Читать книгу Solo für Schneidermann - Joshua Cohen - Страница 7
ОглавлениеKADENZ, italienisch, aus altitalienisch cadence, bedeutet so ziemlich dasselbe wie in dieser Sprache und ist ein musikalischer Fachbegriff (lässt man die militärischen Definitionen mal beiseite), ein Substantiv.
Eine Solopassage, in der ein Interpret seine Kunstfertigkeit zur Schau stellen soll.
Eine beiläufige Feuerwerksfanfare, eine Tangente ohne Taktmaß, ein Höhenflug im Brillantissimo.
Bezeichnet heute den Abschnitt eines Konzerts, üblicherweise am Ende eines I. Satzes, der dem Solisten und einzig und allein ihm vorbehalten ist, das Orchester ist verstummt, damit der Solist ohne Begleitung die Beherrschung seines Instruments präsentieren kann.
Dann endet die KADENZ, wobei der Solist den Abschluss oft mit einem langen Triller signalisiert, das Orchester setzt wieder ein und beendet den Satz.
Ursprünglich war eine KADENZ allerdings eine Gesangsverzierung, deren Praxis erst später in die Instrumentalmusik überging.
In der Oper wurden KADENZEN von Sängern als Fiorituren in Arien improvisiert – die Aufführungspraxis gestattete pro Arie drei KADENZEN oder Melismen (wie diese Gesangskoloraturen auch genannt werden), wobei die dritte die kunstvollste war.
Mich interessierte an der KADENZ zunächst, dass mein Freund, der Pianist Alexander Wald – dem ich Schneidermann widme –, sie in einer Plauderei als »längere Solopassage im Stil einer Improvisation« (Hervorhebung von mir) definierte.
Das heißt – so führte Wald aus –, die KADENZ wurde ex tempore gesungen oder gespielt, allerdings nur bis zum Aufkommen der Romantik (und dem mit ihr einhergehenden Aufkommen der berühmten virtuosen Instrumentalisten). Seit dieser Epoche schrieben die Komponisten sie im Stil einer Improvisation nieder, einem Stil, der einen Gutteil seiner Ausdrucksmittel von der Instrumentaltechnik übernahm.
Das heißt, die KADENZ richtete sich mehr auf die instrumentale Selbstdarstellung und weniger darauf, dass der Solist das thematische Material einer Komposition ergründete.
Irgendwann komponierten Dritte – die berühmten Virtuosen höchstpersönlich – ihre eigenen KADENZEN, schrieben sie oft als spezielles Übungsmaterial oder für ihre Schüler, und manche verbreiteten sich so weit und wurden so geschätzt, dass man heute meinen könnte, sie wären vom Komponisten des Konzerts schon in der Originalpartitur festgehalten worden; ein bedeutendes Beispiel ist Joseph Joachims KADENZ zu Brahms’ Violinkonzert, die später – zumindest für mein Ohr – von Heifetz’ KADENZ übertrumpft wurde.
Heute spielen nur noch sehr wenige Virtuosen Beethovens oder Mozarts KADENZEN – die ihre Entstehung ihrerseits der Improvisation in der großen Tradition der Komponisten-Interpreten verdankten – und bevorzugen die von ihren instrumentalistischen Vorfahren geschriebenen KADENZEN: Beispiele im Klavierrepertoire wären die von Busoni und Reinecke.1
Außerhalb der modernen oder ernsten aleatorischen Musik (die für die Welt ein so taubes Ohr hat wie die Welt für sie) und abgesehen von möglichen Analogien in der Populär-, Ethno- oder Weltmusik improvisiert meinem Freund Wald zufolge heute fast kein Virtuose mehr eigene KADENZEN.
1 Ferruccio Busoni (1866–1924) war zu seiner Zeit ein Ultramodernist: Der Komponist, Dirigent, Theoretiker und Pädagoge war auch ein eindrucksvoller Meisterpianist; einige seiner Ideen zu den Grenzen der menschlichen Fähigkeiten – sowohl in der musikalischen Praxis als auch in deren Wahrnehmung – ließen das Aufkommen der elektronischen Musik vorausahnen. Heute gilt er aber bestenfalls noch als historisches Phänomen; sein Name überlebt nur noch in Fußnoten, und seine Leistungen werden in der Regel auf seine zahlreichen Pianotranskriptionen und KADENZEN zu den Kompositionen klassischer Meister reduziert.
Carl Reinecke (1824–1910) war das deutsche Gegenstück zum Italiener Busoni: Während der progressive Busoni als direkter Wegbereiter der seriellen Zukunft angesehen werden kann, war Reinecke ein unerschrockener Romantiker, dessen opulente Kompositionen und dessen Klaviertechnik nach dem Ersten Weltkrieg kaum noch Zuhörer fanden und praktisch keinen Einfluss mehr hatten. Seine ernstzunehmenden Beiträge zur Musikgeschichte sind heute größtenteils vergessen – mit Ausnahme seiner KADENZEN, die sich im Repertoire gehalten haben, weil sie sich als Kontrast zu oder zum Verständnis von bedeutenderen Werken des Kanons eignen.