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I.
Die Kindheit einer Heraklidin

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Inhaltsverzeichnis

Durch eine dieser Ironien der Vorsehung, welche die stärksten Gefühle als vergeblich verspottet und die Zeit beauftragt, sie abzunutzen und abzuleugnen, wurde der letzte Torelli der Vormund der letzten Este. Der gegenseitige Haß dieser beiden Familien, der zwei Jahrhunderte kämpfte und raste, endete damit: der Gibelline verliebte sich in die Welfin und wurde der Vormund ihrer Tochter.

Maria Beatrice von Este war eine hochmütige und gelangweilte Prinzessin. Nach Verlauf eines Jahres Witwe, fand sie Vergnügen in der Jagd und Beschäftigung im Dressieren von Pferden und Falken, während sie die Männer verachtete. Eine Lungenentzündung raffte sie jung dahin, auf ihrem Schlosse von Ferrara.

Der Herzog Torelli hatte diese Artemis mit einer vergeblichen Liebe geliebt: er erhielt nur die Vormundschaft der kleinen Leonora, die beim Tode ihrer Mutter acht Jahre alt war.

Torelli entführte Leonora nach Florenz. Er wollte sie zuerst ins Poggio Imperiale, das adelige Pensionat, stecken; aber das Kind sprach ein so bestimmtes »Ich will nicht«, daß sich der Herzog an den hartnäckigen Willen der Maria Beatrice erinnerte, den seine Anbetung nicht hatte beugen können.

Die Erzieherinnen folgten einander im Palast, ohne die kleine Prinzessin unterrichten oder zerstreuen zu können. Wenn ihr eine Strafe angedroht wurde, bewegten sich ihre unmerklichen roten Augenbrauen, zogen sich die Nasenflügel zusammen und verschmälerten die Nase: vor diesem außerordentlichen Ausdruck beleidigten Hochmuts machte man Halt.

Die herbe Engländerin, die bereits viele vornehme Miß erzogen hatte, verlor ihren »Cant«, als sie Leonora zur Vernunft bringen wollte, und drückte ihr in einer höchst aufgeregten Bewegung stark den Arm. Schweigend lief Leonora in den Waffensaal, schwang sich auf eine Truhe, ergriff einen Panzerhandschuh und stülpte den über ihre hübsche Hand: so überraschte sie die Gouvernante, die sich gesetzt hatte, und versuchte ihr mit dem eisernen Handschuh den Arm zu drücken.

Torelli beschränkte die Rolle der Erzieherin auf Ueberwachung, indem er diese unerklärliche Natur sich ohne Fesseln entwickeln ließ.

Sich selbst überlassen schien die Kindheit Leonoras im Palast Torelli die von kleinen Bauern zu sein: ohne Zwang, ohne Aufsicht, besonders ohne Gehorsam; nur statt des klaren Himmels Decken mit Fresken, statt grüner Horizonte Gemälde der frühen italienischen Meister.

Mit zehn Jahren nahm der Herzog sie mit in die Salons von Florenz: die Seltsamkeit ihrer rötlichen Schönheit verschaffte ihr diese begeisterte Aufnahme, wie sie frühreifen Kindern zu Teil wird.

Eines Abends, es war bei dem alten Strozzi, sprach der Maler Majano von seinem nächsten Gemälde, das der Gemeinderat bestellt hatte: die Stadt, des Volkes Fahne haltend.

– Rote Farbe mit der natürlichen Lilie, sagte er.

– Nein, Signor, unterbrach ihn die kleine Prinzessin, das Wappen der Stadt ist ein rotes Kreuz auf Silber.

Man blickte sich erstaunt an, Strozzi mehr als alle. Er zog das Kind auf seine Knie.

– Woher weißt du das, Prinzessin?

– Ich kenne sie alle, antwortete sie, von ihrem kindlichen Sprechen zu heraldischen Ausdrücken übergehend: die Taube im Himmel, die vergoldeten Muscheln, die schwarzen Peitschen, die grünen Tiere, die Pferde mit einem Horn in der Stirn; schließlich, von links anfangend, die sechzehn Lanzenfähnchen der vier Viertel von Florenz.

Strozzi hatte ihr mit leuchtenden Augen und zurückgehaltenen Tränen zugehört: er umarmte sie mit lebhafter Bewegung. Dieser seltsame Zufall hatte die Wichtigkeit und die Größe eines Glückes für diesen Greis, der seine Stadt fanatisch liebte und den Campo-Santo4 nahe fühlte.

– Lassen Sie mich ihr Florenz zeigen, sagte er zu Torelli.

Fast jeden Tag holte der alte Herzog das Kind ab. Durch die Straßen und Plätze streifend, beschwor er die Geschichte in dem Rahmen selbst, in dem sie erlebt worden. Sein Wort hatte die erhabene Macht, die aus einer vollen Begeisterung entsteht.

