Читать книгу Solo für Schneidermann - Joshua Cohen - Страница 12

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Guten Abend!


einen guten Abend den Kindern aller Altersstufen, einen guten Abend meinen Exfrauen, meiner Frau und meinen zukünftigen Frauen, einen guten Abend einigen meiner eigenen Kinder da draußen im Publikum, einen guten Abend meinem Anwalt, meinem Agenten, meinem Steuerberater, einen guten Abend den Managern meines Plattenlabels, einen guten Abend meiner Podologin (erst letzten Donnerstag sie hat mir erzählt, dass meine Onychauxis, sie hat sich zu einer Onychogryphose entwickelt, hat mich zu einer professionellen Nagelpflege geschickt),

einen guten Abend meiner Proktologin (die meine thrombotisch ausgetretenen Hämorrhoiden betüttelt, fragt lieber nicht), einen guten Abend meinen angeheirateten Exverwandten, Verwandten und zukünftigen Verwandten, Ihnen, den angehenden Musikern da draußen, den verhinderten Möchtegernmusikern, den musikalischen Dilettanten und Versagern, guten Abend dem höchst namhaften Mogul Mr. Samuel Rothstein jr., der da stumm in Reihe eins zwei drei vier FÜNF sitzt, guten Abend meinem Poolboy, den können wir auch meinen inoffiziellen Psychopharmakologen nennen, guten Abend auch dem Poolboy einer meiner Exfrauen, den können wir ihren Poolboy nennen, guten Abend meinem großartigen Geigenkollegen, dem Maestro Jacob Levine, meine Damen und Herren, Beifall bitte!, ich bitte um einen herzlichen Applaus!

guten Abend meinen Schülern, denen, die meine Schüler werden wollen, denen, die nie zu meinen Schülern zählen werden, guten Abend meinem schwulen Friseur und Maskenbildner, meiner Thai-Masseuse, meinem Rabbi, meiner Sadomaso-Domina, guten Abend meinem Enkel, der meine elektronischen Geräte repariert und sie wie neu blinken und piepsen lässt, meinen Dr. med. Therapeuten nicht zu vergessen, und wenn doch, auf welche Verdrängung ließe das schließen? und daher einen guten Abend auch dem Therapeuten meines Therapeuten, einen allerbesten Abend meiner Harfenistin, die ich in professioneller Diskretion begehre,

meinem Orchester, guten Abend.

Ihnen allen Dank, dass Sie mich mit Ihrer Anwesenheit beglücken. Es bedeutet mir unendlich viel, dass Sie alle sich eingefunden haben.

Hören Sie: Ich stehe hier auf der Bühne, unter dem Bühnenportal des berühmtesten und ehrwürdigsten Konzertsaals der Welt. Habe für Sie den I. Satz von Schneidermanns Violinkonzert gespielt. Den ersten der beiden Sätze des ersten, letzten und einzigen Violinkonzerts, das Schneidermann, mein Freund, je komponiert hat. Und spreche nun zu Ihnen, statt die Kadenz zu spielen. Sie verstehen. Oder dies ist meine Kadenz. Sie verstehen? Eine beiläufige Feuerwerksfanfare, eine Tangente ohne Taktmaß, ein Seelensolo im Brillantissimo und so weiter. In Fragen der Kunst haben Sie das letzte Wort, und während Sie sich entscheiden,

lassen Sie sich Zeit, so viel Sie wollen,

Sie alle haben für dieses Privileg mehr als genug bezahlt – gestatten Sie, dass ich tupfe mir den Schweiß von Bogen und Braue mit einem Taschentuch, das ich in meinem Hotel in der Uptown eingesteckt habe, vom Wägelchen des Zimmermädchens stibitzt, dem Füllhorn auf Rädern im Korridor meiner Herberge, ultra de luxe, einem Hotel namens Grand Irgendwas, schauen Sie es sich bei Gelegenheit an, mein Gott, wie prachtvoll! alles aus Marmor: spiegelsymmetrisch gemasert oder heißt es masersymmetrisch gespiegelt wie der Rücken einer Geige, das ganze Foyer verkleidet mit massivem prokonnesischem Cipollinomarmor, alles berstend mit geschwollenen Venen, als wäre das Gestein selbst fortwährend erregt, und das Zimmermädchen, hach, sie ist sonnenhäutig, eine native Naive mit den beiden niedlichsten Laiben Christi, die sich zur Anbetung anbieten unter ihrer zungenrosa Diensttracht verstaut, die ihr so angegossen passt wie ihr Name: María, zumindest laut ihrem verheißungsvollen Namensschild, einfach nur María, weil wir einfach gute Freunde sind, Mutter eines Kindes, und eines reicht auch, weil es so begabt (anstrengend) ist, ein gemischtrassiges Wunderkind mit einer riesigen Quasi-gegen-Kurzsichtigkeit-Brille zumindest auf dem grauschlierigen Schulschnappschuss, den sie mir gezeigt hat, seine Mutter ist zweimal geschieden, der dritte, er fiel tot um (das Herz), die erste Liebe sitzt in Sing Sing, nach drei Straftaten ist er für bewaffnete Raubüberfälle aus dem Rennen, aber das ist ein ganz anderer Schmonzes, sind ganz andere Leben, und morgen ich weiß hoffentlich mehr, oder ich weiß morgen hoffentlich auch nicht mehr, aber in jedem Fall hätte ich ihr gern das stradivariabelste ihrer F-Löcher gefüllt, sie ewig und drei Tage gut und hart lackiert:

Ewig … ewig …, wie es beim großen Christen Gustav Mahler heißt, aber nur, wenn Schlesinger dirigiert oder Leonard Bernstein – und das tun sie nicht. Sondern ich. Gewissermaßen. Mich.

Aber wer bin ich?

der amtierende Europäer in Amerika, in Europa der einzige passable Amerikaner.

Für wen halte ich mich?

überall für ein internationales Genie, einen Gewissens-und-Kulturträger, einst so geliebt wie geachtet.

Aber eigentlich bin ich niemand.

Seien Sie nicht schockiert! Die Kultivierten lassen sich so leicht schockieren!

Flüstern Sie nicht! Tratschen Sie nicht! Fragen Sie nicht herum!

In der Musik finden Sie nie Antworten, nur noch Fragen, darum ja, ich habe eine Sprechrolle, nicht ganz ausnotiert, ohne verbindliche Erwähnung im Programm, das Sie überflogen haben, auf das Sie sich vergeblich beziehen, mit dem Sie beim leisesten Piano meiner Pianissimi geraschelt haben und das Sie jetzt hektisch nach Hinweisen durchsuchen, ob ich eine Vorgeschichte psychischer Labilität mitbringe, eine schizoide Persönlichkeitsstörung, mit der es sich wegerklären ließe.

Meine Entscheidung, mich mit meiner Stimme statt mit meiner Geige an Sie zu wenden.

Gestatten Sie mir also, Sie alle meiner – relativen – Zurechnungsfähigkeit zu versichern, Ihnen zu geloben, dass ich relativ gesund bin (fragen Sie welchen meiner Ärzte Sie wollen oder alle meine zehn Chiropraktiker, die haben für diesen Abend Freikarten erhalten).

Und schauen Sie nicht, hören Sie zu. Sonst werden Sie meinen, Schneidermann, er hat hier etwas vergessen, es wie Lethe zum einen Ohr hinein- und zum anderen hinausfließen lassen: Schneidermann, er war ein Ikonoklast, den selbst Ikonoklasten verehrten, und er hat das durchaus nicht vorausgehört, mein Freund, mein einziger Freund, der Versager, der mein Schneidermann war, sondern in einem gewissen Sinn sogar erwartet. Vielleicht sogar gewollt. Beabsichtigt und in die Wege geleitet. Und erst recht hat Schneidermann keine ausdrücklichen Anweisungen hinterlassen, meine Ansprache wäre unerwünscht, hat nicht einmal verborgene Anweisungen hinterlassen, dass diese meine Ansprache unnötig wäre.

Weil er letzten Endes, im finalelosen Finale, gar nichts hinterlassen hat.

Nur dieses Konzert sowie ein ansehnliches Korpus an Klavierkompositionen, Streichtrios und Vokalmusik, einige Ephemera, Memento mori, Gelegenheitswerke und Erinnerungsstücke, einen Wust an Juvenilia und gesamtem Leben, das ich und, so ich sie bezahle, meine Anwälte, jetzt zu ordnen haben: seine Verweigerung eines schriftlichen oder spirituellen Letzten Willens umgehend, nach Hinweisen oder Anweisungen zu suchen und koste es, was es wolle, der Frage nachzugehen, was zum Teufel ich mit dem So-viel-von-allem machen soll, dem Nachlass, den Schneidermann unvollendet hinterließ, so unvollendet wie sein Leben ungelebt, hinter dessen vollsten Zügen zurückgeblieben, seiner unerfüllten Bestimmung, von der ich bis heute überzeugt bin.

Und wie seine hängt Ihre von meiner ab.

Denn von Anbeginn,

seit meine Mutter den Vorhang hob,

war ich ein Solist. Denn in dem Jahr, in dem ich Europa verließ, war ich schon der berühmte und weltbekannte Virtuose. Doch heute Abend – und nur heute Abend – gehöre ich ganz Ihnen, vollständig, wahrhaft, fern der Musik, jetzt auch fern meinem Instrument und damit zum Untergang verdammt, zum Abstieg ins Leben, in die Welt und die Mitte derer, die an ihr leiden. Unter denen gibt es Menschen, einige wenige Auserwählte, bloß eine Handvoll, so scheint es manchmal, die finden Trost, finden Frieden in mir, in meinem Instrument, in meiner Musik,

schwer zu glauben vielleicht, aber es gibt Menschen, die mir lauschen, meinem Instrument, meiner Musik, und am Ende hören sie vielleicht zum ersten Mal sich selbst. Hören auch, dass es Menschen gibt, die mich loben, ob sie mich nun gegen Bezahlung loben oder aus einem psychischen Bedürfnis heraus, das spielt keine große Rolle, auf jeden Fall sind es viele (wenngleich mit jeder verstreichenden Konzertsaison immer weniger von der einen Sorte und immer mehr von der anderen), die mich weniger als Geiger denn als Virtuosen schätzen und weniger als Virtuosen denn als Musiker, etwa in den Worten Zeitblums, immer Kritiker und heute Abend hier, hallo! in Anführungszeichen ein reiner Musiker (rein: im Sinne von Pythagoras und, ja, auch im Sinne von Orpheus), obwohl der gute alte Zeit der erste wäre – oder der zweite nach Schneidermann, wenn der noch unter uns weilte –, der zugeben würde, dass eine solche kritische Belobigung, eine so hymnische Huldigung meiner Größe mit auch nur dem leisesten Hauch von Abgehobenheit, von dazugehörigem Snobismus, heute seit zwanzig bis dreißig oder mehr Jahren veraltet ist, mehr oder weniger auf jede beliebige Konzertmusik zutrifft, fast einer früheren Karriere gilt und nicht dem greisen Violinisten, den Sie heute Abend vor sich hören:

Lob kann mit mir nichts mehr anfangen, so abgewrackt oder sagt man abgetakelt wie ich bin, verlassen von jenen, die es nicht einmal wert wären, mich zu verlassen, von Schneidermann dem Alter überlassen, von meinen jetzigen und Exfrauen bankrott, sogar von der Musik betrogen: Auch sie stirbt – starb vielleicht mit Schneidermann – und begegnet den Tempi passati nicht einmal mit dem mindesten bisschen Respekt, anständig Lebewohl zu sagen. Ihre Melodie passioniert zu beenden. Toitoitoi. Ihre Möglichkeiten auszuschöpfen und – viel Glück der Seele bei ihrer Passage! – das Leben und Gewissen des Publikums zu erlösen, das heute in Kabeln verstrickt ist, in kabellosen Geräten und in umgewidmeten Manuskripten verpackt, wie es häusliche Praxis von Maria Anna Keller war, Frau Haydn, die die Kompositionen ihres Mannes als Fleischpapier verwendete – sie ist das Urbild, die Schutzpatronin von all Euch Musikpatronen:

nein, ich meine nicht, dass die Musik keinen von Ihnen rührt, dass keiner von Ihnen etwas fühlt, es ist etwas Fundamentaleres, wie Schneidermann, er sagte das immer, etwas Grundsätzlicheres, wie Schneidermann, er beharrte immer darauf, ich meine, dass Sie keine Ahnung haben, was das eigentlich ist, dass Sie gar nicht mehr wissen, was Musik eigentlich ist, niemand weiß das mehr, und was kann man auch erwarten? beispielsweise letzte Woche erst, da treffe ich einen Mann in der U-Bahn, schmale Lippen, grau, macht’s nicht mehr lange, in der Linie Q war’s, der muss mich erkannt haben, vielleicht auch nicht, jedenfalls, er spricht sein Bedürfnis an, dieser Massenverkehrszombie dreht sich einfach zu mir, Zerrüttung im Gesicht, und die Ohren baumeln wie hodengefüllte Piroggen, er fragt mich schlicht und einfach, was Musik ist, fragt mich, was ist Musik? und was mache ich? ich antworte ihm, so flinkzüngig ich kann, mit dem alten Sprichwort, das gemeinhin Louis Armstrong zugeschrieben wird: Wenn Sie fragen müssen, werden Sie es nie wissen, wenn Sie es nicht wissen, werden Sie das auch nie tun, aber wissen Sie, als ich dann in der Einzimmerwohnung mit Kochnische meiner Herzensdame ankam (einer Polin draußen in Brighton Beach) und meinen, wie Schneidermann sagen würde, ehelichen Pflichten obgelegen hatte, erhob ich mich von ihrem strahlenumkränzten Futon, schälte mich in Haut und Schweiß heraus, ging zu ihren wandhohen, gut bestückten, wiewohl nie verstandenen Walnussholzregalen und zupfte ihr Webster’s Dictionary heraus (ihren ersten nach der Ankunft in Amerika vor einem Jahrzehnt erworbenen Besitz, wie sie mich unterrichtete), blätterte drauflos und fand trotz meines Alters und meiner Erfolge tatsächlich zum ersten Mal MUSIC, den Eintrag für MUSIC, stand dort in der Vormittagssonne, tropfte in meinen Socken mit rosa Paisleymuster und verlor plötzlich auch meinen Glauben an die Worte:

nicht nur gab es dort kein Bild von mir, sondern auch Schneidermann, er steht auch nicht mal im Grove, ist das denn zu fassen? oder zumindest nicht in meiner Ausgabe, im lückigen Band Riegel bis Schusterfleck – eine Tragödie,

eine Travestie,

eine Unverschämtheit, deshalb Sie erlauben mir, die Gelegenheit zu ergreifen, Ihr Unwissen zu korrigieren, ja? auch offizielle Ignoranz, aber wir beginnen mit dem Begonnenen, erlauben Sie mir, die Lücken in jeder Melodie zu füllen, die je durch diesen großen Saal gespien ward, ja: darf ich einen Augenblick Ihres Abends und meines Solos der Erinnerung an Schneidermann widmen? eine künstlerische Entscheidung, die seinem Geist, falls er ein Geist ist, gestatten dürfte, ruhiger zu ruhen, wenn ich mir diese Freiheit herausnehme, und sicher,

was kann man da erwarten? Sie grummeln wieder! jetzt schon! schreien mich an, als ob ich Sie mit all dieser Musik im Kopf hören könnte, all diesen Erinnerungen an Erinnerungen,

ich selbst nur eine weitere Stimme im Getöse, in dieser ganzen Heteroglossolalie, die sich hier den ipsissima verba nähert (Schneidermann), so dass ich mich beim besten Willen nicht daran erinnern kann, was das Wichtigste ist,

die Spreu vom,

der Wald vom

der Wald in Polen, wo Schneidermann, er – nein, nur was ich will, nur was ich selbst weiß, werde ich in Erinnerung rufen: zuallererst diesen großen Mann und unsere Freundschaft,

unsere Verwandtschaft,

das Schiff, auf dem mein Vater und ich die Überfahrt machten (auf der Leviathan; und unglücklicherweise mein leiblicher Vater und nicht mein Schneidermann), das dem großen goldenen Gestirn entgegendampfte, das auf meinen Nacken trifft, über New York scheint und doch nicht wärmt.

Wenn Sie bloß zuhören würden, dann würden Sie etwas erfahren: aus meinem Leben, aus seinem Leben, aus unseren Leben und unserem Leben,

und diese Geige, auf die Sie sich vor nur einer Viertelstunde so eingestimmt haben, diese Geige gehörte, auch wenn er sie nicht gespielt hat, tatsächlich Hitler – nein, war nur ein Scherz, aber einen Moment lang haben Sie mir geglaubt, einen Moment lang hat dieses Artefakt uns Tiefe verliehen, hat alles verändert. Schneidermann, er hat übrigens selbst diese Geige gespielt (wenn auch nicht sehr gut),

Schneidermann, der vielleicht so verrückt starb, wie er immer gewesen war, Sie alle (sollten) ja den Langerredenkurzensinn kennen und von seinem Verschwinden vielleicht gelesen haben, am letzten und trägsten Sonntag auf der hintersten Seite unserer meinungsbildenden Blätter oder im nicht so erlesenen Pressewesen, die haben seinen posthumen Ruhm abgedruckt – seine vierzehn Minuten und neunundfünfzig Sekunden postmortalen Ansehens, seine Auferstehung für nicht einmal eine Viertelstunde, deren höchstwahrscheinlich letzten Akt, deren zweiten und letzten Satz dieses Konzert bildet, auf mein Ersuchen hin initiiert, meinen Einfluss, meine eigenen finanziellen Auslagen und mein Drängen, so schrill wie das jeder Frau, ob noch oder Ex, und was dann?

starb vielleicht verrückt, starb aber wie genau? und wo? starb jedenfalls, oder zumindest ich habe ihn an diesem Spätnachmittag begraben, Schneidermann, der mich mit dieser Geige beschenkte – die er seinerseits als Geschenk bekommen hatte, als Adelstitel eines Barons für seinen frühesten und einzigsten Erfolg, die Oper – als wollte er mich für meine oder meines Vaters Weitsicht belohnen, vor Hitler zu fliehen (ich mit meinem Vater, ich ohne meine Mutter oder meinen Schneidermann), und so könnte sie im poetischen Sinne, der Liebe und Kriege verursacht, Hitler gehört haben, wenn ich und mein Vater nicht Glück und Umsicht in dieser Reihenfolge gehabt hätten.

Eine Frage! Aus dem Orchester, das sich hinter mir vollversammelt hat, um meinen Solohintern zu bestaunen, hundertsieben Seelen, hundertacht im zweiten und letzten Satz, falls wir je so weit kommen, wenn auch die Harfenistin reinhaut – jetzt sitzt sie nur lieblich, atemberaubend und unnahbar da, die manikürte Hand im Schoß und durch und durch verlegen –, wie viele von Ihnen allen verstehen wirklich, was Sie spielen, wirklich und wahrhaftig, ich frage rhetorisch? weil alles, was der Solist tut, de facto aus Rhetorik besteht – oder wie einer meiner Anwälte immer sagt,

in Tat und Wahrheit, was ich nie ganz verstanden habe – alles ist heutzutage Rhetorik,

nicht Rhetorik als eine der schönen Künste,

wie Plato das sah,

als wesentlicher Bestandteil, als Ausgangsmaterial jeder guten, um nicht zu sagen allumfassenden Bildung, sondern im Sinne – im sinnlosen Sinne – der Quertreiber, der Zwischen- und Spottrufe, die einige von Ihnen jetzt absondern, die Krach schlagen, ohne erst zuzuhören, wie ich Schneidermann zurückzustehlen, ihn aus der Nekrologorrhö und ihrer Marktschreierei für die Kunst zurückzugewinnen trachte, Ihnen, die ungestüm Krach schlagen, ohne erst zuzuhören, als müssten Sie Ihre Existenz beweisen, als würde die nicht schon dadurch bewiesen, dass ich mich hier an Sie wende! also machen Sie nur! tun Sie sich keinen Zwang an!

Guten Abend, Herr Vorsitzender dieses Forums eines baldigen Fiaskos. Nehmen Sie Platz. Die Sitzplätze gehören ja alle Ihnen. Wir werden noch ein Weilchen hier sein.

Und wenn Sie schon dabei sind, könnte genauso gut jemand in eine nahegelegene Schenke gehen und bei José oder Manuel – oder María, falls die grad da ist? – ein paar überreife, von Migranten gepflückte Trenton-frische Tomaten besorgen. Wenn Sie die Konzertkarten nur für sich und Ihre liebe Mutter besorgt haben (oder gehört die schon zu den verschiedenen Verschiedenen?), wer außer ihr (oder denen mit derselben Ausrede wie sie, einer – sechzig Millionen starken – Minderheit anzugehören), wie viele von Ihnen wissen, was Sie hören, wenn Sie lauschen? wissen, was Sie gehört haben? und äußern Ihre Reaktion, wägen Ihr Urteil ab, ohne dass es Ihnen vorher einer sagt? wählen wir also jemanden – sind Demokratien nicht toll? außer in der Kunst –, der dann einen anderen beauftragt, das vergammelte Gemüse zu holen, und selbst wenn dann keiner damit wirft, geht das in Ordnung, denn ich bin sicher, mindestens eine meiner Frauen kocht eine gute Suppe.

Anfängliche Missverständnisse, Unverständnisse beim ersten Hören sind okay. Gehen in Ordnung. Sind zulässig. Zu erwarten. Ignoranz aber nicht.

Auch ich selbst bin zwar ab dem dritten Lebensjahr ausgebildet worden, war aber sprachlos, als Schneidermann mir das hier, nein, nicht das hier, sondern sein Konzert vorspielte, und zwar aus dem Klavierauszug, in dem nichts herausgezogen wurde, am ersten Tag Harmonielehre an der Budapester Musikakademie – eine seltsame Disziplin, dieses Studium der Harmonie, und noch seltsamer, es am ersten Tag dieses ersten Studiums mit dieser Komposition zu beginnen, aber so war Schneidermann, das war sein Genie, das war sein Totalbedürfnis nach totaler Aufmerksamkeit, nach Bestätigung, seine Methode war seltsamer sogar als dies, als sein Violinkonzert, das Schneidermann, er erklärte es, diese Komposition, in deren Wiedergabe wir pausieren, folgendermaßen, während er den Raum durchmaß,

denn Schneidermann, er schritt voran wie ein ungeschickter Versuch, eine Saite zu stimmen: angespannt, nervös vibrierend und erst nach und nach, nach stundenlangen körperlichen wie geistigen Exerzitien, wurde er etwas lockerer, erschlaffte täglich einem Nickerchen um 17.00 entgegen, verlor seine Tonlage, und von der Musik kam er auf das Bauchgefühl zu sprechen, seine Därme,

meine Darmen, so sprach Schneidermann das immer aus, wenn er es Helmholtz erklärte, Hermann, dem Akustikforscher aus Bonn und Berlin, der außerdem glaubte, Helmholtz glaubte, das Leben wäre von Meteoriten weit entfernter Sterne auf die Erde gebracht worden, oder zumindest Schneidermann zufolge, der mein Lehrer nicht nur in Sachen Musik war, sondern weit mehr, auch in der Kunst, der niedrigsten Disziplin der Geschichte, der höchsten Disziplin der Philosophie (Metaphysik),

im Leben,

Helmholtz starb ja 1894, Mahler ist auch tot, Schlesinger dito, der aber als Bruno Walter starb, denn wie kann man mit einem jüdischen Namen auf einen guten Tod hoffen?, fragte Schneidermann oft niemanden und erst recht nicht sich selbst, mit einer jüdischen Schaufel in jüdischer Erde graben ist schön und gut, auch ein jüdischer Grabstein mit einem Juden drunter und namenlosen jüdischen Bäumen drüber ist verständlich, aber ein jüdischer Name auf dem Stein? das ist vielleicht denn doch zu viel verlangt, könnte zu klar ersichtlich sein, zu unverblümt, ein Schlag in zu viele Gesichter, sagte Schneidermann oft beim Kaffee und noch mehr Kaffee und noch mehr Kaffee und noch mehr Kaffee

(egal wo Schneidermann und ich vor und nach unseren Matineefilmvorstellungen hingingen, Hauptsache es gab kostenloses Nachfüllen, KAFFEETASSEN OHNE BODEN) – Bernstein mit seiner goldenen Stimme ist hinüber, und, na ja, Schneidermann vielleicht auch, ja, vielleicht ist er tot, tot wie all die anderen, wie all die anderen Juden, vielleicht noch toter, vergessen, mein echter Vater, der mein Schneidermann sein wollte, ist vor langer Zeit verstorben, und ich bin es auch bald. Und aus Darm, Katzendarm, hat man Geigensaiten gemacht, falls Sie das nicht wussten oder vergessen haben – dafür sind Katzen da, fragen Sie meinen Freund, den Zeitungsredakteur Katz, der davon zehn Stück von der Straße hat, und dann wird die Zähmung einer Violine in ihren frühen Stadien natürlich oft als Katzenmusik bezeichnet,

und welcher Notenschmierer hat sich noch gleich von einem Miezekätzchen, das über seine Cembalotastatur lief, zu einer Fuge inspirieren lassen? Schneidermann, er hat’s mir mal erzählt, aber ich hab’s vergessen, er hat mir immer Sachen erzählt, die ich dann vergessen habe, wer war das beispielsweise noch mal, der seinen Vogelbauer mit Noten auskleidete? auch Frau Haydn? die war ja auch dermaßen religiös, dass sie,

oder ein Katzenklo mit Partituren von wem, Herrn Baryton? ja, Schneidermann, der wüsste das, der hätte das gewusst, der wusste immer alles, aber ich? Ich hatte nie Haustiere, und das hat den einfachen Grund, dass sie blöd sind, noch blöder als Menschen, als die Leute, aber Schneidermann, er hielt Spinnen in einem Marmeladenglas (wie Spinoza, eine intellektuelle Anmaßung), Spinnen, die er auf Leben und Tod gegeneinander kämpfen ließ, und einmal – aber bei ihm wusste man nie, ob er etwas ernst meinte, einen zum Narren hielt oder einfach alt wurde –, einmal jedenfalls erzählte Schneidermann mir, als wir zusammen aus der hierzulande nachmittags stattfindenden Matinee eines schlicht gestrickten Animationsfilms kamen, er sagte, er hätte kein Problem damit, eine Katze zu haben (Bastet, die ägyptische Göttin Bastet), er würde eine Katze zu sich nach Hause (in seine Wohnung, sein Zimmer) einladen, kein Problem, aber nur, wenn er Miete verlangen könnte, eine Mietzahlung wäre die einzige Bedingung für das Wohnrecht der Katze, und dann fragte er mich, eine wie hohe Miete er einer Katze wohl abverlangen könne, wie viel würde eine Katze meiner Meinung nach wohl zahlen für ein mit Manuskripten vollgestopftes Eckchen und Schneidermanns von Herzen kommende Gastfreundschaft? aber ich wollte ja nicht vierbeinige Lieblinge, sondern Schneidermann erklären (obwohl ich in einem gewissen Sinn ja auch Schneidermanns Liebling bin),

aber wenn ich Ihnen Schneidermann erklären soll, müsste ich Ihnen als Erstes sein Werk erklären, müsste Ihnen diese Komposition erklären, dieses Stück, in dem wir eine Pause gemacht haben, meine wilde Zäsur in seinem Konzert, aber Schneidermann, er war natürlich alles andere als ein erklärter Mann, sträubte sich gegen Erläuterungen, hatte nichts Programmatisches an sich, oder sein Programm war so lang wie unverständlich: Mann und Werk und Werk und Mann, kommt aufs Gleiche raus, ist ein und dasselbe, untrennbar,

sie klammern sich aneinander fest,

beide retten einander,

Interimsflüchtlinge quasi, die beide vor dem Terror der völkischen Inquisition flohen

(aber kann das an Grabesohren dringen über dieses Tal des

Gähnens hinweg?), nein, schicken Sie keine Antworten ein, mir egal, was Sie glauben,

wenn das überhaupt ginge und dann auf diese Entfernung – bestenfalls ist das alles doch ein in ein Enigma gehülltes und von einem krummen Fragezeichen stranguliertes Mysterium.

Enigma, in dieser Verwendung entgleitet das Wort, stiehlt sich fort in die eigene Definition, wird nach einigem Nachdenken verinnerlicht und nach innen gerichtet, aber in meiner eigenen Sprache, meiner ersten Sprache, deren Wörter ich als Junge lernte, in meinen weißen Matrosenanzug aus Alpakawolle gehüllt, lautet das Wort:

Rätsel, was fast ein Anagramm zu meinem Namen bildet, des Nachnamens Lästerer, also Spötter, den ich zu Laster geändert habe, also Untugend, anglisiert und später amerikanisiert wie alle Dinge und ohne Umlaut – den Einwanderungsbehörden, ROTHSTEIN Management sowie meinen Konzertveranstaltern sei Dank – mit dem Präfix Gottes- wird ein Gotteslästerer daraus, ein Blasphemist oder Gottfopper, und um diesem Namen alle Ehre oder Unehre zu machen, lästere ich durch meine Musik, zu Laster eingebürgert bin ich lasterhaft die ganze Nacht, fragen Sie mich morgen noch mal, und ich werde dasselbe antworten wie all den Zeitungen und Zeitschriften, die nach meinen Anrufen zurückriefen und Nachrichten hinterließen, weil ich immer den Antwortbeanrufer rangehen lasse, das machen hier in der City ja alle so, riefen immer wieder zurück,

wollten wissen,

nicht verstehen, sondern nur wissen,

die Fakten festhalten, wie eine Redakteurin sagte, als ließen Fakten sich jemals festhalten, ja wie denn?

Geboren in Buda oder in Pest – wo genau, kann ich mir nie merken – am Neujahrstag 1910, wurde Schneidermann.

Schneidermann zu mir: am 11. November 1911, was mir zu spät vorkommt, im ungarischen Kisvárda.

Schneidermann zu mir: am Neujahrstag 1906 in Böhmen, der späteren Tschechoslowakei, aber als Kind ungarischer Eltern (deren Name dort Šnajdrman geschrieben worden wäre).

Schneidermann zu mir: 1902! im rumänischen Máramaros-sziget, als Kind ungarischer Eltern.

Schneidermann zu mir: 1904 in der heutigen Ukraine, als Kind ungarischer Eltern (wenn es ein anderes Wort gab, sagte Schneidermann nie JÜDISCH).

Schneidermann zu mir: Ungwar, Weihnachten 1909.

