allein in der Wohnung. Ich ging in die Schule und wartete, bis die Sommerferien begannen, damit ich Zeus in Cannes besuchen konnte. Nach ein paar Wochen war es so weit und ich fuhr mit dem Regionalzug zu meinen Eltern, um Lieschen dort für die Zeit, die ich mit Zeus in Südfrankreich war, abzugeben. Dann setzte ich mich in den Zug nach Cannes. Ich konnte es kaum erwarten, ihn wiederzusehen. Wieder holte er mich nicht vom Bahnhof ab, also spazierte ich runter zum Yachthafen. Doch das „Hotel on the Rocks“ gab es nicht mehr. Die Steine waren mit schweren Maschinen aus dem Wasser gezogen worden. Schleifspuren am Betonufer zeugten von der einstigen Hippie-Romantik. Wo waren denn auf einmal alle? Ich schlenderte weiter umher und dachte, dass ich Zeus vielleicht im Park finden würde. Sicher spielte er dort Gitarre. Da, an dem Baum da, waren das nicht seine Hände, seine sehnigen Oberarme? Aber Moment mal, seit wann hat er denn drei Arme? Oh!
Der dritte Arm gehörte einem Mädchen, die in Zeus’ Armen lag. Ich hielt den Atem an. Wie ein heißer Stich fuhr mir der Schmerz durch Mark und Bein. Ja, ich wusste, dass er eigentlich nichts von Monogamie hielt, aber die letzten drei Jahre hat er es doch auch geschafft. Oder nicht? Plötzlich war ich mir über nichts mehr wirklich im Klaren. Nichts schien mehr sicher. Ich versteckte mich hinter einem Gebüsch, um meine Gedanken zu sortieren und zu überlegen, was ich jetzt machen sollte. Ich drehte mir erst mal eine Zigarette. Nerven beruhigen. Da kam ein braungebrannter Typ, barfuß, mit nichts als einer Unterhose bekleidet, auf mich zu und sagte: „Kann ich dir helfen, suchst du jemanden?“ Ich sah ihn mit großen Augen an: „Ja, ich will eigentlich zu dem da“, sagte ich und deutete mit dem Blättchen der Zigarette in der Hand auf den Baum, an dem Zeus mit dem Mädchen lehnte. „Ich bring dich zu ihm“, sagte der Braungebrannte. „Nein, danke, ich geh später zu ihm“, antwortete ich gekünstelt lässig und drehte weiter meine Zigarette. Kurz darauf erschien der Braungebrannte wieder neben mir. Diesmal hatte er Zeus dabei. Ratlos und etwas verlegen kratze sich Zeus am Kopf. Ich sah ihn an und dann war es wieder einer dieser Momente, die eigentlich keinen Sinn ergaben und ganz sicher in keinem Beziehungsratgeber stehen sollten. Aber ich konnte nicht anders, ich strahlte ihn an, er lachte, hob mich hoch und so drehten wir uns im Kreis. Dann küssten wir uns und er stellte mich wieder auf den Boden. „Komm, ich stell dir meine Freundin vor“, sagte er und zog an meiner Hand. Ich dachte, ich hätte mich verhört oder es sei einer seiner trockenen Witze gewesen. Aber es war kein Witz. Er zog mich weiter, bis wir beide vor Vivienne standen. Mit großen braunen Augen sah sie mich erst neugierig, dann distanziert an. Ihre langen braunen Haare reichten fast bis an ihre schmale Taille. Alles an ihr schien zusammenzupassen. Ihre Hände, ihre Füße, ihre Beine. Alles schien genauso zu sein, wie es sollte. Nicht so zusammengewürfelt wie bei mir. Etwas peinlich berührt standen wir uns gegenüber. Im direkten Vergleich quasi. „Kommt, wir gehen Cous-Cous essen“, sagte Zeus fröhlich und ging voraus.
Wir folgten ihm schweigend durch die schmalen Gassen von Cannes. Ich versuchte fast mantramäßig mir wieder ins Gedächtnis zu rufen, dass ich ja auch einst die These „jeder sollte unabhängig sein und Eifersucht zerstört jedwede Energie“ vertreten habe. Ich wollte ohne Kummer und Neid, ohne Leid leben. Das redete ich mir im Stillen immer wieder ein, bis ich es sogar ein bisschen so fühlen konnte. Das Essen verlief ganz cool, ich hatte die Oberhand. Vivienne wirkte total eingeschüchtert und blickte während des gesamten Essens ständig hilfesuchend auf den bunten Teller vor ihr. Nach dem Essen liefen wir am Strand entlang zu dem neuen Lager, das Zeus und einige andere sich im Schutze einer Kaimauer gebaut hatten. Zeus nahm meine Hand und so gingen wir eine Weile vor Vivienne hier. Sie fing an zu weinen, trottete schluchzend hinter uns her. Zu dritt legten wir uns auf die dünnen, sandigen Decken und versuchten irgendwie einzuschlafen. Niemand sprach. Am nächsten Morgen wachte ich auf und lag allein auf dem Lager. Zeus und Vivienne waren weg. Ich stand auf und spülte mir mit dem Rest Wasser aus meiner Flasche den Mund aus, dann lief ich den Strand entlang. Kurz vor einer Strohdachhütte, aus der französische Lieder aus knackenden Boxen leise aufs Meer schallten, sah ich Zeus und Vivienne. Er stand da, regungslos, während sie mit fuchtelnden Händen und wehendem Haar vor ihm auf und ab lief wie eine Tigerin. Ich versuchte unauffällig näher an die beiden heranzukommen und hatte Glück (oder Unglück), der Wind stand so, dass die Worte zu mir herübergeweht wurden. „Zeus, ich bin schwanger und ich möchte das Kind behalten“, sagte sie immer wieder. Zeus sagte gar nichts. Soweit ich das erkennen konnte, starrte er einfach nur aufs Meer hinaus. Vivienne fing wieder an zu weinen. Sie tat mir leid, obwohl es mir unglaublich weh tat, was sie da sagte. Schwanger? Und Zeus war der Vater?