Schneidermann zu mir: am fraglichen Tag in Košice.

Ein haarloser Mann, der sich nie rasieren musste, obwohl er behauptete, er rasiere sich dreimal am Tag,

ein kahler Mann wie Pan mit knochigem Schädel und höckriger Stirn, die Amerikaner an einen Dinosaurier erinnern könnte, Juden an einen Propheten wie Jeremia oder Moses und die die Europäer – falls noch welche übrig sind – einst als un double front bezeichneten.

Ein kahler Knochen von Mann, der es sich zur Gewohnheit machte, eine auf der Straße gefundene Damenperücke zu tragen,

das Müllcontainertauchen, sagte Schneidermann oft, sollte als olympische Disziplin anerkannt werden,

Schneidermann, er dachte immer an die Griechen,

ein Mann, der einst beim Spazierengehen und weil er immer Schuhe trug, die ihm zu groß und zu weit waren, weswegen sie ihm immer von den Füßen fielen, in Midtown von einer Schlange in die Ferse von welchem Fuß weiß ich nicht mehr gebissen wurde. Die Schlangensorte weiß ich auch nicht mehr. Er überlebte.

Schneidermann zu mir: ich kam in Miskolc zur Welt, aber wir wohnten in Nyíregyháza, in Debrecen, in Békéscsaba, in Orosháza – unterbrechen Sie mich, wenn ich mich ereifere, ich dachte immer, die Vergangenheit wäre vergangen, und wer will sich da schon dran erinnern? habe ich immer gedacht,

wenn man als Musiker geboren wird, wird man der Welt geboren, wie Schneidermann, er sagte das immer.

Schneidermann zu mir: wir hatten kein Geld.

Schneidermann zu mir: wir waren arm.

Schneidermann zu mir: nach dem Tod meines Vaters.

Schneidermann zu mir: meine erste Komposition,

mein Opus I,

offen gestanden, betrachte ich es nicht als

Teil meines Werks,

also meine allererste Komposition wurde

für vier Stimmen geschrieben, SATB, ein Choral – ich war vier Jahre alt, ich war fünf, Schneidermann, ein anderes Mal sagte er, er wäre drei gewesen – zu einem Text meiner Mutter,

seine Mutter, sie starb bei der Geburt,

Zwillinge,

ein Rudy und ein Schneidermann waren sie,

zu einem Text von Goethe,

zu einem Text von mir, in meinem äußerst primitiven Hebräisch, das ich bei einem abtrünnigen Melamed gelernt hatte, der:

Gar manches Herz verschwebt (Bass und Tenor im Kanon) im Allgemeinen (Alt), Doch (Sopran) widmet sich das edelste dem Einen, und Schneidermann der Eine, er erzählte mir das mal während dreier meiner Mentholzigaretten gegen einen seiner dreizehnfachgefilterten Kaffees, ich sang den Eunuchensopran, sein Vater den Alt, die eine Tante den Tenor und eine andere den Bass, und bei der Welt-, wenn nicht intergalaktischen Universumspremiere, Schneidermann er dirigierte sie vom Klavier aus, verbleute und vertrimmte, klimperdrosch mit den Unterarmen drauflos, verdoppelte sie auf dem alten Pianino, dem asthmatischen, schimmelfleckigen Spinett, das sie hatten, bis Schneidermann zwölf wurde, und die Tanten, sie schenkten ihm den Flügel, opferten ihr ganzes Vermögen seiner Kunst, und mehr als das hat auch Schneidermann sich schließlich nie abverlangt – er opferte seine Gesundheit (für ihn war das ein Tag der Asiatischen Grippe, zu einer Zeit, als ein Tag mit Asiatischer Grippe bereits der letzte sein konnte), um mir aus dem Gedächtnis diese seine allererste Komposition vorzuspielen, denn die Partitur war im Krieg verloren gegangen, den Schneidermann oft mit den Worten

was geschah oder

das was geschehen war umschrieb – das war vor sechs, sieben Jahren unten in meiner alten Wohnung in Midtown (Westside; nie wieder zieh ich auf die Eastside), jetzt die einer Exfrau, genauer gesagt eines angeheirateten Ehemanns, als wir, Schneidermann und ich, zusammen probten und ich aus irgendeinem Grund begriff, dass dies eine weitere Sonate für Geige und Klavier war, die Schneidermann nie vollenden sollte, und nachdem er meinen zweiten Einsatz bei Takt 94 unterbrochen hatte, um mir dieses Jugendwerk vorzuspielen (die Melodien besaßen eine gewisse Verwandtschaft),

mein Opus –1, mein prähumes Opus, wenn man so will, wenn man es so nennen soll, sagte Schneidermann:

dann erschieß mich doch! ich war eben jung!

und um mit dem Trauma fertigzuwerden,

dem was geschah, dem

was geschehen war,

mit ansehen zu müssen, wie meine damalige Frau vor meinem Auge totgeschlagen wurde (Polen, 1944), es wäre verrückt, dies seinen reifen Werken an die Seite zu stellen, dieses Werk – eine Fingerübung – neben den späten großen Meisterwerken gelten zu lassen, die ihren Vorbildern gleichkamen oder sie gar übertrafen:

etwa die drei berüchtigten Hammerschläge in Mahlers 6. Sinfonie von 1906: die gegen den Juden erzwungene Beendigung seiner Intendanz an der Hofoper in Wien, der Tod seiner vierjährigen Tochter Maria, die Diagnose seiner eigenen tödlichen Herzkrankheit durch einen gewissen Doktor Marianus – ist noch einer im Haus? mal die Nachwelt anpiepsen! alles umgestaltet, wiederbelebt, erneuert und reinkarniert in Schneidermanns nie eingestandenen Diebstählen, Bearbeitungen, Entlehnungen wie beispielsweise die gesamten acht Takte Note für Note des eventuell noch bevorstehenden zweiten und letzten Satzes, die ohne ihre Orchestrierung, ohne Anerkennung, Danksagung oder auch nur einen vordatierten persönlichen Scheck an Arnold Schönberg aus Der biblische Weg des Meisters von 1926/27 entnommen wurden, in dem sich schon das spätere Opernmeisterwerk Moses und Aron ankündigt, wobei die beiden Tafelbrüder zu einer Figur verschmelzen, einem Max Aruns, ein Name, den Schneidermann als Pseudonym benutzte, als er in den Fünfzigern und Sechzigern in dem von Kakerlaken befallenen und rattenschissverspachtelten Stehplatz an der Westside lebte, bevor ich dort einzog,

oder dass Schönberg, wie er sich ursprünglich schrieb, in seinen neuen Papieren Schoenberg, in Los Angeles, im schönen Kalifornien, das Ding nicht vollenden konnte, sich nicht überwinden konnte, seine letzte und einzige Oper zu vollenden, allem zum Trotz den dritten und letzten Akt nicht vollenden konnte, wie Keine-Lyrik-nach-Auschwitz-Adorno aufzeigte, der selbst dem Schweigen, der Formlosigkeit und dem Nichts zum Opfer fiel; Zunichtewerden als Strafe für den Verstoß gegen das zweite Gebot gegen die Anfertigung oder Neugestaltung von Götzenbildern, die Moses da irgendwann irgendwo zerschlägt, während Schönberg jahrelang! jahrelang! – in Amerika, am Pazifik, dem falschen Ozean – er zögerte, die erste und einzige Szene von Akt III, dem letzten Akt, zu vertonen, oder dass er kurz vor seinem Tod doch einwilligte – oder einlenkte? – jedenfalls erklärte er sich einverstanden, dass der dritte Akt seines Meisterwerks »ohne Musik, bloß gesprochen aufgeführt wird«, falls er die Komposition in seinen letzten Tagen nicht vollenden könne, was er nicht konnte und was sie waren,

die ersten beiden Akte des besagten Werks funktionieren aber, zumindest in meinem Ohr (oder in meiner Erinnerung, denn die ersten, letzten und einzigen Male hörte ich es einmal von Schneidermann und einmal in der Met, wo ich während der Szene ums Goldene Kalb mit einer Kuh von Komparsin schlief),

sie hören sich absolut wie ein absolut unironisches Plagiat in ganz und gar böser Absicht an – wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, denn Schneidermann, er war oft mein Gedächtnis, und in einem seltenen Augenblick der Stärke fasste er sich ein Herz und stellte klar: dass jene Oper in der Tat großenteils ein Takt-für-Takt- und oft sogar Note-für-Note-für-Note-Diebstahl von seiner, Schneidermanns, eigener und einziger Oper war, Die Ziege von 1932/33,

La Capra, wie sie in der alten Sprache der Oper geheißen hätte, war seine einzige, erste und letzte Oper: ein Bombenerfolg, durch den sich für ihn alles veränderte, was sich ein paar Jahre später, sieben, sechs, erneut verändern sollte, ihm haufenweise Ruhm und Geld einbrachte, was er durch den Krieg schnell wieder einbüßte, mit dem Libretto eines gewissen Zed Hofmeister (mit einem f, wie er einem einschärfte), einem vor Schönheit aufgeblasenen Salonlöwen aus Berlin, der Schneidermann erst seine Schwester und dann seine Frau umwerben ließ, während er selbst loszog und Ärsche lutschte oder jedenfalls alles Mögliche anstellte, außer an der Ziege zu arbeiten (durch die Post brauchte er drei Jahre),

sein Libretto handelt von einem ausgeleierten wenn nicht damals schon total abgedroschenen jüdischen Thema, wobei das natürlich alle Themen sind und absolut alles jüdisch ist, wenn man zu dem Typ Jude gehört, aber Sie werden verstehen, dass wir – sie – auch damals, was zumindest den meisten von Ihnen hier wie eine Ewigkeit her vorkommen muss, von einem sinaihohen Gipfel der Weltkultur herab die gesamte Schtetl-Ästhetik ausschlachteten,

genau wie der schmalzige Chagall

und später der Nobel-Singer,

um damit unser eigenes Süppchen zu kochen, unseren eigenen Aberglauben auf die Schippe zu nehmen, derweil wir die Gojim als Moderne überholten, ihren Nationalismus aushebelten oder zumindest verurteilten, während wir uns an unseren klammerten, in allen vier zehn Szenen langen Akten der Ziege und darüber hinaus in der Welt (die Ouvertüre war beliebt und wurde damals oft ausgekoppelt aufgeführt), in der, ich hasse Zusammenfassungen und Sie sollten das auch:

in der also ein reicher Herzog, der nichts anbrennen lässt, und andere gibt es ja wohl auch gar nicht, nein, Moment, das ist ein Baron, van oder von Irgendwas,

könnte gut ein kleines halb deutsches, halb österreichisches Blaublut namens Gregor van Vonvon gewesen sein, das Libretto hatte jedenfalls den entsprechenden Reifegrad,

dieser Baron van oder von Baron verliert jedenfalls seine Männlichkeit, der Typ verwelkt einfach, ein laublütiges Blaublut, und es muss wohl nicht eigens erwähnt werden, dass das lange vor dem Aufkommen der kleinen blauen Pillen ist, eine kleine Unendlichkeit vor den 100 mg pro Dosis oder sind das Tabletten von PFIZER? also er bringt jedenfalls keine Leistung, keine Kur schlägt an, nichts, auch wenn er im ersten Akt alles ausprobiert: beten und noch mal beten, den Verzehr der verschiedensten Wurzeln und Knollen, primitive Saugtherapien, bei denen hinter den Kulissen gedämpfte Posaunen zum Einsatz kommen, einmal geht der Vorhang vor dem ganzen Zinnober auf und zeigt ihn im Bett mit einer seiner vielen Frauen, einem Bauernmädchen, das ihn bloß auslacht, lacht und lacht, »ihr Lachen bauscht den Damastbaldachin des eichenen Himmelbetts zu Wolken, die die untergehende Sonne purpurn färbt« – so viel zu Hofs Regieanweisungen! Das ist die erste und meines Wissens einzige reine Lacharie im gesamten Opernrepertoire, eine Arie, in der eine heitere Hetäre, Das Bauernmädchen (in diesem Fall, ihrem Debüt, ein Mezzosopran mit Glupschaugen, Pferdefresse und schlagringharten Nippeln), zur Musik einfach nur lacht, gewiss, in festgelegten Tonhöhen, aber das war ästhetisch und formal gesehen die einzige Neuerung gegenüber der sogenannten Sprechstimme, mit der Schönberg im Pierrot Lunaire zwei Jahrzehnte zuvor Neuland betreten hatte,

aber nicht nur diese Arie, die schon den formalen, wenn nicht ästhetischen Höhepunkt der Technik darstellt, sondern alle Zeilen, die gesamte Rolle dieses tuberkulösen, schwindsüchtigen, spitzknochigen Mezzos besteht nur aus Lachen, eigentlich sind alle Zeilen aller Frauen des Barons (mit Ausnahme seiner Ehefrau, der Baronin), und deren gibt es viele (Frauen, nicht Zeilen), nur Lacher auf einer festgelegten Tonhöhe, der gute alte Hof stand nicht gerade auf harte Arbeit, daher dieses ständige Lachen, Lachen, Lachen, Mann, wie ich Opern hasse!, und ein seltsamer alter jüdischer Arzt, nein Rabbi, überzeugend dargestellt von einem Debütanten namens Hans irgendwas mit K, der geht eines Tages spazieren, sagen wir, er will seine notleidende Schwester besuchen oder ist zu einem Sabbatauftritt meinetwegen in Kasrilevke unterwegs und wird fast überfahren, der Baron macht ihn mit seiner Kalesche fast platt, seiner Kutsche, keiner ungarischen kocsi, auf die das Wort zurückgeht – MADE IN KOCS –, eher einem deutschen Landauer, auf Schneidermanns Drängen hin unterwegs zu einem therapeutischen Serail, was Hof nicht weiter ausgestaltet hatte, denn der musste die Überarbeitung abbrechen, weil er in Davos einen dringenden, wenn auch verfrühten Termin mit dem Tod hatte, und der Baron vertraut dann dem Rabbi – bei dem er sich für den um ein Haar tödlich ausgegangenen Unfall natürlich nicht entschuldigt, und außerdem lässt er erst noch die Peitsche mit sexuellem Unterton an seinem Postillion, einem Mohren, aus – prompt sein winziges Impotenzproblemchen an, und der Rabbi rät ihm, sich eine Ziege zu besorgen, ganz recht, eine Ziege, sie in seinem Zimmer einzuquartieren, nur sie und sich im baronalen Bett im baronalen Schlafzimmer schlafen zu lassen und zwar bis zum Anbruch des jüdischen Monats Nisan, um Ostern herum, wie der Rabbi erklärt, rund drei Monate nach der fast tödlich ausgegangenen Kollision mit dem Tötungsfahrzeug, dann werde er geheilt sein, und der Baron kommt dem Rat nach – was bleibt ihm auch anderes übrig? –, lässt sich aus den Stallungen eine Ziege kommen, liebevoll aufgezogen und jetzt die einzige Freundin eines armen Stalljungen, der bloß den ganzen Tag Flöte spielt (pantomimisch, aber aus dem Orchestergraben hört man dazu eine Piccoloflöte, eine normale Querflöte, eine Altquerflöte und in einem denkwürdigen, 24 Takte langen Solo eine mit Flatterzunge gespielte Bassflöte, ein Instrument, das von Rudall Carte & Company erst ein Jahr zuvor perfektioniert worden war, und zwar auf Grundlage des Böhm-Griffsystems, dessen Patentinhaber mit dem Flötisten der Uraufführung irgendwie verschwägert war),

dieser so arme wie junge, Flöte spielende Stalljunge liebt jedenfalls die Herzogin (die Femme fatale der verfemten Kunst),

und die Baronin liebt ihn auch, und es ist natürlich schon seit Jahren ein offenes Geheimnis, dass die beiden was haben,

und den Rest können Sie sich eigentlich selber zusammenreimen: der Baron schläft in seinem Bett mit der Ziege, und weil wir es mit der deutschen Moderne kurz vor dem Zweiten Weltkrieg zu tun haben (um nicht zu sagen verdrängtes Weimar oder gar ein österreichisch-ungarisches Überbleibsel), ergibt sich eine Übertragung von weit mehr als nur Temperament zwischen Baron und Ziege – gespielt von dem Juden Hans irgendwas mit K, der auch den Rabbi gespielt hat –, und durch allmähliche subtile und für damalige Verhältnisse fast übernatürliche Beleuchtungseffekte sowie natürlich einige musikalische Holzhammerandeutungen (jedem Pläsierchen sein Tierchen) kommt es zu einem kompletten Existenztausch: der Baron wird die Ziege, und die Ziege wird der Baron, der ehemalige Baron, die Ziege, begibt sich in die Obhut des armen Knechts oder Stalljungen zurück, der die Baronin heiratet, nachdem die ehemalige Ziege, der jetzige Baron, sie abserviert hat, der jetzt wieder, ähem, mehr als volle Leistung bringt und diese Leistungsträgerschaft mit einem großen spritzenmäßigen Finale aufnimmt, einem sämtliche Finale in den Schatten stellenden Finale, das sämtliche Zensoren zum Herzinfarkt treibt, einem vollen Publikumserfolg, einer über einen ganzen Akt sich erstreckenden Szene intensiver und zügelloser Unzucht:

okay, also Schneidermann, er hasste das Libretto auch noch nach seinen eigenen, hastigen Überarbeitungen im Anschluss an den ersten Durchlauf in Berlin, aber er verdiente sich dumm und dämlich daran, und die Oper ist zigmal so intelligent wie die Zauberflöte mit ihrem ganzen Freimaurermeschuggas – einem von Schneidermanns Lieblingsausdrücken,

oder Der Rosenkavalier, mal ehrlich, die Musik von diesem Großnazi Richard Strauss, der als Wiedergutmachung und um am Lebensende über die Runden zu kommen am Kriegsende hingeht und den Inbegriff der Selbstbeschränkung komponiert, sein spätes Oboenkonzert für John de Lancie, einen amerikanischen G.I. vom Chicago Philadelphia Orchestra, der damals in Strauss’ Villa in Garmisch-Partenkirchen einquartiert worden war und, aber egal, nach fast achtzig, ständig von schockierten Zwischenrufen gestörten Aufführungen, die Schneidermann höchstpersönlich inszeniert und dirigiert hatte, fiel für Die Ziege der letzte Vorhang, und sie machte ihren Komponisten ganz schön berühmt oder sagt man berüchtigt, verschaffte ihm einen Namen, und das ist ja letztlich das Einzige, was zählt, hat mit Integrität nichts zu tun, da die Partitur angeblich – laut Schneidermann von belanglosen Musikwissenschaftlern des Letzten Reichs – zerstört wurde, glücklicherweise jedenfalls im Krieg verloren ging,

laut Schneidermann zur Zeit dessen, was geschehen war,

wenn man den ganzen Text wegließ, war die Musik hervorragend, weiß ich noch von seinem Vorspielen und -singen, er näselte mir in meinem mindestens herzoglichen Penthouse im Grand aus dem Gedächtnis Fetzen daraus vor,

oder wenigstens Schneidermann, er erzählte einmal: lass die Wörter weg, und die Musik spricht in eigener Sache, spricht viel mehr zu ihrer Zeit, reicht viel tiefer als zum Beispiel der Rosenkavalier – Uraufführung 1911 in Dresden, einer Stadt, die sinnlos in dreißig Silberscherben zerbrechen sollte, kurz nachdem die Alte Welt 1914 oder 1918 gestorben war, können Sie sich aussuchen, jedenfalls mit dem Krieg, und die einzige Oper, die zum Vorschein kam, die dem klaffenden Anus mundi entkam, sagen wir subito durch die Speiseröhre, war danach von Puccini, falls Sie das noch nicht wussten, nie erraten hätten, Signore Giacomos Rückfall von 1924 in die von ihm nie vollbrachte Jahrhundertwende, das Sahnetörtchen Turandot mit seiner dreirätseligen asiatischen Eisprinzessin wie welche Exfrau?,

mit Ping, Pang und Pong, die in Peking im Trio den Verismus praktizieren, ein Werk, das für ein Publikum wie Sie ein Nessun dorma so ziemlich garantieren würde,

ein ewiger Dauerbrenner, der wahrscheinlich heute Abend gegeben wird, jetzt gerade und nur eine kurze U-Bahn-, Taxi- oder Mietdroschkenfahrt entfernt in der Uptown, so erfolgreich wie 1926 nach der verspäteten Uraufführung, als der Schüler des Komponisten, den Nachnamen hab ich vergessen, Schneidermann, er hätte ihn gewusst, die Oper vollendet hatte (wenn Sie jetzt gehen, können Sie es noch rechtzeitig schaffen),

das einzige Werk im Idiom jenes Idioten, das nach ANBRUCH (in Großbuchstaben) der MODERNE (in riesigen Lettern) das – fehlende – Interesse der Massen fesselte,

aber in unserer Version, unserer Bearbeitung, könnten wir sagen, dass der gebundene Baron, der jetzt eine angeleinte Ziege ist, unfreiwillig Zeuge wird, wie sein Exknecht seine Exfrau nagelt bis zum Stillstand der Pupillen, während er zu den fleckigen Elfenbeintasten nur wie verrückt seine Arien blökt, oder dass der Knecht die Ziege, also den Exbaron, es seiner Exfrau besorgen lässt oder das jedenfalls versuchen lässt, während er, der Knecht, beiden mit einer verrosteten Mistgabel, die bestimmt nur ein Requisit ist, in allen Löchern herumstochert:

das war mein Vorschlag für eine Aktualisierung, für eine Ziege, Version 2.0, eine Wiederbelebung, eine Neuproduktion der Oper, aber Schneidermann war nun mal Schneidermann, und Schneidermann, er sagte Nein, Nein und nochmals Nein, weigerte sich zuzuhören, konnte nicht, Schneidermann, er konnte mit Beiträgen anderer nicht umgehen, bedauerte sogar, die Oper überhaupt komponiert zu haben, seine erste, einzige und letzte Oper, verleugnete sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit, genauer gesagt, Schneidermann, er sprach nie über sie, mochte das jedenfalls nie, vermied jede Erwähnung, ehrlich, oder er vergaß sie ganz und gar, behauptete das jedenfalls und versuchte es auch wirklich (bei amerikanischem Whiskey, amerikanischen Matineefilmen, bei amerikanischem Whiskey zu amerikanischen Matineefilmen), stritt ab, überhaupt von ihrer Existenz zu wissen, mit jeder erdenklichen Methode oder auch ganz unmethodisch, durch Ignoranz oder andere Ablenkungsmanöver, er schrieb sie einem anderen Schneidermann zu, einem ähnlich jungen Shootingstar, dessen Potenzial vom Krieg glücklicherweise erfüllt wurde oder eben nicht, dem Zweiten Weltkrieg: durch Tod im Osten, in einer Version in Buchenwald bei experimentellen Immunisierungsversuchen, in einer anderen durch Kältetod in Dachau,

Schneidermann zu mir: mein Vetter,

Schneidermann zu mir: kein Verwandter,

Schneidermann zu mir: in Wirklichkeit hieß nur der Librettist Schneidermann, und das war natürlich ein Pseudonym,

aber als Pseudonym vielleicht nicht ganz so todlangweilig wie Larry Lee beziehungsweise Lawrence Lee – der amerikanische Künstlername meines kommunistischen Konzertmeisters, der gerade nach rechts abgeht.

Herrgott! einem Asiaten kann man einfach nicht trauen – die sind alle so teuflisch, undurchschaubar und so, wie heißt das noch gleich?

friedfertig! Nun gut, Wang Lee, das kannst du halten wie ein Dachdecker, du Stehgeiger! du hast keinen Geschmack, kein Ohr und kein Fingerspitzengefühl, nie und nimmer findest du wieder einen Job in dieser Stadt, die vom jüngsten Wintereinbruch ganz nass ist.

Ich habe vergessen, dass wir ja schon fast Weihnachten haben. Auch wenn die meisten von Ihnen hier im Saal das nicht feiern. Ein frohes Frohes also Ihnen und den Ihren.

Denn ich war doch der Lehrer all dieser Leute, der ganzen asiatischen Pings, Pangs und Pongs. Die glauben, sie können spielen, dabei können sie gar nichts. Die denken an Musik und spielen Mathe. Nicht Puccini. Und schon gar nicht Schneidermann. Aber wenn ich als Asiat auf die Welt gekommen wäre, wäre das Leben so viel einfacher gewesen.

Ihr Routineaffen! die Hälfte der Streicher besteht aus Asiaten, die den musikalischen Juden die knappen Stellen in der Musik wegnehmen! Ihr habt Einsteins Bombe verdient! Ihr habt doch null Ahnung, was Ekstase ist! Woran glaubt ihr eigentlich?

Ich persönlich glaube an den Tod. Das liegt aber daran, dass ich etwas aus meinem Leben machen sollte, dass ich das Geburtsrecht wahrer Größe habe,

nämlich die Aufgabe, die Welt zu vertreten,

das auserwählte Volk, das den Völkern das Licht bringt, und den Rest kennen Sie ja:

bis zuletzt mit gutem Beispiel vorangehen, ein Märtyrer bis zum bitteren Ende, noch nicht ganz – muss noch Rechnungen bezahlen, Schecks ausstellen, Schulden tilgen und Forderungen begleichen, also muss ich weitermachen, mit dem hier, muss weiter den Doktor Eisenbarth geben, herumquacksalbern, von Spielzeit zu Spielzeit tingeln, unweigerliche Mozart-Premieren, meinetwegen Beethoven-Dernièren und noch jede Menge Drumherum:

Mozarts 5. Violinkonzert, ja, Beethovens einziges, klar, aber auch Brahms’, Bergs, Bartóks 1., sogar Busonis, wenn ich großzügig drauf bin, Schostakowitschs 2. und,

ich muss es am Laufen halten, ein Perpetuum mobile bei der Wiederkehr der immer gleichen Tournee, der ewigen Tournee ins endlose Nichts und warum? siebzehnmal verpflichtet worden, Schostakowitschs 2. zu spielen, und in der nächsten Spielzeit schon wieder, von hier bis in den Konzertsaal von Lenins Heimatstadt, Schostakowitschs 2. Violinkonzert, das er ein Jahr zu früh für den sechzigsten Geburtstag des Virtuosen Dawid Oistrach komponiert hatte, doch bevor der Komponist den Fehler begehen konnte, seinem Freund und Interpreten zur Feier des Tages die Partitur zu überreichen, erkannte Schostakowitsch seinen Rechenfehler, ging nach Hause und schrieb seine so wundervolle wie verschrobene Sonate für Violine und Klavier, das eigenwillig dodekaphone op. 134, das ich ebenfalls spiele, das ich oft mit Schneidermann gespielt habe, aber nur privat, und Schneidermann, er,

Schostakowitsch hat ja immer so schnell komponiert, obwohl er die Partitur der Sonate nun wiederum einen Monat zu spät für den wirklichen sechzigsten Geburtstag des Virtuosen im Jahr darauf vollendete: das seltsam tragische Jahr 1968, und ist das nicht echte künstlerische Geistesabwesenheit, ja? und von echter russischer Entropie im Stalinstil, nicht wahr? aber es ist auch fast total liebedienerisch: die Beziehung des Komponisten zum Interpreten, während meine

Beziehung (ich mag das Wort nicht und misstraue ihm mehr als allen anderen) zu Schneidermann ganz anders war, geradezu gegenstrebig: ich diente ihm, der Interpret dem Komponisten, ich warb um ihn:

ich bin Schneidermanns wahre Ehefrau, seine lieblich singende Tochter, die seine Weißwäsche auf meine längste Wäscheleine hängt,

ist Ihnen nicht klar, dass ich Schneidermanns Erfüllungsäffchen bin?

dass ich aushalten und aushalten muss, bis es aus ist? Ein Perpetuum mobile, ja, diese Passacaglia à la Schostakowitsch, dieses Perpetuum mobile bei der Wiederkehr der immer gleichen Tournee, ja, ich bin der ewig tourende wandernde Jude auf der Rückkehr ins endlose Nichts, und warum?

Weil ich genau wie Sie Rechnungen bezahlen und Schulden tilgen muss, x Hypotheken bedienen, Alimente zahlen, mein ganzes Geld: millionenfach gestückelte Unterstützung von jetzigen und Exfrauen, die immer mehr Kleider mit Konfektionsgrößen XXXXXS brauchen,

Kinder und sogar Enkelkinder, die stempeln gehen und vom Elterngeld abhängen: Kinder der ersten Frau, Kinder der zweiten Frau, Kinder der dritten Frau, ein ganzer Kinderchor aus so leeren wie hungrigen Mäulern

doch calando! calando! calando!, wie Schneidermann zu sagen pflegte (für ihn lahmte ich immer zu schnell downtown) – calando, ja, im Musikitalienisch bedeutet das an Tonstärke und Tempo nachlassend

es ist aber auch ein Anagramm von Doc Alan, meinem ärztlichen Erstkontakt, meinem Prostatataster mit Künstlerhänden, die gehören gegossen in Bronze oder Gips, können Sie sich aussuchen, aber achten Sie auf Ihr Budget, und nicht auf seine prachtvolle Uhr, aus der Schweiz, die seine Frau, aus Indien, ihm zum goldenen Geburtstag geschenkt hatte oder war’s die goldene Hochzeit? jedenfalls sein oder ihr gemeinsamer fünfzigster, damit er mir immer sagen kann, wenn meine Zeit abgelaufen ist, aber sagen Sie doch mal, Doc: sind Sie enttäuscht, dass ich meine berühmte Kadenz zugunsten dieses improvisierten Stücks hintangestellt habe, das zumindest die Mütter da draußen Kacki, Kaka, Dreck nennen würden (oder mit welchen sonstigen mütterlich bagatellischen Wörtern sie unseren Horror vor der unumgänglichen Eigenschaft, dem universellen Absoluten des Lebens beschwichtigen wollen, das da lautet: Scheiße)?

come on, Doktor, come prima, come sopra, mir können Sie’s doch sagen: wie fühlen Sie sich angesichts dieser bald schon berüchtigten, bald zum Inbegriff des Wertlosen gewordenen Nichtaufführung – meine, nicht Schneidermanns –, wie sie gerade in diesen berühmten und abbruchreifen Saal gespien wird?

denn die Hoffnung stirbt zuletzt, stimmt’s?

diese zu Recht oder Unrecht berühmte und hochgeehrte Carnegie Hall, benannt nach einem Mann, der auf dem Weg nach oben sogar seine eigene Wohltätigkeit ausbeutete, dieses Konzerthaus, das einst auf den schmerzenden Rücken eingewanderter Atlasse, Eisenbahner und Stahlkocher erbaut wurde, die die Bundesregierung rein zufällig nicht einfach bei einem Streik abgeknallt hatte, als es mit dem Hippodrome zu Ende ging, ist heute nur noch mit mildtätigen Subventionen und Zuwendungen am Laufen zu erhalten, das Geld wird direkt aus den Gräbern gebuddelt – wie lange dauert das wohl noch, bis sie dichtgemacht wird? wie viele halbvolle Konzerte in diesem 1 000-Personen-Saal wird es noch geben? wie oft werden Sie Ihre Plätze im ersten Rang schon in der Pause verlassen, um ins Restaurant zu gehen (obwohl Sie den Tisch erst für eine Dreiviertelstunde später haben reservieren lassen)? wie lange noch, bis Sie einfach keine Schecks mehr schicken, weil Sie etwas gefunden haben, das man Ihnen als unterstützungsbedürftiger angepriesen hat? das als der letzte, ja der allerletzte Schrei vermarktet wird? wie viele Spielzeiten noch ohne Abonnement, mit einem auswendig aufsagbaren Repertoire, bis das alles schließlich und vielleicht sogar glücklicherweise mit Brettern vernagelt und zum Abriss freigegeben wird?

wie die berühmten Aufnahmestudios von CBS in der 30th Street (hier spielte man – dort nahm man auf), die alte Barockkirche, oder eher schon dieser wundervolle nichtkonfessionelle Tempel aller großen Virtuosen einschließlich meiner Wenigkeit, wo für meine erste amerikanische Aufnahme von Mozarts Violinkonzerten 1955 die rote Lampe eingeschaltet wurde, im selben Jahr, in dem auch Glenn Gould in derselben Einrichtung erstmals Schallplatten aufnahm, und einmal dürfen Sie raten, wer die ganze Presse abkriegte; bevor das Studio 1981 an den Multi verkauft wurde, gab es letzte offizielle Aufnahmen und mit wem? was glauben Sie? aus zwar nicht klassischen, aber doch barocken Symmetriegründen war es abermals Glenn Gould, der selbst in seiner misanthropischen Abgeschiedenheit unvermeidliche, unumgängliche Glenn Gould, der unvermeidlicherweise BWV 988 aufnahm – Bachs Goldberg-Variationen –, zum zweiten Mal, eine Zugabe-Aufnahme, könnte man sagen, oder Wiederneuaufnahme, nachdem er schon 1955 im selben Studio dasselbe Werk aufgenommen hatte, jedenfalls war das die letzte behördlich zugelassene Aufnahme-Session in jenen heiligen Hallen, bevor diese in die Zukunft starben:

und eine im Dunkeln leuchtende Disco wurden, der neuste Zeitgeist-Nightclub oder was weiß ich (ich komm da nie dran vorbei, weil ich in dieser Stadt nicht spazieren gehe),

aber das ist okay, denn Glenn Gould zog sich wieder in seinen Schlupfwinkel zurück, kam mit heiler Haut wieder in Toronto an, hatte nie Probleme wie die meinen, weil Glenn Gould, er heiratete nie und ich schon, außer seiner Mutter gab es nie eine Mrs. Gould, aber es gibt wahrscheinlich hundert Millionen Mrs. Lasters (fragen Sie meine Anwälte; oder ihre),

und wahrscheinlich sind sie heute Abend alle hier unter Ihnen! flüstern, tsissen, tratschen, vergleichen Schiedssprüche und Vergleiche, Herrgott, am Ende stillen die sich gegenseitig! ein ganzer Konzertsaal voller Exgattinnen und einer jetzigen, wahrscheinlich aber nicht mehr lange, Frau, und die Mrs. Lasters stellen alles Mögliche an, hören aber nicht zu,

ihr habt mir nie zugehört,

aber das ist nun auch fast fünfzig Jahre her, nach Norden am Haus einer Exfrau bei Danbury vorbei, nach ihrer zweiten Scheidung genauer gesagt jetzt der Immobilie meines Exnachfolgers, wenn man so will, jedenfalls da oben in Ives’ Walachei, dem ›Housatonic at Stockbridge‹, genau, außerhalb von Charles Ives’ Kaff da oben im nennen wir’s höflich ländlichen Connecticut, auf dem Weg nach Boston kommt man da dran vorbei, im alten klapprigen MERCEDES M-KLASSE bin ich da tausend und ein halbes Mal im Schlaf hochgefahren, um diese schnellen, straffen One-Night-Stands in der akustisch nahezu vollkommenen Symphony Hall der Stadt abzuliefern, wo RCA VICTOR im Winter 1954 so ziemlich im Alleingang das Mehrspur-Aufnahmeverfahren erfand, als nämlich Charles, der für mich immer Chuck Munch war, zusammen mit dem Boston Symphony Orchestra interessanterweise ausgerechnet Berlioz’ riesige Damnation de Faust einspielte,

die Ingenieure von RCA nahmen die Aufführung sowohl mono als auch auf Zweispurtonbändern auf – das waren die ersten Vorstöße in die WORLD OF STEREO, den Stereo-Sound, den heute jeder Hinz und Kunz bis in die Badezimmer installiert hat, so dass das monaurale Hören der Vergangenheit angehört, im Klo runtergespült worden ist und man alle Nuancen von Heifetz erfasst (hat ja keinen Sinn, den Namen ewig zu verschweigen),

Piatigorsky, Reiner, ja, Munch, Rubinstein, Fiedler und so weiter, all diese Europäer in Amerika, alle sind davon ausgegangen, die Hausbeschallungstechnik

(oder auf gut Deutsch Home Sound Technology) würde irgendwann und zwar schon bald aufholen, und ein Jahr später hatte sie aufgeholt, im Jahr Glenn Goulds, 1955, in dem endlich die ersten Stereo-Tonbandgeräte mit Viertelzollbändern und einer Bandgeschwindigkeit von 7,5 ips auf den Markt kamen, und damit verfügte die breite Öffentlichkeit, jeder, der willens und in der Lage war, die Kohle rüberwachsen zu lassen, über ein Stereogerät mit einer Spur für jedes Ohr, dann bald drei und mehr, und bis heute immer mehr und mehr und mehr,

letzten Monat, da war ich zum Beispiel mal im Studio, und jetzt gibt man nur noch einen Sound ein und dann gibt man den nächsten ein, man zeichnet Note für Note auf, alles mit diesen grauen Computerblasen, und instrumentale Kunstfertigkeit ist gar nicht mehr gefragt (das stückeln wir dann in der Postproduktion zusammen),

wird sogar gemieden, jedenfalls von denen, die ihr Vermögen und ihre Unfähigkeit schützen müssen.

Machen Sie sich bitte klar, dass wir Schneidermann zufolge nicht mehr qualifiziert sind, Risiken einzugehen. Machen Sie sich bitte klar, dass wir Schneidermann zufolge keine Papiere mehr dabeihaben, die uns berechtigen, Fehler zu machen. Machen Sie sich bitte klar, dass es kein Verständnis mehr dafür gibt, dass wir als Musiker Fugen zu improvisieren pflegten: im Rahmen strengster Disziplin so frei wie möglich improvisieren, wie Schneidermann, er sagte das oft, Regeln dürften nicht gebrochen, sondern müssten reflektiert werden (Schneidermann, er begehrte mehr als alles andere eine verspiegelte Panoramasonnenbrille, wie wir sie mal in einem Rettungsmissions-Matineefilm gesehen hatten; als ich mal in L.A. war, hab ich ihm eine gekauft, aber Schneidermann, er hat sie nie getragen,

hat gesagt, ich hätte die falsche gekauft) – und dann gehen die los und verwenden Popmusik in E-Musik und E-Musik in Popmusik, pfropfen Sprösslinge so lange auf andere Pflanzen, bis alle Bestimmungen laut Schneidermann ihre Bedeutung verlieren, der immer zuhörte, die Ohren weit offen hielt, und auch ihre Orchestrierung der Geschichte klingt nach nichts mehr, also wenn Sie dann an Verdi denken und wie viele Menschen sich bei dessen Beerdigung sehen ließen (Abertausende laut Schneidermann!),

wenn man bedenkt, dass Verdis Musik dann die Lieblingsmusik aller Drehorgelspieler und ihrer Äffchen von Mailand bis Paris wurde,

Affengutans und Schimprillas, ein ganzer Chor von denen bekreischte und bebrüllte unter sich wie verrückt die Bedrängnis aller Kreatur, durch rosigstes bespeicheltes Zahnfleisch, diskursivierte die Schwierigkeit wo nicht platterdings Unmöglichkeit ethischer Kommunikation, moralische Kolloquien ganz oben in Uptown im Zoo der Bronx: das war letztes Jahr während des bestialisch spätsommerlichen Überfalls auf den Frühherbst, so in der Zeit zwischen jüdischem Neujahr und Jom Kippur, als Schneidermann mich bat, sein von Armut erzwungenes Fasten zu brechen und ihm Zuckerwatte zu kaufen, und dann schob Schneidermann mir – während er sich vorbeugte und sein Zahnfleisch im gesponnenen Naschwerk versenkte – hinter seinem Rücken, als wären wir in einem Spionage-Matineefilm oder bei einer Spartakiade, einen klammen, flechtenbewachsenen Papierstoß zu, ein Manuskript, das ich, wie ich dachte, nur festhalten sollte, während Schneidermann sündigte, aber das war seine Art der Weitergabe, das war sein Geschenk, seine Komposition für mich, als wäre sie für mich geschrieben oder endlich vollendet oder noch nicht vollendet, wie sie war und wie sie ist, und auch noch gewidmet: das war tatsächlich das Manuskript dieses Violinkonzerts,

von dem wir bisher erst einen Satz gespielt haben,

und wenn Sie wissen wollen, wie der nächste Satz beginnt, wie der zweite und allerletzte Satz von Schneidermanns letztem Meisterwerk, seinem bedauerlicherweise ersten und einzigen Violinkonzert, das nimmermehr beginnen wird, beginnt, dann werde ich es Ihnen verraten: mit drei Tönen,

dam dam dam, wenn Sie mir meine summende Lippentaubheit nachsehen,

nam nam nam, das singe ich nachts dem Steinauge meiner Großbildglotze entgegen, die drei Tonstufen werden hoch und süß ins schwirrende Summen der Stummheit gesungen, und die drei Noten bilden fürwahr einen Dur-Dreiklang, mit der der letzte und ultimative Satz dieses großen nichttonalen – um den Begriff atonal nicht zu missbrauchen – Werks anhebt, und die Noten sind G,

E – eine Sexte hoch und ein

C zur Auflösung in der Mitte: ein arpeggierter C-Dur-Akkord in zweiter Umkehrung, wenn Sie wollen, wenn die Theorie der Musik die von Ihnen bevorzugte Marke der Banalität ist, wenn wir da draußen im Publikum heute Abend Schenkerianer sitzen haben, und alles von der Oboe intoniert,

nicht auf dem Xylophon wie die NBC-Titelmelodie, haben Sie nicht gesagt – das war nämlich die NBC-Titelmelodie!, wie ich im Zoo zu Schneidermann gesagt habe, während ich vor den Pinguinen in den Noten blätterte, das sind dieselben Töne!, aber Schneidermann, er antwortete nur mit diesem amerikanischen Mafioso-Akzent, den er sich in den Filmen abgeguckt hatte und zu dem er oft Zuflucht nahm, wenn er sauer auf mich war, Schneidermann, er antwortete also:

Mamma mia, ich nix kennen MBC (Schneidermann, er war immer halb schicklich, alteuropäischer Immigrant, und halb aus den Matineefilmen, von daher wusste man nie, was war jetzt Ironie und was senile Weltfremdheit und was gar nichts).

Das kannst du nicht nehmen!, sagte ich im Aquarium, jeder kennt das!, hallte es nach, und selbst ein prähistorischer Ichthys stimmte zu. Das ist die alte Titelmelodie von NBC zum Sendeschluss, sagte ich, wobei die heute eh nichts Anständiges mehr senden.

Schneidermann zu mir: Aber das ist ein Dreiklang, ein Dur-Dreiklang in zweiter Umkehrung, Quinte, Terz, Tonika. Findest du bei jedem x-beliebigen Bach öfter, als du in deinem Leben Luft geholt hast.

Aber das ist die NBC-Titelmelodie!, beharrte ich auf dem ganzen Weg zum Reptilienhaus. Meine Zunge eine Schlangengabel, um seinen schlanken Stolz zu fressen. Das sind die drei berühmten Glockenschläge, sagte ich: Sie hören (in meiner besten Ansagerstimme à la General Sarnoff oder Paul Whiteman)

die National Broadcasting Company, DONG DONG DONG.

Die Leute werden lachen (und ich lachte wie der asthmatische Affe, der ich bin).

Schneidermann zu mir: Aber sie sollen nicht (lachen).

Nimm das nicht! Das kannst du nicht! Das ist sowieso urheberrechtlich geschützt, Patent was weiß ich, eingetragenes Warenzeichen, intellektuelles/musikalisches Eigentum der Nationalen Broadcasting-Kumpanei von unbegrenzter Dauer. Die verklagen dich! Das gehört denen!

In den Zwanzigern zählte der NBC-Ansager am Ende einer Sendung die Sendezeichen aller NBC-Stationen auf, die die Sendung ausgestrahlt hatten (was ich damals nicht wusste, hätte aber auch nichts genützt, Schneidermann, er gab nichts auf Geschichte), aber mit immer mehr angeschlossenen Sendeanstalten wurde das irgendwann unpraktisch, sorgte für Verwirrung, wann das Netzwerk-Programm denn nun eigentlich vorbei war und wann die Sendepause, die sollte auf die volle Stunde fallen oder eine halbe Stunde, und dann wurde ein Koordinierungssignal erfunden, wie mir dann später irgendwann ein prominenter Musikwissenschaftler in Basel erklärte, für den Americana ein irgendwie peinliches Hobby waren,

ein Zeitvertreib, eine wertlose Nebenbeschäftigung, wenn auch vordergründig legal, jedenfalls kamen drei Männer, deren Namen der Musikwissenschaftler vergessen hätte, sorry, sagte er, in der Musikabteilung von NBC, nach allerlei Versuch und Irrtum oder Irrtum und Versuch, denn was kommt zuerst? auf die einfache Lösung, oder jedenfalls hielten sie das damals für die einfachste Lösung, nämlich dieses G–E–C, wie ich später erfuhr, als ich fragte

und die Antwort bekam, B und C wären zwar Töne, N aber nicht, deshalb hätten sie die Idee fallengelassen, was ich erst später erfuhr, und dann entschieden sie sich für den C-Dur-Akkord, wie mir mein Musikwissenschaftlerfreund in Basel erklärte, eine nachhallende Lösung, fand er, kraftvoll, friedlich, aber Schneidermann sagte ich nur (da ich das alles noch nicht wusste, sondern mir nur wegen der Entlehnung, egal ob bewusst oder unbewusst, Sorgen machte):

Das ist die Musik eines amerikanischen Unternehmens! Die hetzen dir ein Rudel Anwälte auf den Hals, und dann musst du Haare lassen!

Schneidermann zu mir: Ich bin kahl, und das ist Musik. Das gehört der Musik.

Aber das ist so leicht zu erkennen! als Komponist kannst du das nicht verwenden! als ästhetische Entscheidung ist das unentschuldbar! Es ist sogar in derselben Tonart, Oktave, alles. N. – sang ich (asthmatisch nachäffend) – B. C. Herrgott, die treiben dich in den Bankrott!

Schneidermann zu mir: Ich bin schon bankrott.

Schneidermann, er war kahl, ja, und schon bankrott, ja, immer, lebenslänglich, ja, das stimmt, und er hatte zwar einen Fernseher, einen alten Zenith, und der lief auch den ganzen Tag (wenn ich seine Kabelrechnung zahlte), aber Schneidermann, er schaltete ihn immer stumm, ob nun den WETTERKANAL oder QVC, wie das Kürzel am Ende philosophischer Traktate, woher hätte er das also wissen sollen? so kahl, dass man, wenn er unperückt und enthutet war, nicht sagen konnte, wo der Schädel aufhörte und der Himmel anfing, so bankrott, dass er Schuhe Marke Joe the Turk von der Heilsarmee trug, drei Größen zu lang und zwei zu breit, die ihm auf Schritt und Tritt vom Fuß fielen: auf dem Weg zur U-Bahn, zum Bus Nummer M-weiß-ich-nicht-mehr, wenn seine Haltestelle 137th Street / City College wieder mal nicht befahren wurde, was oft der Fall war,

den ganzen Weg lang, auf dem Weg ins Kino, der Bus M5 oder 11 fuhr zu den amerikanischen Matineefilmen, und im Kino hab ich Schneidermann das letzte Mal gesehen: das war wie immer im Kino, wie immer bei einer Matinee, nicht oben auf der Leinwand, sondern zwei Plätze weiter, dem übernächsten Sitz, unsere Jacken fehlgeleitete, nutzlose, von Sperma dampfende Ergüsse in der Mitte, auf dem einen Platz zwischen uns, frei oder nur von meinem Pelz und seinem Fetzen besetzt, aus beiden stieg klamme Feuchtigkeit auf; dass wir eine kaputte Sprungfeder auseinander saßen, war Tradition, war Norm geworden,

das gute alte, welche Exfrau benutzte noch diese umgangssprachliche Kurzform der Versicherung des nach guter alter Gewohnheit,

wenn wir einen Sitz auseinander saßen, konnten wir zusammen sein, wenn es nicht peinlich war, und auseinander, wenn es peinlich wurde (Liebesszenen, Sexszenen, Szenen mit Liebe & Sex, Sodomieszenen, die Szene, wo der Jugendliche seinem alten Cockerspaniel einen Rasenmäher in den Anus rammt),

das war unsere Gewohnheit, zwei alt gewordene Genies der Krankenscheinwerfer kuschelten sich aneinander, wenn unser Anstandsgefühl das erlaubte, und sahen diesen Film, verfolgten diesen einen letzten Matineefilm genauso wie alle anderen, die wir zusammen in den fast fünfzig Jahren gesehen hatten, die Schneidermann und ich zusammen ins Kino gegangen sind und in denen wir alles gesehen haben (Dreck),

gesehen haben müssen (Müll),

das war unser Ding,

diese Matineefilmbesuche, Schneidermann und ich waren vor allem anderen (zusätzlich zu und neben uns als Musikern, Künstlern, Genies, Amerikanern, Europäern, Juden) Matineefilmbesucher – Matinee kommt zumindest laut Schneidermann aus dem Französischen, man besucht also in Europa eine Matinee am Morgen im Gegensatz zu einer amerikanischen Matinee am Nachmittag oder einer Soiree am Abend (in meinem Penthouse im Grand, amerikanischer Whiskey, spanglischer Turn-down-Service),

Matinee kommt vom französischen matin und bedeutet Morgen, wie Schneidermann mir nur einmal und nebenbei eines Junitages um die Matralia herum mitteilte, zufälligerweise nach irgendeinem Matineefilm nach vielleicht fünfundzwanzig unserer insgesamt fünfzig Jahre, matin aus dem Altfranzösischen, sagte Schneidermann, matines bedeutet Morgen, aber einen älteren Morgen, außerdem das erste Offizium mit Laudes des Tages, die erste kanonische Stunde der sieben kanonischen Stunden des immerwährenden Kirchentages, was genau währt da eigentlich immerzu? Morgendämmerung, Sonnenaufgang, obwohl Schneidermann und ich ja immer nach dem Mittagessen (manchmal französisch, manchmal italienisch oder Feinkost, nationalhebräische Hotdogs oder die Folterpampe von Brezeln auf salzloser Straße) matinierten oder matineefilmierten,

das Französisch geht, Schneidermann zufolge an jenem Juninachmittag, zufälligerweise um die Matralia herum, worauf Schneidermann mich später, nach diesem Matineefilm nach den ersten fünfundzwanzig Jahren, hinwies, auf lateinisch matutinus oder matutinae zurück: die Morgenwachen zu Ehren der Matuta, der römischen Göttin der Frühe, Schutzpatronin, falls Sie das nicht gewusst haben sollten, der Neugeborenen, der Meere wie dem Atlantik und der Häfen wie dem von New York, zumindest laut Schneidermann, aber der Begriff der Matinee muss, als er aus dem alten Rom nach Frankreich gewandert und dann durch den Atlantik geschwommen ist, etwas Zeit verloren haben und bezieht sich in den Ver. St. von Am. heute auf den Nachmittag – und Schneidermann, na, der ging einfach in der Mitte, in der Mitte oder grob um die Mitte dieses letzten Matineefilms von fast fünfzig Jahren unserer Matineefilme (Aberhunderte! Abertausende!), Schneidermann, er stand einfach auf und ging mitten im Film, im Lauf des Lebens dieses Films, im Lauf der Leben dieses Films, nach vielleicht einer Stunde und ein paar Minuten,

sagen wir achtzehn, sagte ich bei der Polizei dann aus,

gegen 16.00 plus/minus Werbung, Trailer und MGM-Leo, Metro-Goldwyn-Mayer, der sternenumzingelte Löwe Samsons, der ihr Motto rausbrüllte, das Schneidermann liebend gern anzweifelte, bei dem er sich ständig unsicher war, dieses ARS GRATIA ARS-Spruchband um den Filmstreifen herum, dem Schneidermann zustimmen musste, wie denn auch nicht? bei den Zahlen? Von wegen Copia iudicium saepe morata meum est, verstehen Sie? Auf Befragen gab Schneidermann oft zu, bei all diesem Kunst um der Kunst willen, l’art pour l’art, art for art’s sake, das nicht mal berühmtes antikes Latein war, sondern bloß eine moderne Übersetzung von irgend so ’nem MGM-Platzhirsch, Schneidermann, er wollte immer noch ein Purist sein, das war sogar sein größter Ehrgeiz, denn mal im Ernst, glaubt denn irgendwer, die größte Kunst wäre die, die sich selbst dient? und nur sich selbst? Schneidermann, der hat sich das immer gefragt und nicht nur sich selbst, glaube ich, und geantwortet hat er mit Ovid: spectatum veniunt, veniunt spectentur ut ipsae und so weiter, die wollen sich nicht nur was anschauen, die wollen selbst gesehen werden, Schneidermann, er hat nie wir gesagt – das ist drei Wochen her, und ich dachte, Schneidermann, er wollte nur pissen gehen (sein Pissorgan machte ihm immer Scherereien, oft pisste er einfach in seinen leeren Mineralwasserbecher – an den Imbissständen waren wir Stammkunden; ich flirtete immer mit den Verkäuferinnen, die den stärksten Bräunungslack trugen),

vielleicht hab ich mir auch gesagt, er würde um eine weitere Gratisportion Popcorn oder ein Mineralwasser non gassata feilschen, wollte flüssigen Nachschlag (Schneidermann, er frequentierte immer die Getränkestände und das mit meinem Geld; für ihn war das kostenlose Nachfüllen Amerikas größter Beitrag zur Weltkultur, und nichts liebte er so wie die Wendung KAFFEETASSE OHNE BODEN),

aber Schneidermann, er kam nie zurück, verschwand einfach, ward danach oder seither weder gesehen noch gehört, sein Apartment – wenn man das Apartment nennen konnte; seine Einzimmerwohnung, sein Kabuff – blieb unangetastet, und ich glaube nicht, dass ich zum Signieren, zu Interviews und Fototerminen aufs Revier geschleift wurde.

Wurde ich auch nicht. Ich bin von selbst hingegangen, habe ihn aus eigenem Antrieb als vermisst gemeldet, trotz des mannigfaltigen Drängens und dringenden Anratens meiner Anwälte und ihrer Anwälte, die sie in solchen Was-ist-wenn-Fällen konsultieren, bei Ich-habe-einen-Freund-dessen-Freund-Szenarien, wie wir sie alle ersinnen und nach denen wir handeln – ich ging meinen Gattennachfolgern und Exfrauen da draußen zum Trotz, ihrem Bitten, Betteln und Barmen zum Trotz, all dem Musst-du-dich-denn-unbedingt-in-die-Nesseln-setzen? dieser Frauen, denen scheinbar immer noch an mir liegt, aber warum? Man braucht doch keine Gefühle, um meine Schecks einzulösen. Ihr müsst euch nicht mit dem Herzen ausweisen.

Warum steht ihr immer alle auf der Matte, wenn ich diese Erbsündennummer spiele?

Steht auf, meine Lieben. Oder lieber nicht. Aber tut mir einen Gefallen – oder erweist ihr mir damit eine Ehre? hört zu, versucht wenigstens zuzuhören. Ich muss euch etwas sagen, euch, die ihr Schneidermann immer nur Ressentiments entgegengebracht habt, euch, die ihr

meinem Schneidermann immer nur Ressentiments entgegengebracht habt, denn so habt ihr ihn immer genannt und euch standhaft geweigert, ihn zu unserem zu machen, einem von euch,

aber erst mal hätt ich jetzt gern etwas Wasser – non gassata! Juden hassen Gas! – irgendwer kann doch wohl mal mit einem hohen Tier sprechen, in den Park rausgehen und an einen Fels schlagen oder so, meinetwegen kann er auch mit einem Erinnerungsbecher in den Styx runtersteigen.

Niemandem sei Dank.

Ein paar Fragen: Welche von euch hat die Eurydike zu meinem Orpheus gegeben (vorausgesetzt, ich bin einer)? Welche von euch habe ich am ehesten gerettet, oder bei welcher habe ich mein Äußerstes für eine Rettung getan? Aus der Armut, dem Elend, vor ersten Gatten, zweiten und Ladenhütern, vor dem fehlenden US-amerikanischen Bürgerrecht, vor dem Mangel an Talent?

Also, wer war meine Eurydike?

Oder Euer-Id-is’-sie, und wehe, ihr mittelmäßigen Massen da draußen, ihr bemitleidet meine geigenförmigen Frauen. Wie ich, als ich sie geheiratet habe. Denn die Schönen oder Reichen verdienen kein Mitleid, und Sie glauben mir nicht? Wenn nicht, dann fahre man doch bitte mal das Saallicht hoch? nein? damit ich sehen kann, wer hier grade alles geht und die Türen hinter sich zuknallt, ja?

schwups, verschwindet die Hälfte der Blechbläser hinter mir

und zieht auf dem Weg in die Seitenbühne dicke Speichelspuren hinter sich her,

kennen Sie die Definition von Optimismus?: ein Tubaspieler mit Visitenkarte; ich hab für meine Visitenkarten übrigens doppelt so viel bezahlt, weil ich einfach nur GENIE hab einstanzen lassen – die verteile ich aus lauter Trotz,

Herrgott noch mal! die ganzen Oboistinnen sind ja auch weg! die Stimmsirenen, die gerührten Köpfe des Orchesters: der ganze Anblasdruck, ein reiner Verkehrsstau, hat unvermeidliche, vielleicht aber auch gebenedeit beneidenswerte Hirnläsionen zur Folge, wussten Sie das nicht? wie konntet ihr mir das antun, Läsionärinnen? ganze sechs braucht man für das Konzert, das ich hier an mich gerissen habe, das Konzert, das ich jetzt ruiniert habe, das Konzert, an dem ich jetzt gescheitert bin.

Ich hege den Verdacht, dass meine Frau, welche? dass die alle Oboe spielen: diese Lippen wie Kissen, und die absolut vollkommene Blödigkeit, die vollkommen absolute Blödigkeit von ihnen allen – meine erste Frau hat mich wegen meiner Musik geliebt, die zweite wegen meines Ruhms, die dritte wegen meines Gelds und die vierte auch, die aber auch schon meine erste war, und meine fünfte war nur meine fünfte: Scheidung, Scheidung, Scheidung, Scheidung, Scheidung, und jetzt bin ich bei meiner sechsten,

nein,

meiner siebten, oder? genau genommen nicht rechtskräftig, na ja, außer Landes (Kanada, aber ausgesehen hat’s wie in der Schweiz), von der fünften bin ich nur getrennt, obwohl,

ich sollte endlich die Klappe halten, einen Knebel bestellen, meinen Anwalt konsultieren oder den Anwalt meines Anwalts. Oder meinen Seelenklempner. Aber was will sie eigentlich von mir, Nummer sechs? Der Seelenklempner meines Seelenklempners würde vielleicht sagen, sie will mich aus allen eben genannten Gründen.

Frau Nr. sechs ist ein Sopran. Und jeder Tenor ist Bass erstaunt, dass sie nie Alt wird. Der ist gut, ne? Und was ist der Unterschied zwischen einem Lamborghini und einem Sopran? Sie würde Ihnen nicht antworten, dass die meisten Musiker noch nie in einem Lamborghini waren, hahaha,

aber lassen Sie sich von meinem Husten nicht stören! Der hat mich schon seit Jahren, und ja, Doc, ich weiß, ich muss aufhören, in meinem Alter und so weiter, sollte mit dem Rauchen aufhören – hat mal jemand Feuer?

Nein?

Ja?

Danke. Sehr verbunden. Einen herzhaften Applaus bitte für den Mentsch in der Mitte der ersten Reihe, der das Streichholzheft eines Bistros hier um die Ecke hatte, der Laden heißt Giorgione’s, liegt an der Madison, Ecke Paarundfünfzigste, ist von Zagat geprüft worden und hat von Michelin viel zu viele Sterne bekommen, ein gutes, gutes, gutes Lokal – möchte jemand die Telefonnummer? Was hatten Sie?

Alle mal herhören, Herr – wie heißen Sie?

Klasse.

Alle mal herhören, Herr Ari Feingold aus New Haven kann die Lachs-Tortellini wärmstens empfehlen.