Die Gedanken zischten wie schnelle Pfeile durch meinen Kopf, aber instinktiv begriff ich, dass ich mich jetzt zurückziehen musste. Das hier war nichts, was ich ändern konnte. Wie ich es auch betrachtete, ich hatte hier nichts zu suchen. Ich drehte mich um und stapfte durch den Sand zurück zu unserem Lager. Ich hatte gerade meine wenigen Sachen zusammengepackt, als ich Zeus von weitem in meine Richtung gehen sah. Er winkte mir zu. Ich winkte steif zurück und wartete auf ihn. Und dann, ja, dann war es auf einmal mein Satz: „Ich muss los. Vielleicht sehen wir uns im Herbst wieder, bitte keine Tränen, ich hab dich lieb, mach’s gut!“ Zeus sah mich ausdruckslos an. Ich ging an ihm vorbei auf die Promenade und in Richtung Bahnhof. Ich nahm den nächsten Zug zurück nach München. Ich fühlte mich viel besser als ich dachte. Leicht, fast beschwingt, frei und irgendwie stark. In München ging ich wieder zur Schule, holte am Wochenende Lieschen ab und trank mit fremden Männern Wein.
Eines Morgens stand Zeus vor der Tür. Und wieder war alles wie zuvor. Ich stellte keine Fragen, er erzählte nicht, was sich in Cannes noch zugetragen hatte, und wir lebten wieder wie ein altes Ehepaar. Ich kochte, er zupfte auf seiner Gitarre, machte nebenbei seinen Taxischein und brachte regelmäßig nach seinen Schichten Leute mit, die kein Zuhause hatten. Und so schlief regelmäßig noch einer oder mehrere auf der Couch oder auf dem Fußboden, wenn ich mich morgens auf Zehenspitzen auf den Weg zur Schule machte.
Und niemand schien einer regelmäßigen Tätigkeit nachzugehen. Zeus fuhr zwar ab und zu Taxi, doch die meiste Zeit war er zuhause und arbeitete an seinen Songs. Und die, die er mitbrachte, waren, wie er es sagte, „schwarze Schafe“, denen man einen Unterschlupf geben müsse, weil sie doch keinen Platz mehr in der Gesellschaft hatten. So langsam fragte ich mich aber, wo eigentlich mein Platz war. Wenn ich von der Schule kam und lernen musste, verkroch ich mich mit meinen Büchern in einer Ecke. Irgendwie fand ich es gemütlich, aber ich hatte auch das Gefühl festzustecken. Irgendwie ging nichts weiter. Wir waren immer noch da, wo wir vor einem Jahr waren, Zeus und ich. Er hatte inzwischen so viele Songs aufgenommen, aber noch immer nichts veröffentlicht. Und statt sich einen Produzenten zu suchen, schloss er sich Bands an, in denen er es aber nie lange aushielt. Entweder konnte er die Bandmitglieder nach kurzer Zeit nicht ausstehen oder sie ihn nicht. Ich konnte beobachten, wie er sich selbst nicht eingestehen wollte, dass er zwar immer den Ton angeben und die Richtung vorgeben wollte, aber gleichzeitig auch ziemlich schüchtern war.
Was die Suche nach einem Musikproduzenten anging, so war Zeus der Meinung, dass niemand sein wahres Potential erkennen und umsetzen könne: „Ich verscherbele meine Ideen nicht einfach an irgendeinen dahergelaufenen Musikfuzzi. Und ich lasse mich auch nicht in irgendein Image pressen. Ich bleibe mir treu“, sagte er jedes Mal, wenn ich ihn darauf ansprach. So vergingen die Wochen und es wurde Sommer. Und was passierte jedes Jahr im Sommer? Genau. „Nun sind wir schon vier Jahre zusammen. Ich muss ein paar Monate ans Meer. Ich brauche wieder meine Freiheit. Keine Tränen bitte, ich hab dich lieb. Mach’s gut.“ Und weg war er. Wieder einmal.
Ich hatte keine Lust mehr darauf zu warten oder ihm hinterherzufahren. Ich wollte selbstständig und unabhängig sein. Ich hatte meine Fachhochschulreife gut bestanden und einen Studienplatz für Sozialwesen sicher. Bis zum Herbst waren es jetzt noch drei Monate. Zeit, die ich für mich nutzen wollte. Ich brachte Lieschen zu meinen Eltern und kaufte mir ein Zugticket und eins für die Fähre. Ich wollte nach Ibiza. Ganz allein. Drei Monate. Uschi hatte mir so viel von der Insel erzählt und ich wollte doch endlich eigenständig sein, also warum nicht dort auf der Insel damit anfangen.