Bitte danken Sie alle Mr. Feingold, klasse – Sie haben da was zwischen den Zähnen, ist das noch der Spinat vom Hors-d’œuvre oder sind das schon die Mohnstreusel vom Dessert?

war nur ’n Scherz, sonst merkt das ja keiner, genau wie Sie alle zu höflich waren – oder nur zu blöd? –, um zu merken, dass ich bisher, mit Ausnahme eines kleinen Patzers beim mit Verlaub albernen zweiten Einsatz in Takt 18 – so schnell kann man den Bogen nicht wenden –, alles im Alleingang umgesetzt habe: Ja, meine Damen und Irren (Mr. Feingold natürlich ausgenommen), Heiden und nominell eingegliederten Philister aller Altersgruppen, ein Anzug und zwar nur ein einziger Anzug hat unsere ganze erste Hälfte zusammengehalten. Ihr bedeutender Chefdirigent, der Erbe Leonard Bernsteins und Mahlers, Ihr ausländischer Maestro laureate (denn auch heute sind immer mehr Genies Ausländer und müssen es sein), ist heute Abend nämlich in seinem Penthouse – in einem seiner weltweit vier Penthouses, um nicht so genau zu sein – und geht dem oralen wie analen Sex mit minderjährigen Männern nach, Mitgliedern Ihrer Jugendchöre, jawohl, mit Gliedern, und Ihr regelmäßiger, pauschal entlohnter Gastdirigent,

das weiß ich aus sicherer Quelle: ein Hausmeister hinter den Kulissen namens Jimmy, jedenfalls nenn ich ihn so, hat mir erzählt, und Hausmeister, Wartungstechniker, Abfallentsorgungsspezialisten, keine Ironie oder Anbiederung beim Pöbel, die wissen alles, und Schneidermann, also der war kein Kostverächter (wenn auch nur, weil er seinen Fetisch um alles Hellenische machte: Schneidermann und sein griechendeutsches Ideal, das weniger mit dem Eskapismus der Weimarer Klassik als mit dem Wunschdenken des Judentums zu tun hatte, allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass Schneidermann einmal, ein einziges Mal, eine Handfläche mitsamt allen fünf Fingern auf meinen, ich würde mal schätzen siebenjährigen inneren Oberschenkel legte, als wollte er meine unantastbare Hinterbacke halten oder wiegen, aber ich sah sie nur an, sagte ihm, seine fünf Finger hätten alle Tintenflecken, und Schneidermann, er nahm sie weg, seine Hand, und das war’s, Ende der Geschichte, mehr war nicht, Klappe zu, Affe tot),

Sie verstehen ja, dass es akzeptabel, ja zulässig ist, jetzt zu lachen (aber warmherzig, wenn ich bitten darf),

es ist ja okay, sich zu freuen, und warum? weil es stimmt, weil alle Homosexuellen im Grunde Optimisten sind, genau wie alle Heterosexuellen im Grunde Pessimisten sind, die Umkehrung des ersten Satzes gilt genauso, da die alles machen würden, na, die sind einfach bloß normal – lassen Sie sich das von mir gesagt sein: Wer sein Pendel in die Gruben schwingen lässt, sie halb füllt und halb leert, ist da draußen im Grunde der einzig Zurechnungsfähige,

nur um Ihre Frage zu beantworten, was Sie mit dem Rest der Nacht anfangen sollen, aber ich möchte noch etwas anderes beantworten (etwas das Schneidermann, er fragte mich das mal nach einem Matineefilm, welchem hab ich vergessen, vielleicht einem von diesen Homosexuelle-Gleichstellungs-Matineefilmen, die in den letzten drei bis fünf Jahren so beliebt geworden sind):

warum sind Homosexuelle nie arm? (hast du schon mal einen schwulen Obdachlosen gesehen?, pflegte er zu fragen, ein lesbisches Zimmermädchen?)

Schneidermann zu mir: Ich denke zunehmend an Homosexualität als eine Methode, mein Verdienstpotenzial zu steigern.

Schneidermann zu mir: Wenn ich voll und aktiv schwul werde, schaffe ich es bestimmt in eine günstige Lohnsteuerklasse – ich meine, warum sind die denn immer gut genährt und wie aus dem Ei gepellt? oder sind sie das nur im Kino und in der Glotze?

auch so ein Stereotyp (Schneidermann, er hatte den Apparat von mir, einen PANASONIC, nie eingestöpselt),

genau, warum wirken Homosexuelle, okay, aber jedenfalls homosexuelle Männer, immer freier als ich? glücklicher und ehrlicher? natürlicher? angepasster?

und jetzt kommen Sie mir bloß nicht mit diesem weiblichen, weibischen Argument, wie es so exemplarisch just der hiesige Management-Chef versinnbildlicht, der im Zweiten Rang manisch mit der manikürten Hand herumfuchtelt, als wäre er im letzten Jahr Miss America geworden oder der Papst, oder säße in einem abfahrenden Zug, der gerade ins 19. Jahrhundert abdampft,

Leon, ich liebe dein Haar! dir steht dieser Anzug so wundervoll!

was wollen Sie? Sie möchten was? ich kann Sie nicht halb so gut hören wie mich selbst.

Hören Sie zu, das erste Mal hab ich von ihm gehört,

hab mich entschlossen, heute Abend darüber zu sprechen, statt die beiden Kadenzen zu spielen, die für dieses Werk schon geschrieben worden sind,

Herrgott! ist mein Ellbogen heute Abend schlecht drauf,

meine erste Chance hab ich bekommen, als Szigeti, er wurde krank (Austern), ich bin für ihn und in der sprichwörtlich letzten Minute bei Beethovens Violinkonzert eingesprungen,

Sie, die Sie aufbrechen, sich von ihren plattgeknitterten Tickets hochwuchten und die Garderobe ansteuern, im Begriff sind, hier zu verschwinden, ich, ich weiß, dass ich abschweife, mich in Unsinnigkeiten ergehe, aber warten Sie! bitte, nur einen Augenblick! langsam,

stumm,

pscht: wir wissen alle, wie viel Sie hierfür bezahlt haben, für mich (ich bekomme zehn Prozent), warum bleiben Sie also nicht sitzen und versuchen, die Show zu genießen, sofern Sie nicht schon exodussiert und geflüchtlingt sind? und ich weiß nicht mal, ob ich Ihnen dann Vorwürfe machen würde, weil ich

(obwohl DAS,

was geschehen war, muss schlimmer gewesen sein, als es mir jetzt geht),

denn ich selbst bin rausgekommen, bin weggekommen, hab mich auf den letzten Drücker enteuropäisiert und mit meinem Vater, aber ohne meinen Schneidermann (der mein Vater hätte sein sollen),

denn Schneidermann, er war ein jüdischer Sturkopf, und ohne meine Mutter, denn die war da schon tot, war schon über den Jordan, tot wie meine ältere und in alle Ewigkeit jüngere, als Kind gestorbene Schwester, tot wie eins meiner Kinder (aber das war später, und da, also da möchte ich nicht drüber reden),

tot wie Schneidermann jetzt vielleicht, wahrscheinlich ist, weiß ich nicht, auch wenn ich ihn begraben hab,

tot wie ich bald,

tot wie die Frau, die nicht tot ist, weil ich ihr das Leben gerettet habe, denn ihr, wenn vielleicht auch nicht ihrem Mann zufolge habe ich ihr das Leben gerettet, denn sie macht geltend, meine Musik (die eigentlich ja nicht mir gehört), dass die ihr das Leben gerettet hat – diese Frau möchte ich Ihnen anvertrauen, nein, eigentlich nur ihren Brief, den einer Mutter, einer Ehefrau, nicht meiner, können sie ja nicht alle sein, einen Brief, den ich hier in der Hosentasche habe, gestatten Sie, dass ich ihn zu meiner Verteidigung auseinanderfalte.

Wo ist denn meine Brille?

Er stammt von einer Frau, der ich nie begegnet bin, der Brief – meine jetzige Frau, was und wer immer sie sein mag, hat keinerlei Grund für ihre stets griffbereit liegenden Vorwürfe

und ist ihr Anwalt zugegen?

gönnt sich wahrscheinlich eine Pause, genehmigt sich draußen einen Drink, hat morgen früh wahrscheinlich einen Achtzehnlöchertermin mit meiner

und meine gehört mir, und ich will ihr achtzehn Löcher stechen!

Verweise führen immer zu neuen Verweisen (krempelt die Ärmel hoch)! und so möge der Hinweis genügen, dass ich diesen Brief erst vor drei Tagen von meinem Agenten bekommen habe, der zwar nicht viel tut, aber eben meine Post sichtet. Und diesen Brief weitergereicht hat. Meinen Dank entgegengenommen hat. Und natürlich seine Provision.

Die Anrede erspar ich Ihnen, lass ein paar persönliche Details weg, die an all die Teile rühren könnten, an denen Sie nicht gerührt zu werden wünschen, und die Krux bei der Sache,

abgeleitet vom lateinischen cruciare,

martern, jedenfalls laut Schneidermann, lautet:

Nach dem Verlust meiner Aufgaben im leitenden Marketing machte ich eine höllische Depression durch:

Pam – so heiße ich! – schluckte PAMELOR, PARNATE, PHENELZINSULFAT, PROZAC,

SELEKTIVE SEROTONIN-WIEDERAUFNAHMEHEMMER

und aß nichts als Zahnpasta (SENSODYNE COOL GEL, BREATH BOMB)

und Choco-Moccha-Eiscreme und ab und zu ein paar Becher Rocky Road, also wurde ich dick und schlief nicht mehr, dabei schluckte ich händeweise

dachte ernsthaft an Suizid und Sie,

Ihr Beethoven-Konzert, das ich letzte Woche in Los Angeles mitbekommen habe, als mein Mann, mit dem ich seit einem Jahr verheiratet bin, mich da hingeschleift hat, im Nerz über T-Shirt und Jogginghose,

es klingt vielleicht verrückt, aber seitdem will ich wieder leben, Sie haben das geschafft, und Gott segne Sie dafür.

Herrgott! wer schreibt noch Briefe? wer kann noch schreiben? wer liest noch? wer weiß noch, wie das geht? hat dafür noch Zeit? besonders wenn man im Kino sitzt, dem einzigen Ort und der einzigen Zeit, wo Schneidermann je las, und Schneidermann, er las viel, las alles, und nicht nur, aber das meiste in seinen späten Jahren in SPIELBERG-Filmen,

STEVEN-SPIELBERG-Matineefilme waren die einzigen Zeiten und Orte, wo Schneidermann in seinen letzten Jahrzehnten genug innere Ruhe fand, das stille psychische Refugium, wo er sich dem Lesen widmen konnte und zwar immer im Original:

Damaskios während des Films mit dem Archäologen mit dem Hut,

Herodot im Film mit dem Juden Dreyfuss und den Außerirdischen,

und wo er gerade dabei war, alle großen Hs des Hellenismus: Herodot, Hesiod, Hekataios, Hieronymos (und Hellanikos),

Herakleides (Pontikos), nicht zu vergessen Herakleitos und Hermesianax

(den alexandrinischen Dichter, eine Abkehr von Kosmogonisten wie Herondas, glaube ich, während der Dreifaltigkeit von Filmen über den Krieg im Weltall und eine undefinierte MACHT wie Gott, was keinen Sinn ergibt),

Hesychios im Sequel zum Film über den Krieg im Weltall und eine undefinierte MACHT wie Kunst, was keinen Sinn ergibt,

Hippolytos im Sequel zum Sequel bzw. das war dann das Prequel, oder?, zum Film über den Krieg im Weltall, zwischen den Sternen und über eine undefinierte MACHT wie die Welt, die zumindest für Schneidermann und mich keinen Sinn ergab, aber wer weiß? und Homer und Horaz las Schneidermann auch bei Matineefilmen, außerdem den attischen Redner Hypereides und Hypnos, die ihn in Ekstase versetzten, alles andere als auf die Leinwand fixiert, egal welches Empire da zurückschlug und warum,

egal was das für ein Dreck war, mit dem alles beschmiert war oder werden konnte,

egal was für unbedeutende Träume da möglicherweise auf unserem Auge abgebildet wurden,

Schneidermann, er erledigte all seine Lektüren im Lichte der SPIELBERGIGSTEN aller Feuer-/Explosionsszenen SPIELBERGS, seine Lektüren all der Hs unter den griechischen Denkern und Philosophen, den hellenistischen Dichtern und Theologen sowie Theogonen, und all das im Lichte einer Schauspielerin – einer x-beliebigen Schauspielerin, denn wenn die frisiert und geschminkt sind, sehen die doch alle gleich aus, selbst die Frau des Regisseurs –, die einem, selbst wenn das Drehbuch letzter Hand ihr auf den Knien verwelkt wäre, nicht den Unterschied zwischen Kosmologie und Kosmetik hätte erklären können,

den Unterschied zwischen Gut und Böse,

zwischen E und U,

zwischen der Matineefilmmusik, die jeden neunzigminütigen Aufstieg und Fall begleitete, all die Liebesaffären und Kidnappings, und unserem Johann Sebastian Bach, der – woran Schneidermann, er erinnerte mich daran nach der NBC-Geschichte – seiner letzten Fuge seinen Namen eingeschrieben hatte, kurz vor seinem Tod oder jedenfalls rechtzeitig für unser filmisches Verständnis, er schrieb seinen BACH mit einem B, einem A, einem C und einem H hinein, wie bei den Teutonen unser angelsächsisches B heißt, wie meine einzige deutsche einst Frau jetzt Ex, sie empfahl mir immer unmittelbar vor Interviews oder Medienauftritten, bei denen es nicht ums Musizieren ging, sondern ums Reden, Presselustbarkeiten, Interviews, sie unterrichtete mich dann in dieser Sprache, mit all dem schalen Humor, den ein gesundes Sexleben entschuldigen würde, aber ohne eine Ironie, die in der Übersetzung verloren geht, und ich lachte trotzdem, und sie sang mir den Ton, das deutsche H, sang es mir sinushoch, in ihrer vollkommensten Tonlage (sie war, ist Pianistin, so unberühmt, dass selbst sie nie von sich gehört hat, und das meinen halbherzigen Bemühungen zum Trotz)

und dann stieß ich sie unweigerlich und fast schon als glückliche Strafe, aus Schadenfreude, wenn der deutsche Begriff Ihnen was sagt, aus dem maulwurfsgrauen Gang ins nächstbeste Personaltreppenhaus des Hotels und besorgte es ihr,

was sie in ihrem besten amerikanischen Slang mit einer Kölner Färbung einen quickie nannte, oder eher einen Kwiki – besorgte es ihr nach Strich und Faden, um mich zu beruhigen, bevor ich in die Unterwelt der nikotinmanikürten Journalisten hinabstieg, der Reporter, die im FEUILLETON arbeiten, weil sie keine druckfertigen Texte abliefern können, der blitzlichtgeilen Fotografen mit dem müden Auge, und wie sie immer, kurz bevor ich zum Orgasmus gelangte, aufhörte, sich zurückzog, sich in ihren malvenfarbenen Wollschal hüllte, immer hörte sie auf,

und behauptete, sie hätte Angst, ertappt zu werden,

Was sind sie schon wert, Frauen? Und was sind sie schon wert, Männer? Musik, denn was ist sie wert? und bei der Musik noch wichtiger, was genau ist sie?

Musik, denn was kann man mit einiger Sicherheit über sie sagen, außer dass sie, ja, dass sie existiert, ist? Denn über Musik kann man nichts sagen, über Musik als Musik, Musik qua Musik, der abgeklapperte Stepptanz über den alten Architekturspruch, man kann über Musik nicht reden, über musica gratia musica, um’s so zu sagen, nein, stattdessen, und das ist von unendlich größerem Wert, kann man nur von den an ihr beteiligten Persönlichkeiten sprechen, über Menschen, die von der Musik berührt worden sind, die ihr untertan sind, Menschen in der und aus Musik, die Musikmachenden, die hoffen, nichts als hoffen können, etwas werde dabei herauskommen.

Denn wenn man anfängt – und wir haben alle angefangen –, wenn man anfängt, über Musik zu reden, dann redet man in Wirklichkeit sofort über Musiker (auch wenn man das gar nicht will, auch wenn die Persönlichkeiten einen nicht halb so interessieren wie die Kunst, die sie gestaltet haben und die von ihnen gestaltet wird),

und eine solche unbewusste sagen wir mal Modulierung oder Verschiebung der Absicht ist immer am Werk, unwiderruflich, ist unumstößlich zugegen, wird verstanden und ohne Zögern akzeptiert, ohne dass man auch nur einen Gedanken an ihr Warum oder ihre Bedeutung verschwendet, ohne Befragung,

denn eines wissen wir,

über ihre Gründe,

wenn ich an Schneidermann erinnere, wenn ich ihn spielen sollte,

und wenn die Antwort lautet, dass Werk und Mann eins sind, aus einem Guss (und hier hätte Schneidermann zugestimmt; wie alle meine Ideen war sie immer zuerst seine), dass Schneidermann seine eigene und größte Komposition war und ist. Das Monument, das er unserer Zeit erbaute. Ja, das ist möglich. Im Reich des Realen als einem Vielleicht.

Schneidermann, dessen Moral einfach Sympathie war.

Schneidermann, dessen Sympathie Empathie war.

Schneidermann, der ganz und gar transportable Mann: der keine Gewohnheiten hatte und keine Versorgung brauchte,

der Mann ohne Pläne,

der fast nichts brauchte, mit geringsten Rücklagen auskam (Schneidermann, er sagte immer, das Wort Existenzminimum hätte Walter Gropius von ihm geklaut),

der mit Konventionen (musikalischen und zwischenmenschlichen) praktisch nichts, aber auch gar nichts am Hut hatte,

am allerwenigsten in seinen Kompositionen, in seinem enormen Schaffen, seinen homogenen Arbeitserträgen, dem makellosen Werk, das seine höchste, um nicht zu sagen öffentlichste Vollkommenheit erst jetzt in diesem Konzert erreichte – und bei seiner amerikanischen Uraufführung, seiner New Yorker Premiere und dem weltweit ersten Mal, dass es in dieser Gestalt öffentlich aufgeführt wird! – nur um hier die zweifellos schlimmste Kadenz zu erleben, die einem Virtuosen in seiner Karriere je unterlaufen ist.

Ja, es hat andere gegeben.

Während dieses Werk erst jetzt und auch nur teilweise und miserabel aufgeführt wird, sollen Sie erfahren, dass es von 1939 bis 1989 komponiert wurde, in den gesamten Jahren 1939 bis 1989, dass es wirklich einer fünfzigjährigen Arbeit bedurfte, auch wenn es Ablenkungen gab, eine unregelmäßige Arbeit war, unterbrochen von Krieg, Internierungen, Haftstrafen, versuchtem Genozid, Immigration oder war es Exil? Sie kennen das Gelaber und auch den Zwang (fieberhaft) zu erinnern, (fiebernd) erneut zu erinnern, das Werk zu überarbeiten, es neu zu orchestrieren und alles immer wieder aus dem Gedächtnis durch all die Verluste, die Armut, den Tribut, den das Alter abverlangt, was ich nur zu gut weiß, obwohl Schneidermann, er prahlte oft und behauptete, die eigentliche Komposition, das eigentliche Am-Schreibtisch-Hocken, das Mit-Tinte-zu-Papier-Bringen dieser Komposition, es hätte in diesen fünfzig Jahren, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, insgesamt nicht länger als sechs – seien es auch noch so zerstobene und zerschmetterte – Monate gedauert. Und auch wenn sich Schneidermann am Ende entschied, mir an jenem Tag am Affenhaus vom Zoo das Manuskript zu schenken, am Primaten-KZ, wie Schneidermann das immer nannte, nur ein paar Wochen vor seinem Verschwinden beim und vom Holocaust-Matineefilm, als Schneidermann also entschieden haben muss, die Welt könnte für seine Musik bereit sein und damit auch für sein Verschwinden (und beides könnte eh das Gleiche bedeuten),

war es doch nicht so, als wäre dieses Werk, das mir gewidmet ist, auch für mich komponiert worden, meinen Fingern angepasst, war eine Expresswidmung, um’s so zu sagen, nein, mein Ego sollte der Nachwelt nicht in die Quere kommen – und ja, es gab andere:

Kohn war der erste, Schneidermanns virtuoser Berater in Sachen Violine und Urheber der ersten Kadenz dieses ersten und letzten Konzerts in einer früheren, zurückhaltenderen, aber eben auch unabgeschlosseneren Version – und unabgeschlossen wird es vielleicht immer bleiben –, Kohn war ein allzu gesetzter, superseriöser Mann, ein Möchtegernmoderner, den Schneidermann, er kannte ihn noch gut aus Budapester Konservatoriumstagen, und er versorgte Schneidermann mithilfe seines Arztbruders nicht nur mit den vielen Phiolen höchstreinen Morphiums, sondern auch mit einer sechs-siebenminütigen pyrotechnischen Persiflage auf das damals noch, immer noch und vielleicht immerwährend unvollendete Werk, das Schneidermann gleichwohl seit spätestens 1929 jedem Menschen in Hörweite angekündigt hatte.

auf Kohn folgte ein Raubitschek (später Roubíček), ein didaktischer, praxisfremder Geiger, der sich in der Rolle des Komponisten gefiel, ein Dilettant, von dem sich bei Patel & Son’s mit etwas Glück noch zwei oder drei Bände Etüden auftreiben lassen (und sei’s nur der geschichtlichen Vollständigkeit halber),

Raubitschek war sowohl als Künstler Kohns Rivale als auch im Buhlen um eine salonselige bourgeoise Blasspritsche mit schweren Lidern, deren Erwähnung hier und jetzt eigentlich gar nicht lohnt (eine stille Masturbine mit abgekauten Nägeln, die Tochter eines Korrektors des lokalen Salonblatts),

Raubitscheks Kadenz hatte Kohns weidlich ausgeweidet, aber rundgelutscht, war eine pedantische und trockene Erläuterung, aber wenn Sie mich fragen – was Sie nicht tun –, würde ich sagen, beide Kadenzen sind zu süßlich für den heute gängigen Sinn für Ironie; Anachronismen aus Samt und Spitze, die das Ego des Modernisten Kohn ebenso wie das des Sentimentalisten Raubitschek weniger vermitteln als schamlos zur Schau stellen und dadurch Schneidermann oder Schneidermanns Kunst keinerlei Respekt entgegenbringen, nicht den geringsten,

und wenn Sie sie fragen würden – was Sie nicht können, weil beide gestorben sind, einer am Herzen und einer am Krieg –, würde die Kunst als solche eine verschwindend geringe Rolle spielen im Vergleich zu ihrem! kompositorischen Talent, nur der Zimtschnaps spielte wirklich eine Rolle, Schachfreundschaften mit dem Mann, Schneidermann, dessen Talent sie nur misstrauen konnten, bevor das Talent ihnen misstraute.

An manchen Tagen waren sie seine Engel (Darlehen), an anderen seine Teufel (Zinsen), und sie hatten keine Ahnung, beide nicht, welchen Einfluss sie auf Schneidermann ausübten, Einfluss mehr im Sinne von Antieinfluss, sie hatten die Macht abzuschrecken, ihr Wirken – sie waren seine Shakespeare-Kumpane, seine Timon-Kumpel und die falschen Tröster für ihn, den Hiob,

sie brachten sich gegenseitig zur Straßenbahn, Arm in Arm vom nie im Trend liegenden Kesten-Salon, den keiner je ohne den anderen verließ (ach diese vaginabewehrte Blasspritsche …),

sie waren absolut wertlos, außer dass sie gute Beispiele für das abgaben, was unter allen Umständen verweigert, diskreditiert und vermieden werden musste (Zinswucher; sie ließen ihre Außenstände von Pests einzigem nüchternen Russen eintreiben),

sie waren Romantiker im Konzertsaal und gleichermaßen wertlose Klassizisten im Bett,

apollinisch in ihrer Konversation und dionysisch im Spiegeln,

Romantiker nach nur einem Glas Schnaps, und was mich angeht, verbindet mich so eine Hassliebe mit den beiden Polen Romantik und Klassik, aber nicht mit den Polen:

die hasse ich alle bis auf eine gewisse Jadwiga (Hedwig), die an der Endstation der Linie D wohnt, aber das ist schon fast die ganze Geschichte einer Welt, an die ich mich nur halb erinnern kann – und ich habe meine eigene Version davon, nicht hiervon, zweimal eingespielt, erst letzte Woche und für ein europäisches Label, ein deutsches Plattenlabel:

einmal privat erst letzten Donnerstag für einen bescheuerten, aber begüterten Gentleman aus Singapur, der von in Anführungszeichen moderner Musik völlig besessen ist,

und vorher einmal vor einem Monat für ein kleines europäisches, deutsches Label mit einem schauderhaften Vertrieb, praktisch inexistent, begleitet von einem auf den letzten Drücker zusammengewürfelten, überarbeiteten, aber unterbezahlten panslawischen Orchester (und fragen Sie bloß nicht nach der Qualität des Begleithefts, dessen Übersetzungen ich selber verbrechen musste),

und beide mit meiner richtigen Kadenz (nicht dieser), aber das ist noch nicht erschienen, auch wenn zwei meiner Schüler, Lohnkopisten, ihre Moderne daran wetzen, und für nähere Auskünfte,

falls es Sie interessiert,

um mehr über unser Produkt zu erfahren, wenden Sie sich wegen irrelevanter Einzelheiten bitte an das örtliche Medienkonglomerat Ihres Vertrauens:

Kohn, der, ich studierte einst mit ihm an der Budapester Musikakademie,

und der – ich spielte für ihn einst, als ich zehn war, die Erste, Letzte und Einzige Sonate seines Vaters bei dessen Beerdigung (das Herz) – in Wirklichkeit mehr ein Romantiker war, viel mehr, er war geradezu exzessiv:

ein korpulenter Mann, der in seinen späteren Jahren sich, seine Karriere und sogar die Karrieren seiner schwächeren Schüler, seine Reputation, wenn man die so nennen kann, der Musik seines Vaters widmete (János Kohn, 1860–1917, Schneidermann zufolge einst der verheißungsvollste Schüler, der aus der Werkstatt des großen, aber inexistenten Komponisten Arkady Kitsch hervorging)

und darüber hinaus ging, sich der gigantischen Deutschen Moderne widmete oder zumindest dem, was er für Moderne hielt, denn Gott sei’s geklagt, Kohn hatte nicht das Talent – oder fehlte ihm die Disziplin, um die Klassiker zu bewältigen? – und verfälschte die Moderne, bei der keiner wusste, was er zu erwarten hatte, denn dem Bewährten, das alle Welt kannte und liebte, war er nicht gewachsen,

aber ich muss gerade reden: ehrlich gesagt, höre ich als Ehemann keine Musik, ich habe nicht einmal Musik, weder in Papierform noch in Fingerform oder in Kopfform, und wenn ich in letzter Zeit etwas höre, dann Felix Mendelssohn, ausschließlich Mendelssohn, warum, kann ich nicht sagen, ich höre ihn im Kopf, mit dem, was Leute, die es nicht besser wissen, als das innere Ohr bezeichnen,

mit dem Gehör selbst, mit der Wahrnehmung ohne die Fussel, das klebrige Zeug und das Wachs, obwohl mein Agent – Adam, bist du noch da? –, der Schmock, mir letzte Weihnachten eine Stereoanlage geschenkt hat, er nennt es zu den Feiertagen,

wie jetzt – eine riesige Stereoanlage, die wie ein Mutantenhirn aussieht oder wenigstens wie ein dreifacher Kleinhirnkrebs: ein Multifunktions-Polymodul irgendwo aus Asien, ich hab die Anlage nie eingestöpselt, hab sie lieber Schneidermann weitergereicht, noch in der Originalverpackung mit der glitzernden Schleifenzunge, und Schneidermann, er hat ein Couchtischchen draus gemacht (mit einer EL-AL-Decke, die ich für ihn habe mitgehen lassen, als Untersatz, auf dem er seine tropfende Teekanne aus Gusseisen abstellte),

was auch nicht viel lächerlicher ist als das Geschenk, das mein Sohn Noah mir letzte Chanukka überreicht hat: ein Paar asiatische Filzpuschen, die einen auch gleich wiegen, wenn man hineinschlüpft, und das Gewicht erscheint dann in LED-Ziffern an der abgeschabten Stelle über den Zehen, mein Sohn ist ein Marktkenner in Sachen technisch aufgerüstete Gesundheitsschuhe – was wird’s wohl nächstes Jahr, Noah? Mit ein bisschen Glück bin ich dann tot.

Was hast du sonst noch in deiner Arche draußen in der Vorstadt? Als Gabe? Als Sore? Mr. Rothstein, Sie mit Ihren multinationalen pharmazeutischen und Sportbekleidungsinteressen, welch freigebige Obstkörbe / Geschenkgutscheine vergeben Sie an diesen Weihnachtsfeiertagen?

die schönsten Tage des Jahres, wird immer gesagt und gesungen,

ach, ich liebe Weihnachten im Exil!

das war der für mich zugänglichste und empfänglichste Konzertsaal, das Exil – ausgezeichnete Akustik, wenn vielleicht auch potenziell etwas zu viel Hall,

und was das Potenzial angeht:

wo ist der Brandschutzbeauftragte, wenn man ihn mal braucht? warum sind plötzlich so viele Gesetzeshüter mitten unter uns? wer hat da angerufen? praktisch ein ganzes Kommando, in meinem Refugium: na, willkommen!

wer war Ihr Kartenabreißer? Haben Sie Ihre Mäntel abgegeben?

Und Ihre Waffen?

Hinter welche Sache und nicht hinter wen genau wollen Sie sich eigentlich dienend und schützend stellen?

Hinter Schneidermann standen Sie nämlich bestimmt nicht, als letztes Purim in seine Zimmer eingebrochen wurde, aber Gott sei Dank gab es da nichts zu stehlen. Hinter Schneidermann nämlich bestimmt nicht, denn als er sich einmal hübsch für Pessach herausgeputzt hatte (in einem alten schmutzigen Mantel von mir), wurde er ausgeraubt, und als der Räuber zu seinem großen Erstaunen merkte, dass der elegant gekleidete Beraubte kein Geld dabeihatte, schlug er ihm schnurstracks noch einen Zahn aus. Hinter Schneidermann nämlich bestimmt nicht, denn dem haben Sie hundert Dollar und wer weiß wie viel Kleingeld als Buße abgeknöpft – die ich bezahlt habe, weil Schneidermann sie definitiv nicht hatte –, weil er die Hälfte einer selbstgedrehten Zigarette geraucht hat, die er ganz höflich, wie Schneidermann erzählte, von einer Aids-geplagten Prostituierten geschnorrt hatte, die an den Schlangen vor dem Arbeitsamt den lieben langen Tag anschaffen ging,

und als er Ihrem Ersuchen, sie auszumachen, nachkam, als Schneidermann sie einfach zu Boden fallen ließ und mit seinen alten schiffsgroßen Schuhen unter der Anzughose im italienischen Stil zertrat, haben Sie ihn wegen Umweltverschmutzung festgenommen!

Schneidermann zu mir: Die Cops sind hinter mir her.

Schneidermann zu mir: Die Cops sind hinter mir her, weil ich Künstler bin.

Schneidermann zu mir: Die sind nur hinter den Hervorragenden her.

Schneidermann zu mir: Die wollen mich mundtot machen.

Schneidermann zu mir: Die haben mich mundtot gemacht.

Schneidermann zu mir: Ich kann nicht mehr komponieren, denn die Cops, die wollen genau das.

Schneidermann zu mir: Wo und wie kann ich mich zur Cop-Ausbildung bewerben?

Schneidermann zu mir: Als Cop bekäme ich neue Klamotten.

Schneidermann zu mir: Ich bekäme sogar ein Auto.

Schneidermann zu mir: Sirenen sind die effektivsten Instrumente der musikalischen Wahrheit, die der moderne Urbanismus bislang hervorgebracht hat,

und es ist ihm zu verdanken, dass ich neben meinen vielen anderen Talenten auch imstande bin, sie alle zu benennen, alle Sirenen nach ihrem Klang zu identifizieren, all die Sirenen, die diesen Winter in Stücke schlagen:

letzte Nacht lag ich auf meinem Bett unter dem Baldachin als der ultimativen Zurschaustellung des 21. Jahrhunderts,

dem Talmi des zweiten Jahrtausends,

ließ Eiswürfel auf entblößter Brust und Bauch schmelzen, auf einem Beistelltischchen der flache weiße Teller vom Zimmerservice,

das Geschmolzene ausgewrungen, altes Wasser mit meinen obendrauf schwimmenden Haaren von rötestem Grau,

Löckchen wie Segel,

nackt bis zur Taille, der große Naturschwamm, der Luffa einer Exfrau, ohne den ich nie auf Reisen gehe, tröpfelte einen Nabelteich zusammen,

ja, ich habe einen Nabel, ich bin kein Gott – ich behalte ihn, um mich an meine Mutter zu erinnern, die,

der in das nackte Tal in der Mitte meiner Brust gelegte Schwamm tropfte auf die Tagesdecke, durchnässte meine Bettwäsche bis auf die Flecken,

die Hölle sollte so heiß sein wie damals meine Hotelsuite! mit allem bis zum Maximum aufgedreht, bis auf einen riesigen Deckenventilator wie ein Sternbild aus Pflaumen,

ein echtes Feuer im Pseudokamin, dessen Schalter man wie einen dunklen Nippel umlegen muss,

ein notgeiler Heizkörper, der im Akkord keucht,

ein Mini-Kühlschrank mit sirrendem Metropolenmelos in a-Moll oder um den Dreh, und die Jalousien, sie hielten alles drinnen, als der Tag über dem Eis aufging und die Sirenen ihn heulend durchschnitten!

und die gingen mir unter die Haut:

Hupen hupten! plärrende und blökende! Hupen, in meinen europäischen Tagen auf eine verminderte Terz gestimmt, sind hier in Amerika anders gestimmt, setzen höher ein, weiter und disharmonisch, diesseits des Ozeans sind Hupen fast auf einen Tritonus gestimmt! den Intervall des Satans!

und die Sirenen auch! ja, bei Gott, die Sirenen! ihr Krach! ich konnte mir nicht helfen:

die Polizeisirenen, eine positive Identifikation, die Feuerwehrsirenen, ja, die Krankenwagensirenen, na ja, die von Herzattacken kündende Sirene, die von Herzstillstand, einem Infarkt kündende Sirene, die von Schusswechseln mit Todesfolge kündende Sirene, die von vorsätzlichem Mord kündende Sirene, die von Mord mit bedingtem Vorsatz kündende Sirene, die von Totschlag kündende Sirene, die von Liebesmord kündende Sirene (Gattenmord klingt anders als Gattinnenmord), die von einem Brand-»Unglück« kündende Sirene,

die von einem Chemikalien-»Störfall« kündende Sirene,

die von einem Autounfall kündende Sirene,

von einer fünffachen Massenkarambolage auf der George Washington Bridge,

von terroristischen Aktivitäten in den Morgennachrichten,

die Luftschutzsirenen tief in meinem Gedächtnis, mit den monatlichen Übungen, die jedem die Kultur vergehen ließen, und ich kannte sie alle,

kannte sogar einen Mann, der behauptete, seine Mutter hätte mit Doppler in seiner Prager Zeit geschlafen oder bei ihm studiert,

ich kannte meinen europäischen Humanismus nun wirklich vorwärts rückwärts seitwärts ran, wie Schneidermann und ich mal in einem Matineefilm gehört und rauf und runter wiederholt hatten, Schneidermann, er liebte diese Matineefilme einfach,

liebte Amerika, weil er das primitive Leben liebte,

und daher verdanke ich wahrscheinlich dem großen Pädophilen Sokrates diese Idee, die Idee für diese Ansprache, die Idee für diese Rede, die Idee für diesen Ausbruch oder dieses Zeugnis, diese, diese, letzte Nacht, als ich,

ich konnte nicht schlafen, wollte auch nicht schlafen, schlief jedenfalls nicht, tigerte also wach und stumpf herum, im benebelten Schmerz vom Nachtflug, aus L.A. zurück, Herrgott, hatte ich einen Jetlag! diesen bitteren Geschmack im Mund, verbrachte den Abend nackt, entblößt, und las laut, müßig, erst in der Bibel aus der Nachttischschublade, dann in einem von Schneidermanns alten, ledergebundenen Büchern, die ich aus seiner Jackentasche gerettet hatte,

aus dem Beweismaterial befreit die Darstellung über die letzten Stunden des großen Päderasten Sokrates, Platos Bericht im Phaidon, Schneidermanns Lieblings-Phaidon nach dem Phaidon von Moses Mendelssohn, wie nicht vergessen werden darf (Schneidermann, er ventilierte oft die Idee, eine dreiteilige Kantate über die Mendelssohns zu komponieren, Moses und Felix die Außensätze, und den Mittelsatz über Abraham, Moses’ Sohn und Felix’ Vater, stumm, tacet, gleichwohl abgeschlossen und),

alles über Sokrates’ letzte Salbaderversuche, die beschreibt er, und wie Plato, der die ganze Sache in der dritten Person festhielt, wie Gott die Thora gab, er sagt so rührend:

»Plato aber, glaube ich, war krank«, um sich selbst, sollte man meinen, von der Disziplin der Psychologie zu befreien, während er – und zwar mit genau diesem Satz – die Nichtdisziplin der Psychologie eigentlich gerade begründet,

um frei zu sein, wenn auch nicht so frei wie bald darauf sein Meister Sokrates (der Gift schluckte, weil Xanthippe Gift und Galle spuckte),

wohingegen ich definitiv hier bin und für meine Altersgruppe in hinreichend guter Verfassung, wie meine Ärzte bezeugen können, und mehr noch, ich erdreiste mich, mir selbst den Plato zu machen, meinen eigenen Augenzeugen,

der ich mich gestern Abend unter den Lampen und Wandleuchtern zum Ton reifer Melanome bräunte, unendlichen Kunstsonnen, die sich mit einem Klatschen an- und abschalten lassen,

wobei ich nicht mit Dionysos verwechselt werden möchte, auch nicht mit Xenophanes, der den Horizont nie zu überschreiten vermochte,

die nachzitternde Saite, die aufgestellte Fingerspitze,

und er dachte, jedenfalls tat Xenophanes das Schneidermann zufolge, es gäbe so viele über den Horizont wandernde Sonnen wie unendliche Fingerspitzen unendlicher Hände, und vielleicht haben wir daher die mir zugestandene Zeit, um Ihnen die Köpfe mit meinen schwierigen Schwielen zu massieren. Xenophanes, der Rhapsode von Kolophon, von Homers Versen verdunkelt, prangerte laut Schneidermann, der so was wusste, die Dichter an, weil sie den Göttern menschliche Eigenschaften gaben, sie anthropomorphisiert, wenn man so will, und gab den Griechen einen Einzelgott, der in seiner Vorstellung die Form einer ewigen Sphäre hatte:

die Ziegenledertrommel der Erde eine bloße, blökende Tragödie,

ein Forte-Fortissimo durch die erweiterte Schlagzeugriege am Ende dieses Werks, das niemals endet,

die dieses Gebäude krönt, das nie seinen krönenden Abschluss findet,

und auch ich bin ein Rhapsode, aber ohne neue Innovationen, ohne optimierte Waren und Dienstleistungen, ich missbrauche nur öffentliche wie private Fonds, und wofür das alles? für Sie? um Ihretwillen?

Ich bin irgendwie Ihr Vater? Führer? Vergil? Liebhaber? Eher schon sind Sie, meine Damen und Herren, meine Waisen, und als weiser Lügner gebe ich mit meinen Lyraweisen den Nero oder nee, roh eigentlich nicht,

und sage, nicht alles dreht sich um Fantasie oder Schulweisheit, Freiheit oder Regeln, das Spontane oder das Serielle oder als was auch immer die das Serielle inzwischen verkleidet haben mögen, so dass man nicht mehr Apoll auf der einen Seite hat und Dionysos auf der anderen – Apoll der Bogen, Dionysos die Fiedel – nein, ganz im Gegenteil:

es geht um Orpheus, Apoll und Dionysos sind beide Orpheus, absolut, Orpheus von den Zehen bis zum abgerissenen Kopf, der noch sang, als er vielleicht den Hudson hinabtrieb.

Auch Jesus war ein Orpheus, ja, seine Musik die bergige Predigt, ebenso wie König David, der Sohn Isais, der Harfner der Tehillim,

die die Reformjuden unter Ihnen inmitten dieses Feldlagers die Psalmen nennen,

ja, er wurde ebenso nach dem Vorbild des Orpheus gestaltet wie der pagane Paganini, dessen Legende, die auch die Faustlegende ist, bei Orpheus abgekupfert wurde, aller Virtuosenkult ist im Grunde ein Orpheuskult, eine Sekte von Priestern, Propheten und einer erklecklichen Anzahl von toten weißen Männern.

Priester ohne Gott, ich ohne Schneidermann.

Schneidermann, der letzte Verfasser großer Unphonien und Euphonien.

Schneidermann, der Letzte der großen Komponisten.

Pythagoras bis Schneidermann. Schneidermann bis Pythagoras. Pythagormann. Schneidoras der Letzte der Großen. Schneidermann der Letzte,

ich verdiene nur, zerrissen zu werden – auf Griechisch ist das ein Sparagmos, vielleicht auch Homophagia, Schneidermann, er hätte das gewusst – das rituelle Zerfleischen eines Opfers, oder muss ich vielleicht von den Frauen meines Lebens melonengelöffelt werden?

von ihnen ermordet werden wie Orpheus in einer Darstellung – in welcher, hab ich vergessen, Schneidermann, er hätte das gewusst, wie er alles wusste – die Hilfsmittel der Häuslichkeit wie das hohle Nudelholz, das man mit Wasser füllt, damit es mehr Gewicht bekommt, oder wie das schonungslose asiatische Messer, das eine Freundin von welcher Exfrau in Küchenvorführungen und als Klinkenputzerin verkaufte?

und wissen Sie, ich habe gelesen, dass eben dieser Plato auf einen Kult von Wanderpriestern anspielt, die nahmen Geld dafür, Laien ihre neurotischen Schuldgefühle abzunehmen (alle Eintrittskartenabschnitte noch da?),

dass das Orpheuspriester waren, zögern Sie also bitte nicht, sich das als Initiation in mannigfaltige Geheimnisse vorzustellen,

mit einem Schmek Mystik, wie Schneidermann fand (Schneidermann, er hatte genau wie Hölderlin eine fast pathologische Abneigung gegen alles, das alle anderen befürworteten),

und voller metaphysischer Schwärmerei, Schneidermann, er sagte immer, wenn man sich die einmal zu eigen gemacht hätte,

die des letzten Reichs, Schneidermann, er beharrte vor allen Dingen darauf, dessen Theosophie hätte ganz Europa und die Kunst zerstört oder zumindest – so Schneidermanns beharrliches Lamento – die Wahlmöglichkeit, sich das ins Stammbuch zu schreiben, in aller Ernsthaftigkeit, als Lebensmaxime.

Aber wie Schneidermann auch immer sagte, da sprächen nur die Filme aus ihm.

Denn jetzt – wo Schneidermann fort und vielleicht, wahrscheinlich tot ist – müssen wir sie als Ritual begreifen, und zwar ein ganz wesentliches, keine geistige Verirrung einer ganzen Gesellschaft, kein Absturz des Westens durch unsere geistigen Höhenflüge, die zu fehlgeleitet wären, um der Sonne auch nur zu nahe zu kommen.

Denn angesichts unseres Verlusts ist das unumgänglich, kein grober Fehler (wie Ehe, Kinder, Geborenwerden und).

Denn in diesem Saal, in dieser Violine, in mir ist das Geheimnis des

Stoffs der Transzendenz,

der

Ausflüchte, sagen sie, und ich sage Gründe,

Kommt vor, sagt Adam, mein Agent,

Über Geschmack lässt sich nicht streiten, sagen die Manager meines Plattenlabels,

Das Leben geht weiter, und um zu gewährleisten, dass die nächste Generation diesen Planeten nicht mit der nächsten Sintflut vollsabbert, sage ich,

Erbsünde, so steht es geschrieben, aber ich prophezeie im Krebsgang ein von Anfang an wirksames Verlustgefühl, das viele meiner Landsleute, meiner toten oder ohne Landsleute sterbenden Landsleute, viel besser erklärt haben, als ich es je hoffen könnte (Schneidermann, er hatte immer die Kultivierung eines negativen Kanons empfohlen),

und wie ich sehe, hören Sie jetzt zu! aber ich bin kein Jesaja, kein Jeremia, wir sind hier nicht bei Hesekiel 14,1–11 (die Verse, die Schneidermann am liebsten mit Musik unterlegte), das ist hier keine Apologia oder zumindest noch nicht,

nicht Ihnen gegenüber und nicht gegenüber Schneidermann, der – und vor keinem Senatsausschuss nenne ich die Namen Lebender (wie Ihr Vater das getan hat, Mr. Rothstein, und im Frühling 1950 damit die Party platzen ließ),

weil die alten Ägypter glaubten, die Benennung wäre eine Inbesitznahme, Eigentum laut Schneidermann, 10/10tel von allem göttlichen Recht und,

egal, besser man hat jeden Namen, mit dem die Leute, das Medienkonsortium, die Ex- und weiterhin Frauen, die Kinder einen ansprechen können: Polyonymer Schmock, denn ich werd Ihnen sagen, was Sie tun können und lassen müssen,

denn irgendwer muss das ja machen, aber zuerst wollen wir diesen neuen Polizeizustrom willkommen heißen, Sondereinsatzkommandos, diese Armee gesunder und munterer junger Männer auf Urlaub von privaten Wohnzimmerfehden: Überreaktionen, von mir aus, und ich begrüße den Polizeichef dieser feinen Urbis und den Vorsitzenden dieses schönen Konzertsaals, die da gerade den Mittelgang herabkommen, im Gleichschritt, als wollten sie sich verbindlich von mir segnen lassen – dabei soll ich gebunden werden, nicht wahr?

Guten Abend, meine Herren, ich sage das ganz ohne Ironie, nein – von mir? Chef, kennen Sie zufällig das Werk des großen klassischen Philologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff? Nein? Sollten Sie aber.

Die Orphik war nämlich keine Religion, Orphika waren nicht zu verehren, die Orphik war keine Theologie, sondern eine Kunst, verstehen Sie das? Denn im Grunde ist Religion Kunst ist Philosophie ist

REINER GENUSS, vielleicht, wie der Slogan auf meinen Lieblingsschokoriegeln, der Schokoriegel, den ich gern esse, aber nicht essen sollte, der Schokoriegel, den ich mir im Kino mit Schneidermann teilte (Nougat war SPIELBERG vorbehalten, bei allen anderen gab es nur Nüsse und Karamell),

REINER GENUSS der Slogan auf dem Schokoriegel, den ich uns bei den Matineefilmen kaufte, aber Schneidermann, er wickelte ihn immer schon vorher aus und verputzte ihn,

und dann brachte ich JOHNNIE WALKER RED LABEL WHISKY mit für die COCA-COLA CLASSIC, die ich ihm immer kaufte, und Popcorn, das mit etwas überzogen war, das sich als Butter ausgab (Ejakulat, fürchtete Schneidermann immer),

obendrauf lag das Buch, das Schneidermann beim Matineefilm durchlesen wollte, und bekam immer Fettflecke – Sie hören auch bestimmt zu, Mr. Rothstein? das muss doch ein Symbol unserer Zeit sein:

ein Mann liest in einem Kino, ein Mann liest ein brennendes Buch bei einem Kinobrand – ein besseres Symbol wäre vielleicht der Mann, der auf der Straße eine Kreditkarte fand, sie benutzen wollte, aber sie war schon gesperrt, also brach er sie durch, halbierte sie so, dass er eine scharfe Kante bekam, und mit dieser primitiven Waffe schnitt er einer Verkäuferin die Kehle durch, metzelte sie, ermordete sie, um zu stehlen, was er wollte; ich glaube, das war in einem Schuhgeschäft in Queens, genau, der Mann, von dem ich in der Zeitung von gestern gelesen habe, wird herhalten als ein ausreichender Repräsentant unserer Welt, unseres Hier und Jetzt, oder vielleicht ein Aids-bewusster Rapper, wer weiß?

oder die Schauspielerin, die ihren – hohen – Lebensunterhalt in dieser Spielzeit damit bestreitet, oben ohne, aber nur in künstlerisch wertvollen Schwarzweißfilmen aufzutreten?

oder der schwarze Richter in allen Schlüsselszenen in Gerichtsdramen, weil Richter im Film heutzutage schwarz, Afroamerikaner oder Konga-Tonga-Franko-Brito-Latino-Amerikaner sein müssen, so wie ich ein amerikanisch-deutsch-ungarisch-ruthenisch-ukrainischer Jude bin, und wie weit wollen Sie in unserer Beziehung zurückgehen? zu den Philistern? Phöniziern? Paphlagoniern?

Schneidermann und ich hatten auch etwas von Connaisseuren, aber das Connaisseurhafte war nicht das einzig Europäische an uns (Schneidermann, er war auch mal Korrepetitor an der Ungarischen Staatsoper in Budapest gewesen, aber das ist ein anderes Leben und eine ganze Oper wert, um die wertlose Beschäftigung damit aufzuzeigen),

ich habe ja schon versucht, unsere Connaisseurschaft glaubhaft darzulegen, unsere Kino-Connaisseurschaft, Ihnen haarklein zu erzählen, was Schneidermann und ich alles wussten, alle Einzelheiten, die Tricks und Handlungsmanöver, Beziehungsklischees, die Schliche und die Sprüche, all die Zugeständnisse an unsere Konzentrationsschwäche, und Schneidermann und ich kannten diese Schwächen so gut, dass sie zu unserer Stärke MORPHTEN, so nennt man das heute, glaube ich,

wir verdarben uns und allen anderen die Auflösungen und überraschenden Wendungen, die Krimis und die Matineefilme mit multiplen Persönlichkeiten, in denen sich erst ganz am Ende herausstellt, dass der Gute und der Böse ein und derselbe sind,

dann kommt der ABSPANN,

und Schneidermann und ich, wir kannten mit heiliger, wenn auch frevelhafter Ironie alle Dialoge, konnten wirklich ganze Gespräche mitsprechen – und machten das oft auch, voller Sarkasmus, wenn es extrem krampfig wurde – nutzten nur noch Filmdialoge, aus demselben Film, aus ganz verschiedenen Filmen:

Schneidermann und ich, wir sangen uns auch an (in Blechstimmen), als wären wir in Musicals, spazierten, posierten und redeten, spazierten, posierten und redeten dabei wie in den DeMille-Bibelepen oder wie in den Opern, die sie immer in Bayreuth aufführen, Schneidermann und ich, wir kannten alle Auftakte und Abtänze,

alle Unterhaltungsdialoge aller verregneten oder wegen Regen abgesagten Sonntagabende, die als Leben firmieren,

kannten alle Bonmots aus einem Leben im Publikum und wofür? den Tod? kannten alles, was Genies wie Schneidermann und ich nie proben mussten,

Szenen, die sich nur änderten, wenn unsere Leinwanderinnerungen verblassten

oder wenn unser Versagen erinnert wurde,

wenn alte Dialoge neu wurden, aus immer neuen und jüngeren Mündern kamen oder wenn neueste Dialoge die alten Worte wegnahmen, und Worte wofür? Liebe, Lust, Leid, ja, Schneidermann und ich kannten sie alle, und wir wussten, welches Kleid sie getragen hatte, was er zu ihr gesagt hatte, als sie es trug oder auszog und so weiter und so fort – Schneidermann und ich kannten auch alle Kinos in- und auswendig, kannten die Kartenabreißer und Platzanweiserinnen, die einen anzüglichen Blick oder ein Kneifen lohnten (ich jedenfalls), und Schneidermann und ich kannten auch alle Leinwände in allen Kinos: Schneidermann, er sagte oft, er würde das Knarren jedes einzelnen Sitzes in jedem einzelnen Kino so gut kennen – wenn da jemand Platz nähme (aber wer außer uns?, fragte Schneidermann und lud mich in seine Truggebilde ein) und es quietsche, könne er, Schneidermann, so Schneidermann, auf Anhieb Reihe und Sitznummer nennen,

möglicherweise unbewusst konnte Schneidermann, behauptete er jedenfalls, noch den genauen Moment sagen, oder zumindest während welcher Vorführung die letzte Person das letzte Mal auf dem Platz in der Reihe gesessen hatte (obwohl Schneidermann, er wusste, dass er die Person nie kennenlernen würde, was aber auch keine Rolle spielte) – und Schneidermann und ich kannten all die Filme so gut, als hätten wir sie gelebt, denn daraus bestand ein Gutteil unseres Lebens neben der Musik.

Da wir uns manchmal jeden Tag einen Matineefilm ansahen, um uns zu zerstreuen, was in fast fünfzig Jahren zum Ritual für uns wurde, wenn ich in der Stadt war, und wir nicht mal ein Telefon brauchten, um die Zeit festzulegen, als ob die Zeit sich festlegen ließe, ja wie denn?, aber um 15.00 oder gegen 15.00 oder sogar vor 15.00:

der Sterbestunde,

der kanonischen Stunde des Schwachwerdens, der

Der-Tag-ist-in-trockenen-Tüchern-Stunde – amerikanische Matineezeit und zum reduzierten Seniorenpreis bei Vorzeigen unserer Seniorenausweise, Einlass bis 16.00, trafen wir uns vor dem Kartenschalter vor dem Kino (ich zahlte immer), unserer manchmal fast täglichen peinlichen Verabredung, und glauben Sie nicht, wir hätten uns nicht darin gesuhlt, der Sündhaftigkeit-des-Ganzen, das Gefühl genossen, uns in so vielen Kinos unserer Metropolenfläche unter unser Niveau zu begeben, und Schneidermann und ich, wir einigten uns auf den Film des Tages, oder eher, das war nicht nötig: Nennen Sie’s Gedankenübertragung, wenn Sie wollen, nennen Sie’s Gedankenlesen, wenn Sie wollen, außersinnliche Irgendwas, Intuition, Geomantik, Geloskopie, wenn Sie wollen, aber in Wahrheit besorgten wir uns jeder für sich das Kinoprogramm aus einer gewissen Zeitung, die Sie – alle – lesen – sollten, und jeder für sich hatten wir die infrage kommenden Matineefilme rot eingekreist, die wir, auch hier jeder für sich, sehen wollten, seinerseits wahrscheinlich genauso wie meinerseits, um

1) den anderen hinabbegleiten zu können,

2) okay, ein bisschen das Leben rumzubringen, und beide tauchten wir dann – jeder für sich, denn zumindest Schneidermann, er war ein Individualist – rechtzeitig auf, egal bei welchem Kino, lungerten vor dem Kartenschalter herum, ich hatte immer die Whiskeyflasche und zwei Karten dabei, Schneidermann, er hatte immer nichts und niemanden dabei und tat überrascht, wenn wir uns rein zufällig auf der Straße oder im Foyer begegneten,

manchmal.

Beispielsweise: Hätte ja nie gedacht, dich hier zu sehen. So ein Zufall aber auch.

Aber um noch mal auf den Punkt zu kommen. Darf nicht abschweifen,

nämlich vom letzten und finalen Mal, wo Schneidermann und ich jeder für sich entschieden hatten, zusammen wie immer ins Kino zu gehen, in einen Matineefilm wie immer, nicht dass ich ihn oder Schneidermann mich auf der Leinwand gesehen hätte, Gott bewahre!, aber wir sahen einander erst im Foyer vor dem Kartenschalter und gingen dann zusammen rein, in kunstinspiriertem Schweigen, in Saal 7, Reihe S, Platz 17 und 19, immer mit einem leeren Sitz zwischen uns, Platz Nr. 18, durch einen zwischen uns liegenden Sitz getrennt, unsere regenfeuchten, nach Samen stinkenden Jacken in der Mitte, die mezzo termine war, dieser uns trennende Sitz Nr. 18 wurde je nach Jahreszeit von meinem Kunsthermelin eingenommen, der auf seiner brechreizenden Schmate lag; dass wir eine kaputte Sprungfeder auseinander saßen, war unser Brauch, unsere Gewohnheit, war unser Ritual, unsere Tradition, um diesen Matineefilm zu sehen, als Zuschauer in diesem einen, letzten Matineefilm zu sitzen, diesem letzten Film von vielleicht fünf- oder sechstausend, die Schneidermann und ich im letzten halben Jahrhundert zusammen gesehen hatten, und was machte er in diesem Film, in dessen ausgedehnter Mitte, im sich abspulenden Mittelteil?

Schneidermann, er stand einfach auf, krebste erst Hintern voran herum, tattertorkelnd vom Alter ebenso wie vom OLD GRAND-DAD-Whiskey, den er getrunken hatte, dann durch die Reihe, auf Schuhe tretend und auf hirnförmiges Popcorn, in den Gang und hinaus.

Und kam nicht mehr zurück. Nie mehr. Nach etwa einer Stunde und ein paar Minuten. Achtzehn. Gegen 16.00 laut meiner Aussage ging Schneidermann, und ich nahm an, wie ich der Polizei mitteilte, gegen allen Rat, den ich in den Wind geschlagen hatte, zum Pissen (Schneidermann, er hatte einen Krieg in seinem Harntrakt, oft erleichterte er sich einfach in seinen halbvollen Limobecher, und dann musste ich ihn daran erinnern, nicht daraus zu trinken, seinen Loopingstrohhalm zusammenzukneifen, ihn herauszunehmen),

oder vielleicht wollte er im Foyer herumjuden, wie er immer sagte, um noch mal was gratis zu kriegen, einen Nachschlag auf das Abgestandene,

Popcorn wie Weißköpfchentumore,

oder etwas Limo,

non gassata, weil Schneidermann wie alle Juden Gas hasste, also nur medizinischen Zuckersaft, sirupartig dunkel und trocken wie Tokajer, sagte Schneidermann immer (Schneidermann, er war ein langjähriger Imbisskunde auf meine Kosten),

und als Schneidermann mich verließ, ließ er dieses Buch zurück: sein liebstes (oder zweitliebstes),

kostbarstes (zweitkostbarstes),

jedenfalls hochgeschätztes Buch, ließ es in einer Jackentasche stecken, Schneidermann, er ließ nämlich auch seine Jacke zurück, also auch deren Taschen, und in einer davon fand ich Platos Phaidon im Original, womit ich Mühe habe und immer haben werde,

kam nie mehr zurück,

niemals, verschwand spurlos, verdünnisierte sich einfach, und weg war er, puff! niemand hat oder ich jedenfalls habe ihn nie wiedergesehen oder von ihm gehört, sein Zimmer – wenn man das so nennen konnte, es war ja eher der quadratische Rumpf einer Zwangsjacke – sah aus wie immer, unordentlich, havariert, von unbekannten Geheimdiensten schon gefilzt wie immer (Schneidermann, er behauptete nach Thriller-Matineefilmen oft, die NSA würde aktiv Pianisten rekrutieren, die sie nicht liquidieren wollten, solche, die sich nicht, wie er immer sagte, ans Programm hielten),

und glauben Sie nicht, man hätte mich in die City gebracht, zur Befragung einmal quer durch die Stadt, denn das geschah nicht. Gegen die wie auch immer gemeinten Ratschläge meiner Anwälte und ihrer, meiner Ex- und weiterhin Frauen, meiner Söhne und sogar meines Anwaltssohns, meines Agenten und meines bewährten Foyer-Barkeepers im Grand, bin ich aus eigenem Antrieb hingegangen, um mit mir im Einklang zu sein – aber wissen Sie was, meine Herren, Sie, die Cops da draußen im Publikumsland, was Sie nicht gefragt haben? zu ermitteln versäumt haben? nie wissen wollten?

Sie wollten nie wissen, welchen Film Schneidermann und ich da sahen, welche gottverdammte Zeitverschwendung von Matineefilm wir da schon zur Hälfte absolviert hatten, wovon wir fast die Mitte erreicht hatten – es ist ein langer Streifen, nimmt überhaupt kein Ende –, und Schneidermann, er könnte sich gesagt haben, dass er einfach genug davon hatte, auf jeden Fall hat er einfach beschlossen, das Lichtspielhaus zu verlassen.

Unvorstellbar. Unglaublich. Ein Versehen, da bin ich sicher. Eine bedauerliche Idiotie. Ein Fehler, nicht wenigstens im Vertrauen zu fragen, um unsere Ästhetik zu schützen und jegliche Unschuld, die meinem Ruf etwa noch anhaften könnte, welche nachmittägliche Unterhaltung im tiefsten Winter – unter Schmerzmitteln, die ich jetzt immer nehme, unempfänglich für alle Leinwandgötterbotenstoffe,

betäubt – welche abgedroschene nachmittägliche winterlichste Unterhaltung im tiefsten Winter um 15.00 an einem Wochentag begann, an welchem, hab ich vergessen, aber das steht alles im Bericht, den der Detective Anfang des Monats, Anfang Dezember 2002 angefertigt hat, vielleicht am vierten oder fünften Tag von Chanukka? könnte ein Donnerstag gewesen sein, oder ein Mittwoch,

jedenfalls der bedauerlichste, peinlichste, dämlichste, sinnloseste Wochentag für Matineefilme – fast drei Wochen ist das jetzt her, in einem Kino, das nach dem passionierten Theaterbesucher, unserem Präsidenten Abraham Lincoln, benannt war, oben an der West 68th Street, das ist ein Loew’s aus der Loew-Dynastie, der anglisierten Löw-Kette, amerikanisiert wie jetzt alles und ohne Umlaut,

und für Schneidermann war früher Schluss, als er nach einer Stunde und achtzehn Minuten ging, fast drei Wochen ist das jetzt her, und Sie wissen noch immer nicht und werden auch nie wissen, ob ich mir das alles aus den Fingern sauge oder nicht,

nur improvisiere,

erfinde,

interpretiere,

meinen Willen aufzwinge, aber der Film war jedenfalls ein Film über den Holocaust, ja, das war ein Holocaustfilm,

und für diejenigen unter Ihnen, die in Schlaglöchern oder Ghettos hausen: Ein Holocaustfilm ist ein Film, der den Genozid oder den versuchten Genozid am europäischen Judentum thematisiert oder zu thematisieren versucht.

Er war grau. Schwarz und Weiß kämpften. Juden starben. Ich aß Minzbonbons. Mein linkes Bein schlief ein.

Der Matineefilm kam für einen Monat neu in die Kinos, war aber eigentlich fast ein Jahrzehnt alt, von 1993, glaube ich, es war eine Neuveröffentlichung anlässlich des zehnjährigen Jubiläums, ein Film, der im Jahr darauf einen goldenen Götzen namens OSCAR für den BESTEN FILM gewonnen hatte (1994, ich glaube, es war die 66. Vergabe der Academy Awards durch die Afroamerikanerin, die sich für eine Jüdin hält und Whoopi heißt, glaube ich, aber ich krieg sie immer mit Oprah durcheinander) und noch sechs weitere Schmarotzerpreise für praktisch alles andere absahnte,

und den Film über das Klavier ausstach, der hieß DAS PIANO, den haben Schneidermann und ich gesehen und konnten ihn nicht ausstehen, weil die Schlampe, die der Star vom PIANO war und die auch das titelgebende Klavier spielte, furchtbar war, fand Schneidermann, sie war hoffnungslos, hatte weder Gehör noch Technik.

Der Holocaust-Matineefilm, der bei den Preisen so absahnte, war jedenfalls ein Film von einem Mann mit einem Bart.

Manchmal trägt er auch einen Hut über dem Bart.

Der Film war von einem Mann, der so gut träumt, dass wir alle nicht mehr träumen müssen, wie Schneidermann, er sagte das oft und eifersüchtig,

ein Film vom Lieblingsregisseur meines verschwundenen Freundes, den Sie vielleicht unter dem Namen SPIELBERG kennen.

Es war ein Film über die Juden und die Nazis und über das, was die Nazis den Juden angetan haben, ein Film über einen Mann, der ein Nazi war, der etwas bewirkte, wie alle Menschen auf die eine oder andere Weise etwas bewirken, ein Nazi, der seine Seele rettete, und der Talmud sagt und dieser Film erinnert uns, wer nur ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt – ach, falls Sie das interessiert: Dieses Sprichwort, das sich der Holocaust-Matineefilm für seine Zwischentitel aneignet, steht in den Sanhedrin 37A, wie meine Tochter, die Rabbinerin, mir letzte Woche erklärt hat, in der Mischna, um genau zu sein, und wörtlich lautet es, wer eine Seele Israels rettet und so weiter und so fort, aber das ist wohl nichts für ein Publikum aus Familienmenschen, wie Schneidermann sagen würde, das ist wohl kaum etwas, das die ganze Familie genießen würde.

Glauben Sie mir, es war SCHINDLERS LISTE:

ein Holocaust-Matineefilm über einen Mann namens Schindler (oder Szyndler)

und seine Liste – Musik von Williams, der im 19. Jahrhundert ein großer Komponist gewesen wäre, Geigensolos von meinem Freund, dem poliomyelitischen Wunderkind, Maestro Itzhak Perlman, meine Damen und Herren:

der Sound ist bombastisch, schwitzig und gichtgeschwollen, dabei ist die Musik noch nicht mal das Schlimmste daran.

Passen Sie auf: Ich möchte gar nicht erst in die Debatte einsteigen, ob das nun eine Dokumentation – oder ein Doku-Drama, wie man das heute wohl nennt – oder reine Unterhaltung ist. WAHR oder FALSCH oder einfach bloß Fiktion, wie Spinoza die Sache kategorisiert; der Wert einer Schilderung des Holocaust von einem, der nicht darin gelitten hat, darunter, danach, aus erster Hand, für Leute wie mich, und im Gegensatz zu Schneidermann, der, wir haben den Terror nie erfahren, wir können also auch alle zusammen nur Annäherungen schaffen, unweigerliche Verfälschungen, und dann geben wir das Entsetzen auf der Leinwand weiter, das Entsetzen dessen,

was geschah, dessen,

was geschehen war – nein, ich werde all diese sinnlosen und so zeitlosen Kontroversen garantiert nicht wieder aufwärmen, und warum? habe ich Angst?

weil sie wertlos sind, weil das ein Film war, weil er so schlecht und so gut wie alle Filme war, weil alle Filme und speziell alle Matineefilme ästhetisch unmittelbar zu Gott sind, zumindest unmittelbar zu mir – dieser Film eroberte und zerstörte über sieben Stunden meines Lebens:

die Laufzeit des Films plus die U-Bahn-Fahrt zum Kino und nach der Vorführung noch mal drei Stunden im Regen von New York, Verschwinden im polnischen Schnee auf der Suche nach dem verschwundenen Schneidermann in Uptown und Downtown,

Erkundigungen bei Platzanweiserinnen, Management, Kartenverkäuferin,

raus aus dem Kino und immer wieder um den Block, aber an welcher Stelle ist Schneidermann denn gegangen, fragen Sie oder auch nicht?

in der Szene mit dem verloren herumlaufenden Mädchen in der roten Jacke?

der Szene, in der Untersturmführer Amon Göth Knall auf Fall anfängt, von der Terrasse seines Hauses in Płaszów aus wahllos auf Menschen zu schießen?

der Szene an jenem prachtvollen Frühlingsmorgen 1943, an dem das Ghetto aufgelöst wird, ein SS-Mann auf dem Klavier eines Juden spielt, ein anderer SS-Mann die behelmte Fresse zur Tür reinstreckt und als der Idiot, der er vom Drehbuch her nun einmal ist, fragt:

Was ist das? Ist das Bach?

lautet die Antwort, Nein, Mozart, dabei ist es die Englische Suite Nr. 2 in a-moll,

aber es war nichts so Dramatisches, nichts mit so bombastischer Tragweite:

es war eine vertrauliche Szene mit dem, ich glaube, das ist ein Ire, und dem glatzköpfigen Tommy, Ben Kingsley, der seinen besten Gandhi raushängen lässt und die Liste abtippt, da ist er gegangen.

Hudes, Isak, stand auf der LISTE,

Feber, Ludwig, stand auf der LISTE, und Schneidermann, er ging,

denn warum hätte Schneidermann sich das ansehen sollen? Er musste das leben. Er hatte das überleben müssen, um das zu leben. Aber ein Paar hinter uns – nein, nicht am Rumknutschen –, die einzigen Kinobesucher außer uns, sie mussten das nicht leben, und daher war die Inkarnation oben auf der Leinwand so entsetzlich,

und erhoffen Sie sich von mir keine Erbaulichkeit, nein, ich werde nicht einmal meinen eigenen Schmerz preisgeben:

Schneidermann, er war nicht in Tränen aufgelöst, nein, Schneidermann, er war nicht einmal aufgewühlt – Tatsache war, dass Schneidermann einfach aufstand und ging, Tatsache war, dass wir beide die einzigen Kinobesucher waren,

Matineejunkies,

die zwei Zeugen, die der Talmud für die erfolgreiche Anklage eines Straftäters vorschreibt (aber der eine war gegangen, und SPIELBERG lebt drüben in L.A.),

in Wahrheit habe ich das Paar hinter uns erschaffen, um eine Reaktion zu erschaffen, ein Gegenüber: wir brauchen immer ein Publikum.

Schneidermann und ich gingen jeder für sich zu dem letzten Matineefilm, sahen ihn aber zusammen am Ende seiner Wiederaufführung zum zehnjährigen Jubiläum, als er wieder in ausgewählte Kinos kam, keine Ahnung, nach welchen Kriterien sie die auswählen, aber,

um seine zehn Jahre als Film zu feiern, seine zehn Jahre des Filmseins, der Filmizität, seine zehn Jahre als Kunstwerk, als OSCARGEWINNER,

OSCAR, übrigens auch Schindlers Vorname, nur anders buchstabiert, urheberrechtlich geschützt, Markenartikel, egal – neun Jahre nachdem er gewonnen und abgesahnt hatte, alles abgeräumt, oder fast alles, glaube ich, sogar den Oscar für die MUSIK, glaube ich oder bilde ich mir ein, weil es meiner Beweisführung dienen würde, der Film etablierte Mittelmäßigkeit als Standard,

etablierte den Dreck, den Scheiß als nicht nur für uns erwartbar, sondern sogar preiswürdig,

und tatsächlich könnte das Schneidermann umgebracht haben, falls er überhaupt tot ist: das Zehnjahresvirus dieser Musik, wenn nicht aller Matineefilmmusik, die Schneidermann, er fand sie lächerlich, alle gleichermaßen lächerlich, (natürlich) unendlich viel schlechter als seine eigenen verbissenen, ernsten und dabei auch genialen Versuche, und es waren wahrhaftig Anstrengungen, die er in seinem Tintenfleck von Zimmer unternahm und aus dem Tintenfleck seiner Erinnerungen, mutterseelenallein – er komponierte oder rekomponierte die Musik eines Matineefilms, den Schneidermann, er, wir hatten ihn gerade erst am Nachmittag auf der Leinwand gesehen, o Gott, das machte er laufend! orchestrierte oder reorchestrierte sie, ob nun auf Papier (Milchproduktverpackungen, Eindollarscheine, Pornoheftabonnementpostkarten)

oder im Kopf, am endlosen Ende wahrscheinlich Aberhunderte von Matineefilmen, und vielleicht ist Schneidermann aus diesem Matineefilm, diesem letzten Matineefilm also rausgegangen (aber wohin?),

um einer Idee nachzugehen, die sich ihm plötzlich aufgedrängt hatte, inspiriert vom oder als Reaktion auf den Soundtrack (aber wie?),

denn Schneidermann, immer wenn wir aus einem Matineefilm egal welchen Genres herauskamen, er überhörte von Anfang an meine zugegebenermaßen oft durchgeknallten, hyperkritischen, nörgeligen Äußerungen zu Plot, Dialogen, Schauspielkunst, Kulissen und so weiter und so fort, und stattdessen diskutierte oder besser dozierte er über die Musik des Matineefilms, fast immer beschränkte er sich auf die Musik des Matineefilms, zergliederte sie, summte sie, sang sie mit seiner Schepperstimme (das Zwerchfell hatte man ihm anscheinend an den Nasensteg verpflanzt),

demonstrierte auf einer Klaviatur, die unsichtbar einen Schritt vor seinem Humpeln in der Luft von Midtown schwebte, wie er bestimmte, wenn auch wertlose Passagen neu harmonisieren würde,

und Gott im Himmel! Schneidermann ist nun nicht mehr da, um das zu machen, ist hinterher ab etwa 18.00 nicht mehr da, wenn der Matineefilm uns entlässt und er zu meiner Verblüffung die Musik von diesem und für diesen letzten Matineefilm überarbeitet, dem letzten Matineefilm, den auch ich besucht habe, und dem letzten Matineefilm, den ich je zu besuchen gedenke (ich bleib zu Hause und bestell mir die Filme, ich bin jetzt ein Mensch des neuen Jahrtausends),

und so obliegt es mir, o Gott, jetzt bin ich dafür verantwortlich, mich um diese Musik zu kümmern, die Musik dieses Amerikaners Williams für diesen jüdischsten Film von SPIELBERG (den Schneidermann, er sprach den Namen immer deutsch aus),

diese Musik für SCHINDLERS LISTE,

ab jetzt ist es mein Los, mein Zuständigkeitsbereich, zu erläutern, zu analysieren, zu interpretieren,

aber erwarten Sie jetzt keine Schenkerismen (Heinrich Schenker, dem wollte Schneidermann von seinem reservierten Tisch im Berliner Café Canard mal einen Stift gestohlen haben),

nein, ich werde sie nicht vorspielen, ich werde nur darüber reden, sie durchleuchten, sie einer fairen und ausgewogenen Kritik unterziehen,

einer logisch begründeten Einschätzung, wie es so schön heißt – wie im Film, wo wir diese, sagen wir, GEISTERNDEN, nur UMRISSENEN Geigenfiguren haben, Figurationen, diese schmalzig überzogenen Linienführungen, ein Fachbegriff:

SOL – auch der Name meines Schneiders, dem ich das alles ebenfalls zu erklären versucht habe –,

dass sie den Film im realen, also Nachkriegs- und nachsozialistischen Polen, das sich in den Westen integrieren wollte, gedreht haben, aber im Film,

da ist das das Kriegseuropa: Musikmäßig wird Webern bald von einem amerikanischen G.I. erschossen, jwd in diesem Kaff Mittersill, von Webern zu Ihnen, während Schönberg, sein Lehrer, draußen in Beverly Hills im schönen Kalifornien, Tennis spielt, mit Strawinsky auf einem eigens erbauten Tennisplatz im damals größten Martiniglas der Welt außerhalb der Poconos spielt, Alban Berg – der Dritte im Bunde der Wiener Dreifaltigkeit –, na, der ist schon tot, Mahler, ihrer aller Ahnherr, ist schon seit ewigen Zeiten tot und begraben, Schönberg, er UMRISS (ein historischer Begriff,

kritischer Fachausdruck),

SKiZZIERTE so gut in seinen Bildern,

genau, er malte auch, der Mann, er diente so vielen Herren wie sich selbst – Mahlers Grab ein tiefes Zeitloch à la Celan, durch das wir in einen Regentag der deutschen Welt 1911 zurückfallen, an dem Alma (Mädchenname Schindler, nicht verwandt) hinter dem Grabstein wahrscheinlich einen Priester der zweiten Garnitur fellierte, während all seine Schüler trauerten (die Schüler trauern immer am meisten), Schönberg Mahler noch Geld schuldete, und ob bei der Beerdigung wohl irgendwer eine Jarmulke getragen hat? ein Kaddisch gesprochen hat? und Alma Mahler, geb. Schindler, seine Frau, die immer noch mit allem schläft, was zwei Beine hat und sich Künstler schimpft, ist endlich frei, die Unannehmlichkeiten des Nationalsozialismus hinter sich zu lassen, nach Los Angeles zu emigrieren und aber

passen Sie auf, es ist ganz einfach:

Schönberg oder die Holocaustmusik für diesen Holocaustfilm, Webern oder die Musik für SCHINDLER, Berg oder die Musik für SCHINDLER, Mahler oder die Musik für SCHINDLER, Strawinsky oder die Musik für SCHINDLER – das ist ja nur gerecht, denn sie alle spielen nach derselben Partitur, sie alle arbeiten mit demselben Material, weil es anders einfach zu komisch wäre.

Passen Sie auf, es ist ganz einfach:

Webern und die Musik für den Film mit dem Alien in Form eines Penis,

Strawinsky und die Musik für den Film mit dem Tyrannosaurus Rex, der zwar grausam grimmig ist, mit seinen Ärmchen aber trotzdem wie ein Homosexueller aussieht,

Mahler und die Musik für den Film mit dem Hai, den man nie richtig zu sehen bekommt, weil er ständig unter Wasser ist,

dieses Da da, Da da, Da da, verstehen Sie? Der Hai nähert sich dem Schmock! Schneidermann, er konnte nur krähen beim ersten Sehen,

aber es gibt nichts, was ein schneller Schnitt nicht lösen, was nicht dem vorigen Bild zum Opfer fallen, auf dem Boden vom Schneideraum eines Films landen könnte, der nie gedreht wird (außer Sie könnten sich für die Finanzierung erwärmen, Mr. Rothstein),

eine Verfilmung von Schneidermanns Leben, nennen Sie ihn doch einfach SCHNEIDERMANNS LEBEN, wir schreiben zusammen ein Treatment, und ich versuche, uns SPIELBERG zu sichern – die letzte Stunde plus achtzehn Minuten des Films müsste die ersten achtundsiebzig Minuten des letzten Films enthalten, den Schneidermann je gesehen hat, wenn Sie, Mr. Rothstein da draußen, also so großzügig wären, Geld für die Rechte auszugeben, können wir gleich mit der PR-Kampagne loslegen,

müssen nur noch die Kissen auf der Besetzungscouch aufschütteln und uns von den Talenten verführen lassen:

wenn die Musik also fast nicht zu verstehen ist (und bewusst so komponiert worden sein könnte), was ist dann erst mit dem Mann?

ein Igel im Fuchspelz, um seine Feinde zu verbabeln, das wollte Schneidermann sein, aber ihm fehlte das nötige Kleingeld,

ein Trojaner in Amerika, aber nicht im Sinne dieser Annoncen für hochwertige Verhütungsmittel, fügte Schneidermann immer hinzu,

Schneidermann, so schwer einzuordnen wie Zeus: war er sowohl Chthonios als auch Olympios? der die Namen wechselte wie Schneidermann die Hemdkragen? obwohl auch er die Namen wechselte: erst Schneidermann und später dann hier drüben in der unterheizten Wohnung, die Schneidermann seine flat nannte,

das ich irgendwann in diesem Leben noch ausräumen muss, Schneiderman, zumindest wird er bei der Polizei meistens so buchstabiert: zwei ns oder nur ein n wie in der Vermisstenanzeige, war’s also nun eins oder waren es zwei? in einem Wiener Konzertprogramm waren’s einmal sogar drei ns,

ein Tippfehler, den Schneidermann in seiner (über zwei Stunden langen) Ansprache an das Publikum richtigstellte, ja und? war er durch die Buchstaben, den Namen, denn weniger ein Mann oder ein man?

Kapriziös wie Mozart war Schneidermann, ein Komponist, den er hasste, weil jeder ihn liebt oder jedenfalls liebte, Herrgott noch mal! selbst musikalische Vollidioten haben von ihm gehört – Mozart, ein Komponist, der für Schneidermann ein billiger Abklatsch des Schöpfers war. Aber einem Freund muss man seine Überempfindlichkeiten vergeben, oder nicht? erst recht einem Freund, der nach den frühen Toden seines Vaters am Herzen und seiner Mutter in den Wehen von seinen neun musikalischen Tanten großgezogen worden war.

Frauen, die seine eigentlichen Ausbilderinnen waren, ich erklärte der Polizei, dass Schneidermann, er hatte Beethovens Haare. In meiner Beschreibung – vielleicht zu detailliert und für die Behörden daher wertlos – konstatierte ich, dass Schneidermann, er hatte Sinais Nase. Schneidermann, er hatte Asiens Auge, wie ich dem Phantombildzeichner erklärte (alle zwei Milliarden, aber keines davon wollte oder will etwas kommen gesehen haben). Schneidermann, er hatte Mozarts Drüsen (Ohren). Schneidermann, er hatte Amerikas Lippen, aber – und dieses Paradox müssen wir erwarten – sie hatten die Absicht, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen,

genau wie ich, als ich dem Detective sagte, Schneidermann, er sei mal mit dem türkischen Botschafter verwechselt worden (ich weiß bloß nicht, ob die Dienstmarke mir geglaubt hat), er sei mal irrtümlich für einen Freier gehalten worden, als er sich bei einer Prostituierten nach dem Weg zu einem neuen Multiplex in der Nähe der 10th Avenue erkundigt hatte, während Schneidermann, er irrte sich nie,

ich ließ sie alles über Schneidermanns Zahn und Schneidermanns Ohr in ihren Bericht aufnehmen,

ging nach Hause, heutzutage, wo die Situation mit der Ehefrau ist, wie sie ist, also in mein Hotel, das war am Donnerstag, glaube ich, oder am Freitag, jedenfalls am Tag darauf gegen 15.00, nein, es war 16.00, setzte mich auf die durchhängenden Lederriemen der Kofferablage und dachte nach, versuchte mich an alles zu erinnern, was mir unten auf der vernebelten Polizeiwache entgangen sein mochte:

an Schneidermanns Hosentaschen und die Löcher in Schneidermanns Hosentaschen, deretwegen ich ihn immer aufgezogen hatte.

An das, was Schneidermann durch die Löcher in den Hosentaschen fiel. An die Finder dessen, was Schneidermann durch die Löcher in den Hosentaschen gefallen war. An die Geliebten der Finder dessen, was Schneidermann durch die Löcher in den Hosentaschen gefallen war:

beispielsweise ein colaverätzter Zahn,

eine burgundergrottige Clipkrawatte mit blauen Firmenstreifen, einen Ohrschnecken-Ohrclip,

ein Postkartendruck von Man Rays Le Violon d’Ingres von 1924,

die ausgeschnittene Kontaktanzeige eines Transvestiten/Transsexuellen namens Ingres (erotische Rollenspiele, keine Tabus),

eine Scherzartikeluhr, stehengeblieben, tot, Gehäuse gesprungen, ohne Sekunden- und Minutenzeiger,

der Rückerstattungsgutschein eines Kasinos über zehn Dollar für eine Busfahrkarte mit dem Greyhound von Port Authority Gate paarundsiebzig nach Atlantic City,

ein Busfahrplan der Pendelbusse mit vollgepissten Gängen von Port Authority über die Schnellstraßen zu den Kasinos in Atlantic City (Glücksspiele, Schneidermann, er sagte das immer, böten die größtmögliche menschliche Annäherung an künstlerisches Schaffen, sagte Schneidermann, der liebend gern Geld verspielte, das ihm nicht gehörte),

ich habe jetzt übrigens alle seine Listen in meinen Hosentaschen,

irgendwo,

hier,

WASGEWICHTWIE
Tomatenzwei_____ 0,99
KäsePackung_____ 1,75
BrotLaib (ein Tag alt)_____ 0,99
ZigarettenPäckchen_____ zu viel
markenlose Colazwei Liter_____ 0,79
Whiskeygenug_____ vergiss es
Papier500 Blatt_____ 7,99
Tinte57 ml_____ 6,99
Pornografie110 Seiten_____ 5,99

einen Einkaufszettel für eine Woche – hab vergessen, bei der Polizei auszusagen, dass Schneidermann, er buchstabierte seinen Namen in privaten Autogrammen, in Autogrammen, mit denen er bei mir oft sein Mittagessen bezahlte, da buchstabierte er Schneidermann in den meisten Fällen

$chneidermann, d. h. er ersetzte das S durch ein Dollarzeichen (wozu Schneidermann übrigens immer Thaler sagte, nach der ältesten Münzprägeanstalt des Westens in Joachimsthal, wo),

NEW YORKNY –––––––––– 12:00 a.m.
ATL CITY CAS NJ–––––––––– 02.31 a.m.
NEW YORKNY –––––––––– 01:00 a.m.
ATL CITY CAS NJ–––––––––– 03.31 a.m.
NEW YORKNY –––––––––– 02:00 a.m.
ATL CITY CAS NJ–––––––––– 04.31 a.m.
NEW YORKNY –––––––––– 03:00 a.m.
ATL CITY CAS NJ–––––––––– 05.31 a.m.
NEW YORKNY –––––––––– 04:00 a.m.
ATL CITY CAS NJ–––––––––– 06.31 a.m.
NEW YORKNY –––––––––– 05:00 a.m.
ATL CITY CAS NJ–––––––––– 07.31 a.m.
NEW YORKNY –––––––––– 06:00 a.m. und so weiter und so fort

oder,

und,

wie eine Scherbe, das zerschlagene Scheibchen einer alten Langspielplatte (irgendein Sänger and the Imperials schlitzten das Innenfutter einer Hosentasche auf),

Johnny Walker and the Imperials,

Lil’ Jimmy and the Beamers schlitzten das Innenfutter der Taschen seiner ziemlich groß aussehenden Jacke auf, die Schneidermann im an sein Gebäude angrenzenden Müllcontainergässchen gefunden und erlöst hatte, ohne sie aber zu waschen, eine Jacke, in der er, um genau zu sein, fünf Taschen hatte, und in einer davon steckte eine aus einer landesweit verkauften – und aus meiner Toilette im Grand gemopsten – Zeitschrift ausgeschnittene Liste, die die Namen und die Minderjährigkeit von achtundsechzig bekannten und nachgewiesenen Suiziden auflistete,

achtundsechzig Teenager, die das Leben eines Rockstars bis zum bitteren Ende nachgeahmt hatten: ein Schuss mit der Schrotflinte in die Schläfe nach einer dreifach tödlichen Dosis extrem reinen Heroins, und manche Leute versuchen immer noch nachzuweisen, dass es Mord war, und vielleicht war es das auch, aber wenn, spielt das überhaupt eine Rolle?, denn der anfängliche Grund – das erklärte Schneidermann mir immer wieder, darauf beharrte Schneidermann –, denn die anfängliche Ursache, sagte Schneidermann immer und tippte sich mit der ergrauten Zungen- an die Nasenspitze, ist weniger wichtig, hat nicht die praktische Bedeutung der dadurch ausgelösten Wirkung,

denn Gott ist nicht so wichtig wie dein Mitmensch, und – um der skelettartigen Idee ein bisschen Fleisch auf die Knochen zu schippen – die Geschichte ist nicht so wichtig wie die Gegenwart, die sie zerstört:

denn der I. Satz dieses vergangenen 20. Jahrhunderts ist so wenig anzuhören wie zu spielen, der I. Satz dieses vergangenen 20. Jahrhunderts sollte von seinem Komponisten nicht mal eine eigene Opuszahl erhalten, und wir alle wissen ja nur zu gut, wer der Komponist ist, dieser Artifex, dieser Pseudokünstler, dessen Potenzial oder Impotenz, dessen Talent oder Talentmangel, je nachdem auf welcher Seite man sich positioniert, bei den Achsenmächten oder den Alliierten, in der riesigen, technisch grauenerregenden oder einfach nur grauenhaft unpassenden Kadenz der Geschichte in der Jahrhundertmitte gipfelte,

einer improvisierten Geschichte, einer angepassten Aufzeichnung, die mich beinahe, aber nicht ganz gegen jegliche Romantik einnahm, meine geliebte Romantik – denn das müssen Sie verstehen: Wenn die Welt romantisch ist, ist die Kunst klassisch und umgekehrt, und Romantik und Kunst halten sich selbst jeweils für das Gegenteil, lesen Sie Ihren Nietzsche mit Sonnenbrillen, die für Sie nicht verschreibungspflichtig waren, wohl aber für Schneidermann:

der, obwohl er eine Brille dringend gebraucht hätte, Schneidermann, er besaß nie eine und trug auch keine, bis auf einmal die verspiegelte Panoramabrille, die er verschmäht hatte, und in den letzten ein oder zwei Jahren trug er bei den Matineefilmen eine Vergrößerungsbrille aus dem Drugstore,

Schneidermann, er hatte ein brillantes Gedächtnis, weil sein Sehvermögen so schauderhaft war, Schneidermann, er erinnerte sich an alle Vorläufer oder behauptete das jedenfalls, die Vorboten, und sah doch nichts kommen, blind für das Schwarzweiß,

und taub, kaum zu fassen, aber selektiv taub, was wir Musiker schon allein wegen der Trommelwirbel sein müssen,

dem Marsch ins Märchen,

nichtsahnend oder wie vor den Kopf geschlagen, glaube ich, von all diesen dürftigen und depperten Orchestrierungen, Zwischenspielen, Intermezzi und Ouvertüren der Weltgeschichte im improvisierten Stil:

ein einziger Egoist, der sein Solo auf dem Instrument der Menschheit spielte

oder drauflossägte? wie ein Zauberkünstler?

ein Solist, der alle Aufmerksamkeit an sich riss, sich weit über die anderen stellte, im Stil einer Improvisation mit uns allen spielte und nicht nur das: er improvisierte wirklich,

erfand,

spielte aus dem Stegreif und mit allen Wendungen: Zusammentreiben, Deportation, Selektion, Invasion, Okkupation, Massenmord und so weiter und so fort weit nach Polen hinein,

ein Mann, der von der eigenen Bedeutung erfüllt war, eine kleine Ewigkeit lang mit unausstehlicher Verve die Weltgeschichte improvisierte, mit einem unglaublichen, beneidenswerten technischen Apparat, Virtuosität bis zum Überdruss, ein solcher Überfluss an Brillanz, dass das Verhängnis seinen Lauf nahm – denn haben Sie nicht das Gefühl, nicht Sie, antworten Sie nicht, dass manche Epochen, manche Zeitalter spontan zusammengeschustert werden? extemporiert und man wird nur noch benutzt, gekrümmt, verbogen? wir, ich und Schneidermann, waren hohe Noten in Hitlers Improvisationen,

in der Geschichtskadenz eines Europäers, in dessen weltweitem Konzert die verwegenen oberen Spektren der obersten Tessitur – obwohl Schneidermann, er ist in den Lagern gewesen, ist durch alle Lager gekommen, Lager für Lager für Lager für Lager, und ich, ich bin durch Amsterdam und London gekommen, habe letztlich nichts durchgemacht,

während Schneidermann in neuneinhalb Höllen hinabfuhr, begleitet nicht von Zugtrompeten oder Ventilposaunen (b-Moll), sondern nur von seiner blechern klingenden Damalsfrau und ihren Damalstöchtern; fuhr ich nur mit meinem sterbenden Vater – der nicht mal mein Vater hätte sein sollen – in diese Welt hinab, die wir Amerika nennen, ja, in den 1950ern landete ich im Fegefeuer mit all seinen Annehmlichkeiten, während Schneidermann die totale europäische Bildung zu spüren bekam; ich sammelte und speicherte nur, was ich konnte, während mein Vater, er,

seit ich drei war, brachte mein Vater und nicht mein Schneidermann mich von der Stunde nach Hause zur nächsten Stunde und nach Hause zur nächsten Stunde und nach Hause, und seit ich sieben war, seit meinem halb- oder viertelöffentlichen Konzertdebüt in Budapest, wo ich im Kasino der Leopoldstadt für meinen musikalischen Vetter Ziggi einsprang und dafür eine Gage von zehn Goldstücken zu je zehn Kronen bekam (fünf gingen an Ziggi),

wurde ich von zu Hause zur Stunde zum Konzert nach Hause zur nächsten Stunde und zum nächsten Konzert und nach Hause und wieder zur Stunde und zum Konzert geschleppt und fand daher nie die Zeit – nicht einmal während der Reisen, nicht einmal während meiner späteren Wanderjahre als Virtuose, neben all meinem sexuellen Messianismus, den obligatorischen Besichtigungen, Audienzen und Interviews – für ein ernsthaftes, wohlüberlegtes und stilles Studium der Vergangenheit, um die Zukunft kennenzulernen, für ein wahres Lernen, das nicht nur mit vier Saiten und einem Bogen zu tun hatte (Chaucer habe ich beispielsweise erst mit siebenundfünfzig gelesen, in scheckigen Imbissen im Mittleren Westen, Celans Gedichte, die Schneidermann mir empfohlen hatte, habe ich erst mit sechzig entdeckt, in einem Taschenbuch mit Übersetzungen in einem Buchsupermarkt in Midtown für 17,95 Dollar),

keine Zeit für echte humanistische Bildung, so dass ich eigene Humanität hätte ausbilden können, und darum verdanke ich alles, was ich weiß, den Erfahrungen Schneidermanns, der als Komponist gezwungen war, sich die Musik wie das Leben mühsam anzueignen,

der sich Musik und Leben mühsam aneignen musste, um zu überleben,

der von Polen angeeignet wurde, während ich mich nach Amerika einschiffte,

und alles, was ich weiß, ist auf die Schnelle erworbenes Hörensagen:

Klatsch & Tratsch, Aufgeschnapptes aus x-ter Hand, Lügen & Prophezeiungen, Kondolenzen, Konfessionen & Komplimente,

meine Menschenkenntnis lässt sich auf die Kenntnis schmutziger Witze, dreier Rezepte und des Totengebets eindampfen, mein Hebräisch ist das Jiddisch eines reformierten Idioten, und auch wenn ich etwas von der Welt gesehen habe,

aus Polen fast bis zu den Polen gereist bin und von Warschau bis ins texanische Warsaw an der Route 148,

weiß ich nichts; und auch wenn ich vielerorts für eine Inkarnation gehalten werde, einen Mandarin der Mandarine, bin ich nur ein Mann, der gelebt hat, der ein leichtes Leben hatte, der (nichts) überlebt hat,

und der leicht überlebt hat (denn da war ja nichts),

der sein Ohr und sein Hirn aufgesperrt hat

und auch den Mund nach poulet frites in Paris, ich habe in Berlin Kaffee getrunken, in Prag guláš gegessen und in Moskau БОРЩ (jahrelang waren Speisekarten meine einzige Lektüre),

ja, ich habe Mund und Ohr für unbeholfenes Hebräisch aufgesperrt, unflätiges Jiddisch, förmliches Deutsch, musikalisches Französisch und Italienisch, ich verfüge über das ungrammatische Ungarisch eines Zehnjährigen, denn mein Gedächtnis,

vereinzelte Brocken Tschechisch / Slowakisch / Polnisch / Panslawisch dank Russischschnipseln, egal, diese Sprache und meine wahre Muttersprache, die Musik – Musik als die wahre lingua franca der Welt, während mein Latein wie ARS GRATIA ARTIS bestenfalls auf naheliegenden Vermutungen beruht, mein Griechisch so schändlich ist wie meine Kenntnis Shakespeares, den ich erst mit dreißig im Original gelesen habe (als ich mit einer Schauspielerin schlief, die Cordelia im Park vermurkste, wo,

aber ich konnte nicht

mein Herz auf meine Lippen heben), so dass Schneidermann beispielsweise Hesiod für mich übersetzen musste, der lehrt, dass Orpheus, er war der Sohn einer Muse:

Für mich war ihr Name einst Eva und heute Abend María und Frieda und Jadwiga, Akira und Naomi und,

Orpheus und ich, liederliche »Väter der Lieder«,

um Pindar zu glossieren, aber von dem wollen Sie wohl nichts wissen, von Pindar, dem dauernden Revisionisten dauerhafter Mythen, sondern lieber von meinen Frauen, den Kreischerinnen da draußen im Publikum, die mit meinem Mythos warm wurden, aber statt ihn zu erneuern, zu revidieren oder zu revisionieren, waren sie einfach seine Mitläuferinnen und zwar auf Stöckelschuhen durch die Citys, gaben ihm einfach neues Leben und Einfluss, dabei kennen Sie sie erst, wenn Sie mich missverstehen:

dass dieses Konzert und seine wahre Kadenz sich weniger um die Kunst als um mich drehen, darum geht es weniger als um mich, was letztlich vielleicht die sogenannte Charakterschwäche der Musik, ihrer Aufführung und ihres Solisten ist, die sogenannte klassische »Charakterschwäche« (griechisch hamartia laut Aristoteles laut Schneidermann, in der Thora wird sie als Sünde übersetzt) in aller Musik, die ich spiele, dass ich wichtiger bin als Sie (mein Gott, das ist ja so romantisch!) – glauben Sie, ich zahle, um mir zuzuhören? glauben Sie, ich spiele für Sie und nicht für mich? glauben Sie, bei dieser Kadenz, dieser falschen Kadenz, ginge es darum, mich reinzuwaschen? darum, etwas an Sie weiterzureichen? um ein Vermächtnis?

diese Kadenz ist in eine größere Kadenz eingeschachtelt und diese wiederum in eine noch größere und so weiter (Schneidermann, er liebte die Gnostiker), und auch der ungeliebte Schneidermann ist nur ein Schnörkel – trotzdem würden Sie mich noch kennen,

würden noch abgetrennt von meinem Stiel meinen Kopf kennen, der beinamenduftend in der Mitte treibt und immer noch singt,

würden noch meine Stimme erkennen, wenn Sie bloß zuhören würden, aber stattdessen reden Sie, schimpfen, tratschen, planen Zukünfte und Glück (wo gehen wir zum Dessert hin, wen heiraten wir),

geben Geschwätz von sich in seinen ungeahntesten, vielleicht aber auch seinen geahntesten Formen: Weitschwatz, Nahschwatz, Nasenschwatz, Beiseite- oder Side-Schwatz (Upper-Eastside-Schwatz, Upper-Westside-Schwatz),

Kleinschwatz, Großschwatz, Dasschwatz, Diesschwatz,

Überschwatz, Unterschwatz

nter Schwatz, xSchwatz,

Schwatzen bis zur Apokalypse, eine Lippenmeute, ein Massenkiebitzen, Lärmumlaufbahnen um meinen Kopfplaneten:

Sie diskutieren ständig gewichtige Angelegenheiten (glauben Sie)!

machen Geschäfte von Schöpfungsausmaßen, Gaunereien von biblischer Größe (hoffen Sie)!

lassen berühmte Namen fallen, heben sie wieder auf, stauben sie ab, schicken sie dem Absender zurück, Einladungen zum Abendessen werden von einem Nieser oder einem Husten übertönt, Verlobungen werden gefeiert, gelöst und wieder bekannt gegeben, wie in Weltreichen werden Ränke gesponnen und so lässig wie möglich wieder aufgespleißt, nicht wahr, Mr. Rothstein?

Ihre Frau sortiert wie alle Ehefrauen die Onyx-Innereien Ihrer Handtasche, und Sie,

falls Sie nicht alle längst beim Empfang trinken, aber langsam, ritardando:

Sie erhalten schon noch Ihre Chance zur Gegenrede, zum Überkreuzverhör, wenn ich durch und tot bin.

Weil ich Schneidermann kannte. Weil ich Schneidermanns Schüler war. Weil ich mit Schneidermann gelebt habe. Weil ich ohne Schneidermann gelebt habe. Weil ich seine Pflanzen gegossen habe, wenn er Konzerte gab. Weil ich seine Sprossen gegossen habe (die Töchter, tot in Birkenau), wenn er Konzerte gab und Vorträge hielt.

Mit wem reden Sie da, Chief? Ihr Megafon braucht kein Mensch!

Nein, seien Sie doch vernünftig! Weil ich seine Frau gegossen habe (tot in Birkenau) und seine Töchter (tot in Birkenau), wenn er Konzerte gab, Vorträge hielt, unterrichtete und, nein!

Ich werde nicht von meinem Berg herabkommen, bevor ich meine Tafeln erhalten habe! Und weil ich seine Frau und seine Töchter gegossen habe und manchmal alle zusammen, wie ich zugeben muss,

und gleichzeitig war Schneidermann fort und gab Konzerte, hielt Vorträge, unterrichtete und dirigierte: so praktizierte ich, was die junge Russin, mit der ich seit einiger Zeit Umgang pflege

(ein Ausnahmetalent, feurig, technisch unausgereift, ungeschliffen, heiß und wild, Körper knabenhaft oben und gewölbt unten, Schenkel aus dem 19. Jahrhundert, das rote Haar mit eingefärbten dunklen Strähnen, aber sie ist atemberaubend, wenn die Trägerchen ihres altmodischen Konzertkleids in einer schnellen Passage herabgleiten und ihre schweißfeuchten Nippel entblößen), was diese junge Emigrantin, die ich bei unseren wöchentlichen Privatsitzungen ebenfalls gieße, mein Praktizisieren nennt,

ja, ich habe meine Medikamente genommen, meine Pillen, ja, ich habe daran gedacht, und nein, die Diagnose hat absolut nichts damit zu tun! Da hab ich mir aber Besseres von Ihnen versprochen, Doc Alan! Kommen Sie!

und der Rest von Ihnen kann ruhig weiter am Kalb herumschmelzen, jetzt, wo ich so durcheinander bin, wie meine Medikamente es nicht waren, wo war ich stehengeblieben?

es geht darum, dass ich wusste, dass ich Schneidermann nie verstehen würde, aber gleichzeitig und genauso gut wusste, dass man Schneidermann nur dann verstand, wenn man ihn nicht verstand.

Enigma. Freundschaft. Schuld waren drei Wörter, die Schneidermann in einen Spiralblock gekritzelt hatte, als er am 2. April 1954 ein Wörterbuch las, weil Schneidermann, er wollte die Sprache lernen.

Emigrant. SIEHE Immigrant. Erster Mai 5714.

Zugegeben, ich sollte Schneidermann nie zur Gänze kennenlernen, aber ich erkannte, dass ein partielles Nichtkennen Schneidermanns an sich ein absolutes, totales und umfassendes Kennen Schneidermanns war, und das wollte ich Ihnen erklären (nicht ganz einfach),

denn seine Meinung wurde bald darauf meine, sollte bald darauf meine werden, bewusst oder eher nicht: wenn er beispielsweise Hochachtung vor Soundso hatte (seinen Klang mochte, seinen Anschlag, seine ganze Einstellung zur Musik),

dann hatte auch ich Hochachtung vor Soundso, auch wenn ich ihn zuvor anders eingeschätzt hatte, und wenn ich Hochachtung vor Soundso hatte (meinetwegen seiner Interpretation meiner Interpretation wegen),

dann hielt Schneidermann auf der Stelle nichts mehr von Soundso, ungeachtet meiner Proteste, die in der Regel nur eine meinen ursprünglichen Absichten diametral entgegengesetzte Wirkung hatten (wenn ich ihn etwa zu Soundsos Solosonate umstimmen wollte, für die der mein Vorbild gefleddert hatte),

und ich Schneidermann nur einladen wollte, ihm die Möglichkeit einräumen wollte, Soundso, den armen, armen, armen Soundso,

ich zum Beispiel revidierte meine Meinung oft grundlegend, um Schneidermanns zu revidieren, dabei merkte er das natürlich und verhielt sich genauso oder passte seine entsprechend an,

damit ich oder er selbst einen Rückzieher machen konnte, einen x-beliebigen Sowieso niedriger einschätzen konnte als am Anfang, ihn gering achten oder sogar verachten konnte bis zu dem ganz offenkundig naheliegenden Punkt, an dem Schneidermann Soundsos absolute Bedeutungslosigkeit plötzlich als reine – vorsätzliche – Genialität betrachten konnte, ungeachtet oder unbeschadet etwaiger früherer Einschätzungen, die nur gegolten hatten, um irgendwann geduldig gekippt werden zu können,

ins diametral Entgegengesetzte, absolute Gegenteil umgewandelt werden zu können – aber so ist die Kunst, wie, sagen wir, in meinem Fall,

im Fall meiner Kindheit, weniger eine richtige Kindheit als eine Wunderkindheit, die nur durch Verheißungen eines anhaltenderen, höheren Ruhms zu retten war:

etwa so: Hier, Junge, spiel die Geige hier, und vielleicht wirst du es im Leben dann zu irgendwas bringen, aus dem Ghetto rauskommen und draußen bleiben, übe Klavier, und vielleicht machst du am Ende ja was aus dir, du weißt schon, verdienst all die Anerkennung und erntest die Zustimmung, die einer überambitionierten Jugend gebührt, die nur zur Reife gelangt, wenn du lange genug lebst, aus ihr herauswachsen kannst, zu Beschämung und Bedauern vordringst, und dann, weißt du, erst dann wirst du es erkennen,

als ich mich ihm beispielsweise vorstellte, Schneidermann, noch in Budapest am Konservatorium, als ich da zum ersten Mal und ohne Anklopfen sein spartanisches Atelier betrat und meine Geige aus ihrem Sargkoffer nahm, als ich da zum ersten Mal und ohne irgendeine Einleitung, die, wie mir schon damals klar war, bei einem Genie wie Schneidermann auch völlig überflüssig gewesen wäre, meine Geige auf die vier Töne stimmte, die ich immer im Kopf hatte, G, D, A und E, und ihm ein damals populäres Wunderkind-/Virtuosenstück vorspielte, das so viele Obertöne hatte, dass es fast schon Papst Gregors Nachtigallen unter Helium nachahmte,

das ich wahrscheinlich nicht und schon gar nicht für ihn, Schneidermann, hätte spielen sollen, und dann auch noch bei meinem ersten und einzigen Vorspielen, aber ich hab’s halt gemacht, wenn auch nur auf Anraten meines – falschen, wahren – Vaters,

begleitet nur vom Basso ostinato meines Ehrgeizes.

Ich war jung. Mehr wusste ich nicht.

Schneidermann zu mir: Du bist wertlos, nur so ein Ghettoanwärter mit Technik und verbissenen Eltern (ich übersetze halb aus dem Deutschen und halb aus dem Jiddischen, in das Schneidermann versehentlich ausrutschte).

Schneidermann zu mir: Deine Technik ist unglaublich, und ebenbürtig ist ihr nur die Tiefe des Ausdrucks, die in deinem Alter kaum je anzutreffen ist. In kaum einem Alter. Jemals.

Schneidermann zu mir: Gib die Geige auf und ergreif einen anständigen Beruf.

Schneidermann zu mir: Du bist der größte Geiger, den ich seit Szigeti gehört habe,

da können Sie Ihren Lieblingsvirtuosen einfügen,

Schneidermann zu mir: das größte Potenzial, das mir je untergekommen ist, das Größte, was ich je gehört habe, schon geschliffen, vollendet, bereit zu Walhalla-Ruhm, und Sie können mir glauben, dass diese Meinungen (die einzige Meinung) meine Lebensrettung wurden,

Sie können mir glauben, dass diese Meinungen mein Tod waren,

diese täglich und stündlich geäußerten Meinungen, nach Takten bearbeitet, nach Noten bearbeitet, nach dem Bogenstrich, diese Meinungen wurden in vollkommener Umkehrung einer Meinung hinzugefügt oder von ihr abgezogen, in einer Harmonie absoluter Gegenteile, nur durch ein Zupfen an einem Ohr mit langem Läppchen,

ein Zupfen an einem beliebigen ananasläppigen Ohr,

einem beliebigen Ohr und selbst einem von mir, während Schneidermann, er begleitete mich auf einem todesröchelnden Flügel, spielte mit Münze auf dem Handgelenk, wie um mich nachzuäffen, und dann spielte ich mit Buch unterm Arm in einen Spiegel, damit meine musikalischen Schwächen (denn ich hatte deutlich weniger technische Schwächen, aber egal), alle meine musikalischen Schwächen und deren hatte ich viele in jenen Tagen, aber egal, ihre Million konnte sich widerspiegeln und in nacktem, schonungslosem Wohlwollen widerhallen, durch Haltungsmängel und unbeholfene Ellenbogenwinkel, zu locker oder zu verspannt, notgeil-pubertär-verspannt, in zu mechanischem moto perpetuo, zu expressionistisch, gefühlsbetont, von der Verführung verführt, unbeleckt von oder allzu beschäftigt mit der Phrase als kleinstem Gebilde musikalischen Denkens, Phrasenabhängigkeit, unfähig, in einem Kontext zu interpretieren, der außerhalb meines sturen Ehrgeizes lag, unfähig, mich auf jegliche Einfälle zu verlassen, die mir nicht mein eigenes Ego nahegelegt hatte, und obwohl ich sicher bin, dass ich großartig klang, schon damals auf EUROPÄISCHEM, also INTERNATIONALEM Niveau, schon vollkommen für den Rest der Welt, war Schneidermann der Einzige, der wusste, der lauschte, der hörte – schließlich begriff ich, dass er der Einzige war, der das je tun würde, der das überhaupt konnte bei unseren dreimal wöchentlich stattfindenden Privatstunden in dem düster-spartanischen Atelier im verrottenden Konservatorium der verfallenden Hauptstadt eines toten Landes in der mittelosen Mitte der europäischen Leere.

Da ich ein Frühaufsteher war,

war ich immer Schneidermanns Liebling,

im Konservatorium hatte ich keine Freunde,

Musik war mein Leben.

Aber der Tod meines Potenzials als Mensch. Als humanem Wesen.

Frieda traf ich immer im grünsten Park, mein Zeit-management hatte für mich immer größte Bedeutung. Ich hatte immer ein Gabelbein in der Tasche, Mozarts Musik verursacht bekanntlich keinen Durchfall, wie mein Vermieter mir einmal erklärte, als er die Rohrleitungen erneuern ließ, derweil Frieda, sie war schon durchnässt, wartete und spannte mich ein, ihr bei der Suche nach ihrem Regenschirm zu helfen.

Da ich jeden Morgen früh aufwachte, jedenfalls vor Ziggi,

übte ich,

fuhr am Nachmittag zur Stunde bei Schneidermann ins Konservatorium,

dann zum Üben ins Zimmer zurück,

dann zu Schneidermanns Haus zur Fortsetzung des Unterrichts.

Leben.

Schneidermann zu mir: Es wäre mir eine Ehre, dich zu unterrichten.

Schneidermann zu mir: Lieber lass ich mir eine Geigensaite um den Penis binden und das andere Ende an die Türklinke des Ateliers, und dann bitte ich dich höflich, zu gehen und die Tür hinter dir zuzuknallen.

Lieber lass ich mir eine Geigensaite um den Penis binden

und das andere Ende an den Kronleuchter an der Decke,

stell mich auf den Flügel aus Eis

und warte darauf, dass der Sommer mir das Geschlecht abreißt.

Schneidermann zu mir: Hast du den Direktor gefragt, ob du mein Schüler werden kannst?

Schneidermann zu mir: Die Akademie, sie hat mir seit einem Monat kein Gehalt gezahlt.

Schneidermann, er war mein erster Lehrer. Schneidermann, er war mein einziger Lehrer. Schneidermann, sein erster Lehrer hieß ebenfalls Schneidermann, zufälligerweise sein Vater, ein bis zu seinem Tode unbekannter Pianist und danach erst recht, und Schneidermann der Jüngere wurde von der Kompositionslehre und den neun Schwestern seines Vaters adoptiert, den neun – kümmerlichen, bürgerlichen – musikalischen Tanten, die ihn ab dem fünften Lebensjahr aufzogen,

ab dem siebten Lebensjahr,

ab dem zehnten,

dem zwölften,

auch Musen und, ja,

ja, ich unterstelle Inzest nicht von Krafft-Ebings idealisierter Art, sondern schmutzige, schmutzige, schmutzige Ursprünge dieses Mystagogen (eines seiner Lieblingswörter, Schneidermann, er verbrachte viel Zeit über dem M im Webster’s: Matrizid, Millionär, Moderne),

dieser kunstvolle Mann, dessen Kunst nie versiegte,

dieser synoptische Mann und seine synoptische Kunstreligion: eine Art Gesamtkunstwerk des Lebens mit großem deutschem L angesichts aller Widerstände, versuchtem Genozid, Armut, die ganze heimatlos-Nummer – wie bist du heute Abend denn drauf, Fremdzüngiger?

In der Zeit, als ich heran- und aus dem Jiddischen herauswuchs und lernen musste, grammatikkonformes Ungarisch zu sprechen, meine Ausdrucksweise, mein Verständnis und meine Formulierungskunst im Ungarischen zu vervollkommnen (was nie gelang), ich halte ja Ungarisch für die schwierigste aller Sprachen außerhalb von Afrika, Fernost und der Musik sowie abgesehen von der Sprache der Frauen meiner neuen Heimatstadt oder den Heimatstädten Buda und Pest (alle Männer, die ich kennenlernte, sprachen Deutsch mit mir, da ich Ausländer, Musiker und Genie war),

aber die Frauen, o die Frauen! die akzeptierten entweder die Anträge, Andeutungen und Anspielungen oder beanstandeten die Vorstöße, die Stimmung und das Grabschen, und all das auf Ungarisch, und erst nach meinem ersten Studienjahr am Budapester Konservatorium verfügte ich über ein ausreichend nuanciertes Ungarisch, um die Zwischentöne dieser dunkeläugigen, dunkelhaarigen, mondhäutigen Frauen zu verstehen, die eigentlich noch Mädchen waren und entweder einfach Ja sagten (IGEN),

einfach Nein sagten (NEM),

oder aber Ja sagten und Nein meinten (was nur für Frustration sorgte: erst aufgeilen, dann abseilen),

oder ob ihr Nein letztlich ein Ja meinte,

ein Bitte (KÉREM)

oder aber ein Bitte-mach-es-mir-jetzt-gegen-dieses-schmiedeeiserne-Geländer,

allem Anschein der humanistischen Hemisphäre zum Trotz, in der wir leben, möchte ich das behaupten – und dann brachte ich sie in ihre Unterkünfte zurück oder in einen leeren, klavierlosen Übungsraum der Musikakademie und besorgte es ihnen, besorgte es ihnen nach Strich und Faden, wie sie es damals nur zuließen, durchstach ihre Menses mit der langsamen Larghetto-Regelmäßigkeit eines Metronoms, und sie stöhnten in Es, ob nun Dur oder Moll, eine bloße Tatsache, auf mein Zimmer konnte ich sie nun mal nicht mitnehmen, denn das teilte ich mir mit einem Cousin

(Juden haben ganz wie Afroamerikaner überall Cousins, ist mir aufgefallen), ein entfernter, fast schon shvartzer Cousin, den wir alle Ziggi nannten als Koseform von Zigeuner, der auch gern wie einer gespielt hätte, aber völlig hoffnungslos war, nur wie Nero vor den Aschen des Holocaust fiedelte, den er wahrscheinlich begrüßte, weil er ihn zumindest insgeheim erleichterte,

denn Ziggi übte vergebens den ganzen Tag lang Geige, wurde aber nur von weiteren Schwächen belohnt und hatte immer mehr Schulden beim Leben, das wir in unserem nicht einmal spartanischen Zimmer in der Pension eines korpulenten schwäbischen Zahnarzts verbrachten, der ebenfalls als Musiker dilettierte und bei dem ich eigentlich debütierte, mit Schubert auf einer Pappscheibe, ein Mann namens Schoeller oder Schnoeller, genau weiß ich’s nicht mehr, mit buschigem Schnurrbart, und zwischen den beiden, zwischen Ziggi und dem Schwaben konnte ich alle Hoffnungen begraben, je eine willige Frau oder ein Mädchen nach Hause mitzubringen, aber ich weiß noch, dass Ziggi,

der von der Asexualität weit entfernt war, so weit wie zu Fuß von Minsk nach Pinsk oder von Omsk nach Tomsk, wie Schneidermann immer sagte, einfach unbefriedigt, ja:

Ziggi studierte immer diverse Bilder, Illustrationen und Fotografien, von Brüsten, von Mammae verschiedenster Form und Größe, variabelster Varietäten, um’s mal so zu sagen, wahrscheinlich um sich ein Bild davon zu machen, was ihm ästhetisch gefiel und wonach er im richtigen Leben trachtete, Ziggi hortete diese Bilder, bezog sie über einen Antiquar sowie – seltsamerweise – über eine nach außen ganz respektable Tierhandlung, gab dafür sein ganzes Geld aus, so dass seine Eltern ihm monatlich immer mehr schicken oder wie Marionetten drahten mussten, wobei Ziggi ihnen schwor, das ginge alles für Partituren und für Geigensaiten drauf, von denen ihm durch all die Emotionen, Frustrationen und die aufgestauten Aggressionen, die beim Üben kein Ventil fanden, im Lauf eines Monats so viele rissen,

neun Monate lang hausten wir zusammen unter dem Dach des Schwaben, auf dem Speicher, in einer Mansarde, muss ich zugeben, zwei schmale Betten an gegenüberliegenden Wänden der Kammer, seines allerdings unter dem Fenster, weil er zwar als Zweiter einzog, ich aber immer rücksichtsvoll war, mich zurücknahm oder Mitleid mit seinem – angesichts unserer Verwandtschaft – skandalösen Talentmangel hatte, aber das hielt ihn nicht von seinem gesunden Schlaf ab,

vielleicht förderte es den sogar, aber ich jedenfalls nie,

ich meine, mir half das nie,

ich konnte noch nie gut schlafen, bin schon immer aufgewacht, wenn es noch dunkel war,

stygisch (Schneidermann, er mochte das Wort),

umbrisch auch, aber Ziggi rührte sich nie im Schlaf, obwohl er auch nicht wie eine Leiche dalag:

er schlief tief und fest, als hätte er nach den fruchtlosen Strapazen des Tages Erholung verdient,

sein Hals schlief (meiner zeigte immer zehnfach manisch verspannte Sehnen),

seine Schultern schliefen, während meine ständig zuckten,

seine Zehen schliefen, während meine schleierlos tanzten, neun verschiedene Mazurken in elf verschiedenen Taktangaben,

während ich so wach wie ruhelos war, und es gab da diese, sagen wir mal, Tradition, meine eigene, die bestand darin, dass ich die Bilder studierte, die Sammlung meines entfernten, dunklen Cousins, die er mir schon bald, nach fünf, sechs Monaten vermachte, besser gesagt vergaß er sie einfach, vergaß seine ganze frühere Fetisch-Manie, und ich stahl ihm einfach das ganze Geheimdepot, als er, als sich Ziggi als Freundin eine schwindsüchtige Christin angeschafft hatte, die eine taubstumme Mutter mitbrachte und mammale Eigenschaften, also die Freundin jetzt, die seinen genauen Spezifikationen entsprachen, wie wir mal hoffen wollen.

Wenn ich sie unter meiner Matratze hervorzog, die Bilder, sie waren Lücken, Leeren oder Löcher in der dunklen Luft, Umrisse der Nichtigkeit – alles andere im Zimmer hatte eine Gestalt, brachte Form mit, Ziggis Kleidung etwa, sein Ziggi-Anzug,

die Ziggi-Gabardine,

die Ziggi-Unterwäsche mit Fleckenspuren von Ziggi

und seine Socken, die über Doktor Schnöllers oder Schöllers darbende Möbel drapiert waren, da ich kein Licht anknipste,

das hätte Ziggi geweckt, und Ziggi hätte gesehen, wie ich seine Bilder anschaute, seine Bilder, meine Bilder,

nicht dass Ziggi das nicht gewusst hätte, er wusste natürlich alles über die Bilder, aber vielleicht wusste er nicht, dass er das wusste, oder gab sich selbst – mir selbst – gegenüber zumindest nicht zu, dass ich sie gestohlen hatte,

denn ich war der Gute, der Vielversprechende, der Verheißungsvolle, der Talentierte, der Begabte, ich, der ich zumindest wusste und mir selbst gegenüber zugab, dass ich gar nicht so genau wissen wollte, was Ziggi dachte oder wusste in Bezug auf mich und anschauen und Bilder,

um in Wahrheit das Bild eines Pubertierenden aufrechtzuerhalten, wollte ich gar nicht so genau wissen, ob sich Ziggi eigentlich etwas dachte hinsichtlich meines Bilderanschauens, wollte ich sagen,

also breitete ich die Bilder auf dem zerwühlten Laken aus,

das mir beim stürmischen Herumwerfen von der Matratze geglitten war und wie ein Wirbel Vanille-Softeis auf dem Boden lag, um ein amerikanisches Bild zu verwenden (Ziggi liebte Eiscreme),

stützte meinen Kopf, das Europa auf meinem Hals, mit einer Hand, und mit der anderen

während in der billigen Gardinen fernem Dämmer langsam die Sonne aufging, emporstieg, nach und nach die Bilder:

die nackten, ungelenk posierenden Leiber, die von Licht erfüllt wurden, derweil die Chintzgardinen transparenter wurden, durchsichtiger (wie meine Absichten),

hell genug für mich, um die Bilder zu wecken (die in jenen Tagen meine einzige Lektüre bildeten, die Genesis meiner sexuellen Obsessionen),

aber nicht hell genug, um Ziggi zu wecken, und erst kurz bevor der Wecker klingelte – ein neues Modell, das seine Eltern ihm geschickt hatten, für ihren Jungen war das Beste gerade gut genug – und ihn zu Duetten mit seiner Freundin weckte, einer mittelprächtigen Pianistin, aber immerhin begabter, als er je werden würde, selbst nachdem die beiden endlich aufgegeben und resigniert einen Musikalienhandel eröffnet hatten, dessen Schulden und die Distanz, die er zwischen ihnen schuf, einer römischen Katholikin und einem Juden, sie umgebracht hätte, hätten die ganzen musikalischen Nazis nicht fürsorglich und vorsorglich interveniert,

und Auschwitz nahm ihnen dann ihre Lasten ab, einen Monat bevor die Umstände wirklich fatal geworden wären.

Ich richtete den Blick immer abwechselnd auf die Bilder und auf ihn und den Wecker neben seinem Kopf, fast schon in der Leere seines Ohrs verkeilt,

und schob die Bilder dann schnell unter die Matratze, tat, als ob ich schliefe, und dann klingelte sein Wecker, lärmte und weckte ihn auf, und Ziggi sprang in einem Satz durchs Zimmer und kontrollierte meinen Schlaf heuchelnden Körper,

dann zog er die Gardinen beiseite, riss die Flügelfenster auf und zündete sich die erste von zwölf Zigaretten des Tages an – das ganze Zimmer füllte sich mit den Jahreszeiten und den Anzügen und Kleidern, die draußen schon unterwegs waren,

aber jetzt gibt es keine Bilder mehr, oder?

keine flachen, statischen Aufnahmen mehr, keine Papierpornos, heute studiert man alles am Bildschirm, und die Hauthefte sind heutzutage spezialisierte Fetische: keine ausklappbaren Faltblätter mehr, fort sind die erotischen Erzählungen, die Schneidermann immer so geliebt und mit denen er angeblich Amerikanisch gelernt hatte – in den Matineefilmen war eine obszöne Ausdrucksweise, die für sein Immigrantenohr gar nicht so tabu war, natürlich nicht gestattet –; stundenlang hatte er in der verwaistesten öffentlichen Bibliothek oben an der St. Nicholas Avenue gesessen, die eine Hand im Webster’s, Macmillan’s oder Oxford’s, in der anderen seinen Riemen, den er durch all die Briefe an die Herausgeberin stieß:

Ich hätte nie gedacht, dass mir das mal passieren würde, aber Schneidermann, hier drüben auf der Uppersten Westside ging er oft nackt an die Tür, eine aus Österreich-Ungarn eingeschleppte Gewohnheit, ein nach Harlem importierter Trend, falls es nicht eine ungeniert aktualisierte Wandervogel-Marotte war, der Schneidermann nachgab, wenn er bei einer Pfadfinderin Gratisminzbonbons zu schnorren versuchte,

aber egal, was es war (reiner Exhibitionismus?), er machte sich damit nicht sonderlich beliebt bei den diversen Missionaren und Pizza-Boten, die ich oft als Botschafter des guten Willens zu ihm schickte, als Entwicklungshilfe oder einfach, na, als Überraschung!

(was von Clausewitz’ oberstes Prinzip aller Kriegsführung war, woran mich Schneidermann nach einem Matineefilm über die Koalitionskriege mal aus heiterem Himmel erinnerte) und die ihre besten Sonntagshandflächen ausstreckten und Trinkgeld erwarteten,

schamlos im Gegensatz zu den Mormonen und Lohnsklaven, ließ er einen im Adamskostüm ein. Und bat einen wahrscheinlich, seine Brust abzuhören. Ihn zu auskultieren.

Denn – dürr wie die Hoffnung, dünn wie ein Klaviersaitensteg, nackt wie die Hoffnung – es war sein unerklirrlicher Glaube, dass er auf unergründliche Weise eine Münze in den falschen Hals bekommen, inhaliert oder verschluckt und in den einen oder anderen Lungenflügel bekommen hätte: An manchen Tagen war es der rechte, an anderen der linke, aber immer eine Münze in einem davon, und darum bat Schneidermann einen oft, zu oft, seine Brust abzuhören, das Ohr an sein Sonnengeflecht zu legen, und man horchte aus nächster Nähe, roch auch seinen Geruch, um der Wahrheit die Ehre zu geben

(und die gebührt ihr: Schneidermann, er ließ sich da nicht reinreden – Deodorants waren für ihn ein Beschiss und Antiperspirantien ein Regierungskomplott, mit dem sich unter anderem Bewegungen und Hormone eines Menschen verfolgen ließen), und er atmete. Und hustete.

Schneidermann zu mir: Hört sich das nach einem Fünf- oder nach einem Zehncentstück an?

Ich konnte das nicht sagen. Es war ein Klirren. Als wäre die Lunge selbst eine Münze, in der eine Münze herumklirrte.

Schneidermann zu mir: Wenn es ein Zehncentstück ist, könnte sich die Mühe lohnen, es hochzuhusten,

und dann setzte er sich – scheinbar noch nackter als zuvor, auch wenn das nicht geht, mit nacktem Po auf dem Hocker – ans Klavier, sein Pianino von BALD, denn das WIN war schon längst abgewetzt, und ich nahm meine Geige aus dem Kasten (meine Fiedel, wie Schneidermann immer sagte),

meine Geige, die schätzungsweise das 198-Millionenfache dessen wert war, was Schneidermann je verdient hatte oder in seinem ganzen, überlangen und doch immer viel zu kurzen Leben verdienen würde, und wir, Schneidermann und ich, wir legten uns ins Geschirr, läufige Genies – das war meine beste Vorstellung, ein Nachmittag in Manhattan, ich und er und seine verschobene Komposition, sein Konzert drängte sich um sein Pianino, aufrecht wie er, ob Sie’s glauben oder nicht, und eine Münze, ein durchbohrter Vierteldollar, ein Fünfcentstück am Fädchen steckte vielleicht in einer Lunge, vielleicht seiner einzigen Lunge und klirr- und klöterte da zu allem herum, was ein ärmliches Mezzoforte überstieg.

Das war fern und weit in der Dschehenna, wie Schneidermann, so nannte er immer die Uptown,

es war ein kleines Klavier, deswegen aber kein Klavierauszug – er hämmerte die Eröffnungstakte seines Konzerts, Schneidermann, er nagelte alles fest: nach dem Einbruch, dem versuchten Diebstahl, nagelte Schneidermann den Klavierhocker fest und das Pianino auch.

O das Orchester! das sich hinter mir langsam aufgelöst hat, sich zu Verabredungen, in den Mondschein, zu Männern, Frauen und Geliebten aufgemacht hat, um im Café nebenan zaghaft am Zentee zu nippen, selbst die Harfenistin, die ich liebe, von der ich träume, die ich aber noch nicht gepflückt habe, sie ist von hinnen und heimgewelkt,

fast alle bis auf den Knirps an der Pauke, der mich anscheinend amüsant findet, oder? Nun, Schneidermann, er hatte die gesamte Holzbläsergruppe im kleinen Finger, schmucklos, in dieser Nation, in diesem Staat unverheiratet wie Glenn Gould, aber Schneidermann, er war der beeindruckendere Pianist (wie Richter auch, und das nicht nur meiner Meinung nach),

war überhaupt beeindruckender bei allem,

und fragen Sie einfach die Holzbläser von den Piccoloflöten bis zu den grölenden Kontrafagotten! nach den Jahren der qualvollen Ausbildung, der Disziplin, der Ablehnungen, des Feinschliffs und des Rohrblattwahnsinns für die Oboen, das Vorstadtgeld, das sie gekauft hat, Sie, die Muße für den Feinschliff, denn hier gibt es außer Schneidermann (und vielleicht mir) keine Genies,

Schneidermann, er kannte da keinerlei Hemmungen, wie konnte man also,

in die Kulissen aufgelöst,

in Taxis, U-Bahnen und fort,

zu Presseerklärungen, Abendnachrichten,

in die Downtown auf der Suche nach edlen Spirituosen, um mich auf der Leinwand zu sehen,

falls hier jemand filmt,

um zu tratschen, wie konnte man also erwarten zu leben? wenn man überhaupt wollte? wenn man hier nicht dranblieb, eisern durchhielt – schwitze zu viel, sprühe Sie voll, ’tschuldigung,

wenn man bloß auf dieser Straße bleibt, weil sich keine malerische Abzweigung ergeben hat,

Kein einladender Umweg?

wie die Straße – wenn man das Straße nennen konnte, eher ein langgezogener Matsch –, auf der ich mit meinem Vater aus der Bukowina kam, aus Czernowitz nach Ungarn und in dessen Hauptstadt Budapest, als Tramper, Wanderer und Matscher zur Musikakademie und zu meiner ersten Stunde bei Schneidermann,

mit der ersten gespielten Note pflanzte ich die Saat für diesen Wind einer Komposition, säte ich in die Luft diesen Schnee eines Konzerts,

vielleicht,

nein, in Wahrheit stapfte und matschte ich zu meiner ersten Stunde, ja, aber zu meiner ersten Stunde bei einem damals berühmten und heute unbekannten Geiger (so war das vor der Möglichkeit des Aufnehmens, vor dem Gedächtnis der Technik),

ein Virtuose, der sich um Schneidermann kaum geschert hätte, wäre da nicht das – überinflationäre – Geld gewesen, das Schneidermann in einem hermetischen, vertrackten Whistspiel, das sie sich ausgedacht hatten, an ihn verlor,

dort untergebracht mit des Virtuosen Neffen (der selbst nie ein Virtuose wurde),

und dann mit meinem entfernten, dunklen Cousin Ziggi (der nie auch nur ein Geiger wurde),

lernte Budapest kennen, meine erste echte Großstadt, und seine Frauen, lernte Pornografie kennen und dann Frauen, die nicht reden, um Nein zu sagen, sondern zuhören,

lieben,

und war nachmittags nur einen Monat lang Schüler des damals berüchtigten und heute absolut vergessenen Geigers, der der einzige, also unwürdige nennenswerte Grund für meinen – falschen – Vater war, uns von der Bukowina nach Budapest und an die Musikakademie zu matschen, in dessen Studio wie Indien, wie ich mir Indien vorstellte, wie Indien dann gar nicht war, als ich da in den Siebzigern wegen eines Benefizkonzerts der UN oder der UNESCO endlich hinkam, wie es aber hätte sein sollen, wenigstens einen Monat lang, für nur dreißig oder einunddreißig Tage, bevor ich die Studios wechselte, was man eigentlich nie macht, aber mit all der Chuzpe der Jugend und ihrem Ehrgeiz wechselte ich zu Schneidermann, dreißig oder einunddreißig Tage, bevor ich mich als Menschen mit meiner Begabung und also meinem Schicksal – zum Missfallen des Direktors, aber mit seiner Einwilligung, weil ich Talent hatte, vielleicht aber auch nur Hartnäckigkeit? oder Sturheit? – ich wechselte also vom Virtuosen zum Musiker, vom Stümper zum Künstler, vom Kind zum Mann, schwor der Musik die Treue vor dem Dreck, hieß die Kunst statt der Scheiße gut, zog Gott der Scheiße vor, am Ende, das noch nicht begonnen hat, entschied ich mich schon in jenem unreifen und haarlosen Alter für erlösenden Scheiß und gegen erlösungslosen Scheiß, am endlosen Ende votierte ich für transzendenten Scheiß und gegen profanen Scheiß, für Sinn und gegen wohlfeile Gesten, für den Scheiß des Sinns und gegen den Scheiß der Gesten, worauf sich damals mein ganzer Wille richtete, eine Geste an die Adresse einer Welt, von der ich bloß träumte und hoffte, sie würde mehr Sinn zu bieten haben, denn dort in dem spartanischen und schonungslosen Studio fand sich unter uns beiden, fand sich unter Schneidermann und mir nur einer, der kein Affe war und mit der eigenen Scheiße um sich warf,

der kein geistig behindertes Kleinkind war, das die eigene Scheiße fraß,

im Kindesalter starb, weil es die eigene Scheiße gefressen hatte und dann als Affe wiedergeboren worden war, als Klammeraffe, der mit der eigenen Scheiße um sich schmiss,

ein scheißegefüllter Lemming, der sich über die Klippe Mittelmaß stürzte – haben Sie das je mitbekommen? – als Strafe für Sünden, zu zahlreich und zu schwerwiegend, um hier dafür um Verzeihung zu bitten (Hybris),

um sie zu büßen (Hochmut),

um sie zu bereuen, nur um neue und immer wieder neue zu begehen, danach sah es damals jedenfalls aus.

Wir spielten eine frühere Version dieses Konzerts, und ich improvisierte eine Kadenz,

in dem raumlosen Raum improvisierte Schneidermann das Klavierkonzert, für dessen Komposition sein Leben nicht kurz genug war,

in dem raumlosen Raum spielten wir seine unvollendeten Sonaten, und ich improvisierte ihre Vollendung,

wir studierten und wir spielten,

wir analysierten und wir spielten,

wir konzertierten und wir spielten,

wir tourten und wir spielten, durch die Zeit, durch die Luft, durch den Rauch:

laut Schneidermann, laut Zwei-bis-drei-Päckchen-am-Tag-Schneidermann, laut Fünf-bis-sechs-Päckchen-am-Tag-Schneidermann, wenn Sie sich für seine Klaviertechnik interessieren, dann kann ich es Ihnen genau so erklären, wie Schneidermann es mir erklärt hat, und das läuft darauf hinaus, dass der wahre Test der Klavierkunst, des Könnens oder was immer Sie haben, darin besteht, gleichzeitig spielen und rauchen zu können, simultan, und mit Spielen meine ich,

mit Spielen meinte Schneidermann, er meinte das Spielen mit beiden Händen (oder mit x-beliebig vielen Händen, über die man gerade verfügt, die einem der Krieg halt gelassen hat), so dass man keine Hand mehr übrig hat, die die Zigarette aus dem Mund nehmen, wieder hineinstecken, abaschen oder ausdrücken könnte, und deshalb muss man weiterspielen, und smoke gets in your eyes, wie der alte Song weiß, und Mr. Fein,

Mr. Feinberg, Mr. Feingold, Ihr Name ist schon wieder perdu, hätten Sie vielleicht noch mal ein Streichholz?

Nein?

Nein.

Fein, ganz wie Sie wollen, Mr. Brandschutzbeauftragter – und die Asche füllt das Studio, verfärbt die überstrapazierten Wände, Asche rieselt auf die Tasten, Asche gerät zwischen die Tasten, verholzt alles, schwärzt das weißeste Hemd à la mode des letzten Wunderkindes, setzt sich in den Rüschen fest, bildet Streifen auf der himmelblauen Samtkrawatte, die Augen tränen, die Tränenkanäle öffnen und schließen sich unwillkürlich, und dein Spiel kennt keine Pause, keine akustischen

(oder, wie Schneidermann oft insistierte, während er es an der Klaviatur meines Flügels demonstrierte oder nicht demonstrierte und dadurch demonstrierte, körperlichen) Folgen für das eigene Spiel, die in der Konzertpraxis Ausdruck fänden, ein Tastaturstil, der zweifellos den Höhepunkt des Klavierjahrhunderts des letzten Jahrhunderts darstellt:

dunkel, fast ominös, aber stoischer als die meisten – das war Schneidermann, so war er bei jedem Konzert, klar, aber auch bei jeder Probe, nein, grundsätzlich immer, wenn er sich ans Klavier setzte, vor das Klavier, immer, ein Kraftakt, der genauso staunenswert war wie seine Umsetzung staunenswert schwieriger Kompositionen, die noch staunenswerter zu seinen eigenen Kompositionen wurden als ich,

der die Funktion hatte, das Ehrenamt ausübte – als wären wir nicht so sehr ernstzunehmende zeitgenössische Musiker als vielmehr eine endlose Weimarer Kabarettnummer aus Anzünden und Ausdrücken –, ihm neue, frische Zigaretten zwischen die stets rissigen und sich schälenden Lippen zu stecken:

vier Päckchen, also achtzig Stück, um Skrjabins letzte Sonate zu spielen, ohne eine Pause zwischen zwei Zigaretten, die nicht durch die Partitur vorgegeben war, oder um mich zu begleiten – aber wer begleitete da wen? –, wenn wir Schostakowitschs Violinsonaten spielten, keine Träne, nichts wurde vergossen,

weder für die Musik noch für den Rauch, und vier Päckchen am Tag, davon können Sie ausgehen, das wird teuer in diesem Amerika, wo Worte nur Schall und Rauch sind, wo Rauch aber sofort besteuert wird, fast prohibitiv kostspielig wird das, und deswegen rauchte Schneidermann in späteren Jahren fast nur noch rumänische, oder waren das bulgarische? mazedonische? albanische? oder allgemeinbalkanische? postkommunistische Zigaretten, die sich Schneidermann von dort, wo immer das nun war, schicken ließ, sich von Kollegen und Exkollegen und Söhnen von Kollegen und Enkelsöhnen von Exkollegen herschicken ließ, und alle bewahrten sie das Andenken des Mannes, den sie oder ihre Eltern oder Großeltern vor dem oder im Krieg als ein Genie gekannt hatten, und obwohl Schneidermann sie stangenweise hortete (nicht darüber hinwegkam, dass die Fabrik sie im amerikanischen Jahrhundert für ihn drehte, und den Tagen der Selbstgedrehten nachtrauerte; ein Probenklavier ruinierte er, indem er losen Tabak in die Zwischenräume der Tasten rieseln ließ),

stangenweise hortete er osteuropäische, nachrömische Zigaretten, viel billiger als das, was man hier bekommt, zumal jetzt, wo die Steuern ein Luxus sind, den sich ein Schneidermann einfach nie leisten wollte oder konnte, selbst die Portokosten eingerechnet, die Schneidermann ihnen aber sowieso nie erstattete, Zigaretten, die immer nur als eine einzelne Stange geschickt wurden, um Zoll zu sparen, den Einfuhrtribut zu umfahren – auf Halde gestapelt wie für die Apokalypse oder zumindest globale Tabakwarenengpässe und gehortet in seinem Zimmer (das immer ein Engpass war, Slim Fit, 5,40 × 5,40 in seiner Wohnung, die Schneidermann immer seine flat nannte),

Schneidermann, er wagte sich weiterhin unweigerlich täglich hinaus zum Eckladen, Kiosk sage ich (Schneidermann, er sagte immer Trafik),

zum Laden an der Ecke, um sich ein frisches, neues, glänzendes Päckchen LUCKYS oder MARLBOROs zu holen, die Teuren, die ihn letztendlich nicht umbringen würden, denn nichts konnte ihn umbringen, letzten Endes, das nie kam,

ein weniger finales Ende – allerdings handelte er sich mit ihnen gravierende maxillofaziale und Nebenhöhlenprobleme ein, gegen Ende, das kein Ende war, Schwierigkeiten mit den oberen Atemwegen (der Halbdollar in der Lunge),

und am Ende, wenn auch nicht seinem,

hatte er das Vergnügen, genauso ernsthafte Pillen einzuwerfen:

gegen das Emphysem, von meinem Arzt verschrieben, PREDNISON, alles auf Rezept für mich – da Schneidermann zu Fehldiagnosen und Fehlselbstdiagnosen neigte, von der Dosierung bis zur Überdosierung und jeden einzelnen gottverfluchten Tag für Tag für Tag kleine grüne Eifersuchtspillen schluckte (meine Ärzte erinnern sich garantiert noch alle daran, wie ich nachts an Schlaflosigkeit litt und sie wegen ausgefallenster Symptome aus dem Bett klingelte),

mittelgroße Antiverstopfungstabletten,

große Pferdetabletten, wie eine Arche im Wasserglas – Schneidermann, er definierte sich liebend gern in der Enzyklopädie der Medizin, dem Merck Manual:

Schneider, C.V. – deutscher Anatom (1614–80), Entdecker der Schneider-Membran,

Schneider, F.C. – deutscher Chemiker (1813–97), Erfinder der Karminessigsäure,

Schneidermembran, auch Membrana Schneideria, die Auskleidung der Kieferhöhle mit dem respiratorischen Epithel, erstmals beschrieben von C.V. Schneider, dem deutschen Anatom des 17. Jahrhunderts,

Symptome ersten Ranges nach Schneider – Symptome, die auf Schizophrenie hindeuten, sofern andere Ursachen wie organische Erkrankungen oder die Einnahme toxischer Substanzen ausgeschlossen sind: Beeinflussungswahn, Gedankenausbreitung, Gedankenentzug, Gedankeneingebung, Gedankenunterbrechung, Wahnwahrnehmungen, Gedankenlautwerden, akustische Halluzinationen, die das eigene Verhalten kommentieren, akustische Halluzinationen von Stimmen, die ein Gespräch führen, und so weiter,

Schneidersitz – eine typische Sitzhaltung, bei der die Oberschenkel gegrätscht und Unterschenkel bzw. Füße (»im Indianerstil«) über Kreuz darübergelegt werden, zu beobachten bei Patienten mit ausgeprägter Phenylketonurie und (in Deutschland) für gewöhnlich bei arbeitenden Schneidern zu sehen,

mit der Brille auf der Nase nur, wenn er (immer am Lesen), wenn Schneidermann und ich in die Matineefilme gingen und erst in den letzten Jahren und nicht mal mit seiner richtigen Brille,

nur ein Paar Vergrößerungs- und Vervollkommnungsgläser mit UV-Schutz, die Schneidermann mal, unterwegs zu einem Matineefilm, in einem Drugstore aus dem Regal geklaut hatte – ging das Licht aus, kamen die Gläser raus, Schneidermann, er legte Wert auf Werbung und Trailer, Schneidermann, er holte die Brille raus:

riesige, bernsteinfarbengetönte, gedankenrunde Hemisphären, die ihm ein seltsames Aussehen gaben,

professoral, ja, aber schmierig professoral, schleimig, oberlippenschweißig.

Nicht dass er je gelehrt hätte. Er ging immer nur mit seinem Beispiel voran.

Schneidermann zu mir: Pianisten machen bei Aufführungen Krach.

Schneidermann zu mir: Pianisten machen beim Aufnehmen Krach.

Schneidermann zu mir: Sie haben nicht die Disziplin, ruhig zu bleiben.

Schneidermann zu mir: Keiner von denen, ausnahmslos.

Schneidermann zu mir: Herrgott! (und dann kam Schneidermann, der Gould nicht mochte, ihm aber – wenn auch grummelnd – immer höchsten Respekt zollte,

kam oft, wenn wir, wenn Schneidermann, der nur selten fachsimpelte, über Pianisten sprach, immer und sofort auf Richters Anschlag zu sprechen, auf die Richterskala von Richters Anschlag, und auf den ganzen Schmonzes darüber, dass Richter in den Achtzigern, als er selber siebzig Jahre und ein paar Zerquetschte war, uns hasste, mich hasste und Sie und alles, wofür wir stehen,

alles, wofür Sie stehen, dass Richter einfach nur sagte, zum Teufel mit dem Westen und der ganzen wahnsinnig gewordenen Hemisphäre! wer braucht denn schon New York und sein Philharmonic Orchestra? Lieber spiele ich nur noch in Sibirien! als einer der größten Virtuosen der Welt bin ich überall gefragt und trotzdem immer ein aufrechter Bürger geblieben, meine Güte, hat Schneidermann – der sonst so wenig Naivität mitbrachte –, hat der ihn darum beneidet! um diese Haltung!

dass Richter zum Westen nur Tut mir leid sagte und dann im Osten seine Pflicht erfüllte, One-Night-Stands am laufenden Meter in den heiligen Hallen von Orechowo-Sujewo, falls Ihnen das was sagt, in Petropawlowsk, Tschegdomyn und Zelinograd und wie)

Schneidermann zu mir: Verzichte auf das Menschliche, und du hast eine vollkommene Musik, verzichte auf das Menschliche, und du hast keine Musik.

Hör einen klanglosen geistlosen Ton, in dem Geist erklingt, den Schneidermann oft mit dem Herzen hörte,

hör einen klanglosen geistlosen Klang des Geists, von dem Schneidermann mir mal vor seinem Späti erzählte, der von Arabern geführt wurde, die Schneidermann die ganze Woche über mit allem versorgten, was er brauchte, der rund um die Uhr geöffnete Araberladen, den Schneidermann mal als ARABERLADEN bezeichnete, mal als TAG- UND NACHTLADEN und mal einfach als den LADEN,

Hör hin: Ein normaler Musiker hat zwölf Töne, aber ein normaler Pianist hat nur zehn Finger, und Schneidermann, er wollte immer wissen, warum,

eine von diesen, wie sagt man, Fragen ohne Antwort, Schneidermann, er antwortete sich immer selbst, beispielsweise, warum wirbt der LADEN mit einem Klopapierausverkauf immer nur dann, wenn dem LADEN das Klopapier gerade ausgegangen ist?

du hörst einen Interpreten, wo du nur einen Komponisten hören solltest, so Schneidermann, du hörst eine Interpretation, wo du eigentlich die Musik hören solltest, behauptete Schneidermann oft,

lausch den virtuos Tüchtigen, und dann lausch den wahrhaft Kundigen, war Schneidermanns häufige Ermahnung, lausche dem Interpreten und dann lausche auf das Interpretierte, war seine häufige, wenngleich unerbetene, wenngleich nie unwillkommene Anweisung,

hör also die Interpretation und hör dann das Interpretierte, darauf beschränkten sich Schneidermanns Anweisungen für mich,

was mich an meine eigene Zeit als Dozent in der Uptown erinnert, an meine Schüler und ihre Schicksale, die jetzt untrennbar mit meinem verbunden sind,

erinnert mich an den Skandal, den das Konservatorium aus der Presse heraushalten konnte, ein Paradebeispiel an Musiktratsch,

Garderobenklatsch,

den Inbegriff des Volksmärchens über angebliche Ereignisse hinter den Kulissen,

das habe ich von meinem Exkollegen da aus dem Kaukasus gehört: ein annehmbarer Pianist, ein Jude, der all die Asiaten unterrichtet, diese Diplomaten- und Managerkinder und

reiche junge Frauen, die en gros hierher verfrachtet werden,

wie dunkeläugige Bomben über uns abgeworfen,

damit sie an heiratsfähiger Begabung, wenn nicht an Solokarrieren arbeiten konnten,

na, und mein Freund, der Professor, der hat sie präpariert, hat sie so getriezt, dass sie nur noch einen verminderten Halbton vom Wahnsinn entfernt waren, mit diesem Wahnsinnsüben und Vorbereiten, was seine Schüler jedes Jahr für den Klavierteil des jährlichen KONZERTWETTBEWERBS des Konservatoriums leisten mussten

wenn man den übrigens gewinnt, spielt man das Aufführungsstück mit dem Spitzenorchester des Konservatoriums bei einem großen Konzert, das von allen Kritikern besucht wird, die einen groß rauskommen lassen können – also hat man da vielleicht hundertfünfzig Jammergestalten, die Unsummen zahlen, um sich Klavierschüler schimpfen zu dürfen, und alle wetteifern um diese eine Auszeichnung, das ist ein Riesenwettbewerb, die ganz große Sache, bei der es für alle darauf ankam, und alle waren einen Augenblick lang,

einen wochen- und monatelangen Augenblick lang,

die ganzen Tonleiterübungen und Drills für Fingergeschmeidigkeit, stundenlanges Üben einzelner Passagen, eines einzigen Takts wieder und immer wieder, eines langen Tons, der wieder und immer wieder angeschlagen wird, eines Klangs, der erklungen bleiben soll, immer weiter singen und klingen soll, wenn man dazu aufgefordert wird und er vonnöten ist, auf ein gnadenloses Kommando hin, so dass man meinen sollte, nach so viel Üben müsste das Klavier doch eigentlich von selbst spielen können, selbst und für sich selbst spielen und üben können in diesem viereckigen Einzelübungsraum:

vier Wände, eine Tür, Decke und Boden, ein Klavier und der nackte Hocker dazu, das ist alles, das ist der Komfort der Kunst,

ein Raum, der einsam ist, wenn er leer ist, und genauso einsam, wenn er besetzt ist, ja, das ist die Bühne:

ein einzelnes Klavier, das sich nach einem bis zum Ende, zum Finale durchgespielten Stück sehnt, ein Flügel, wöchentlich gestimmt, wie alle in DEM großen Stadtkonservatorium für angehende Stars,

das alles für Sie alle konserviert, also auch Für Elise, wer immer die sein mag – jedenfalls haben wir also einen einzelnen Flügel in einem Einzelübungsraum im obersten Stock, den sich zwei junge Asiatinnen teilen, die wie ein und dieselbe Asiatin ausgesehen haben mögen,

sagen wir, die platonische Asiatin, falls Asiaten schon mal was von Plato gehört haben,

genau genommen zwei platonische Asiatinnen, falls das möglich ist, eine gut, eine böse, dieselbe gelbsuchtgelbe Haut, pechschwarzes Haar mit weltallschwarzem Fett verpicht, Aknegalaxien,

schlüsseldürr, praktisch tittenlos, aber alles, was sie mit all ihrem Talent anzufangen wussten, war üben, Tag und Nacht, auf ihrem einen einsamen Flügel in ihrem einsamen Übungsraum, oben im obersten Stock des Konservatoriums mit Blick auf und Gehör für den Park, wo,

sie übten bis zu leicht psychotischen Anfällen, ausbleibenden Monatsblutungen, pickelsprengend extremem Schlafentzug und übten bis zum Schichtwechsel, der wohl gerade noch rechtzeitig kam, bevor sie völlig durchdrehten, aber – was übten sie? wie züchtig übten sie tüchtig Abschnitt für Abschnitt? über welches Konzert sollte befunden werden? juriert werden? für welches olympische Konzert rackerten sie sich ab und vergeudeten die ihnen verbliebene Jugend?

es war, also die Komposition war, ob Sie’s glauben oder nicht, Ludwig van Beethovens 4. Klavierkonzert,

genau, das Meisterwerk in G-Dur, op. 58, und wenn Sie noch etwas wissen wollen, was die beiden Asiatinnen definitiv nicht wussten: Es wurde 1805/06 komponiert, als sich der Meister sporadisch auch mit seiner ersten und einzigen Oper Fidelio abmühte,

und als wäre das noch nicht genug, auch mit seiner 4. und 5. Sinfonie, falls Sie die kennen – das vierte seiner fünf Klavierkonzerte war das, und das beginnt mit einem Schlag ins Gesicht jeder Konvention:

die piano und dolce eröffnenden fünf Solotakte statt des erwarteten Orchestereinsatzes, dann antworten die Streicher, im Pianissimo und mehrere Tonarten entfernt, und es folgt ein Satz mit der Satzbezeichnung allegro moderato, der auf denselben bebenden Achtelakkorden beruht, die später als das sogenannte Schicksalsmotiv der 5. Sinfonie berühmt wurden:

dumm, dumm, dumm, DUMM geht das,

bumm, bumm, bumm, BUMM, wenn Sie mir das Singen weit in den zweiten Satz des Werks hinein erlauben:

ja, der prachtvolle, polare zweite Satz, der umwerfend extreme andante con moto-Satz, wo das Klavier und das Orchester, sie spielen nie zusammen, eher schon nur gegeneinander, manche Leute interpretieren das als Wettstreit, kann auch sein, aber wichtiger ist der Kontrast, in Wahrheit ist das Wichtigste das Drama, das weniger im Kampf liegt als in der Trennung,

dem Zerwürfnis,

der Zerfallsära,

praktisch Stereo vor Stereo – das Klavier als Orpheus, der das Orchester einlullt,

die Monster mit Süßholzspänen mästet:

Asiatinnen, zwei davon, insgesamt vielleicht hundertfünfzig, und alle spielen Beethovens 4. Klavierkonzert,

und sie spielen es weniger, als dass sie auf Reize reagieren, wie meinem alten verstorbenen Freund Isaac Stern auffiel, als er 1979 nach Schanghai kam, und ebenso Schneidermann, er sprach andauernd über Asiaten und ihr Versessensein auf diese ganze künstlerische Massenproduktion,

Solo für Schneidermann

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