Glücklich, ausführen zu können, was er eine florentinische Erziehung nannte, ohne zu bedenken, daß er zu einem Kinde sprach, ließ er den furchtbaren Rosenkranz von Verbrechen, der die Geschichte Toskanas ist, durch seine Hände laufen, indem er die Persönlichkeiten und deren Taten durch das genaue Bild, das brutale Wort benannte: und welche Persönlichkeiten und welche Taten!

An die Türfackeln und die Bronzeringe, die einzigen und seltenen Ornamente der Fassaden mit vorspringenden Verzierungen, hing er eine Geschichte von Liebe, von Ruhm oder von Verbrechen. Er ließ Leonora auf dem Steine sitzen, wo Dante des Abends saß; er blieb mit ihr vor den Häusern stehen, wo der Genius gewohnt hatte; er bemühte sich, sie den Mann sehen und das Werk begreifen zu lassen: Galilei und die Inquisition, Machiavelli und die Medicis, Cellini und die Künstlerbanditen. Die Wirkung dieser Gemälde äußerster Leidenschaften, vor Augen entrollt, die noch zu jung waren, um sie zu erfassen, war indessen die, daß eine Gleichgiltigkeit dem Bösen gegenüber entstand, die bei einem Kinde selten ist.

Leonora kam von diesen Spaziergängen mit summendem Kopfe zurück; ohne zu begreifen, interessierte sie sich für diese gesprochene Laterna Magica, für diesen Geschichtskursus nach Carlyle. Durch sein Feuer und seine Gebärden machte der Greis Eindruck, wenn er die rasenden Leidenschaften der Renaissance in der Atemlosigkeit seiner Erzählung vorüberziehen ließ. Der Zauber der florentinischen Begeisterung verwandelte diese schlechten Abenteuer in Feenmärchen; und zwar in die einzigen, die sie kannte.

Als sie zwölf Jahre alt war, dachte Torelli an ihre Erziehung; er schrieb an seinen Vetter, den Kardinal Pallavicini, und bat ihn, den besten Hauslehrer zu schicken.

Bald darauf stellte sich ein Mann von schönem Gesicht und nachlässig gekleidet im Palast vor, mit diesem Wort des Kardinals: »Mein lieber Vetter, anbei il signor Sarkis, den ich dem Corpus der römischen Inschriften entziehe, um ihn Ihnen zu geben.«

Sarkis schien ein Nachzügler jener Griechen zu sein, die vor den Türken flohen und ein Asyl am Hofe der Medicis suchten. Gelehrt wie die, welche wissen, um zu wissen, hatte er Europa durchfahren, als Sekretär, als Dolmetsch, Werke schreibend, welche eitle Reiche zeichneten; hatte das Land je nach dem Studium des Augenblicks gewechselt, glücklich, ein Wissen anzuhäufen, das ihm zu nichts diente.

Zu der Zeit, als eine Laune für Rom ihn ins »Corpus« des Vatikans eintreten ließ, schlug sein vierzigstes Jahr beunruhigend. Zum ersten Male dachte er ans Alter. Da wurde ihm der Vorschlag des Kardinals gemacht. Sofort nahm er ihn an, da er eine Sinekure voraussah, die Stadt ihm gefiel und seine Zukunft gesichert wurde.

Sobald er mit Leonora gesprochen hatte, sagte er zu ihr:

– Sie sind intelligenter, als es einer Prinzessin von heute zukommt: ich werde Ihnen also eine königliche Erziehung geben.

Statt sie die Papageienart der Universität stammeln zu lassen, ließ er sie dieser Methode Jacotot5 folgen, die ein wiedergefundener Teil der »Bekannten Kunst« der Okkultisten ist. Nachdem er die ersten drei Gesänge der »Göttlichen Komödie« ins Griechische, Lateinische und Französische übertragen hatte, ließ er Leonora sie gleichzeitig auswendig lernen. Zuerst verschloß sich das Kind dieser Trockenheit; aber bei jedem Worte unternahm er so wundervolle Abschweifungen, wußte sie so gut auf das Folgende neugierig zu machen, daß sie bald alle drei Texte konnte, um diesen Kommentar, der von allem sprach, zu hören.

Dann las er mit ihr die Grammatiken, sie die Regeln in den Texten, die sie konnte, finden lassend. Bei jeder Lektion reckte sich Leonora trägen Geistes; Sarkis bestand nicht darauf. Von einem Wort ausgehend, versiegte er nicht mehr von Anekdoten, und seine Schülerin kehrte von selbst zur Lektion zurück, dankbar für einen so großen Aufwand von Einbildungskraft und Gedächtnis.

Er wandte sich besonders an ihren Stolz, behandelte sie als Hoheit, und stets als große und vernünftige Person. Er wurde mit ihrem Nichtstun und ihrem Gähnen fertig, indem er ihr wiederholte: »Sie wollen also, daß der erste beste Mann glaubt, Ihnen überlegen zu sein? Denn, was haben wir der Frau voraus? Die Wissenschaft, nichts weiter.« Dieses Argument war immer siegreich.

Zwei Jahre, nachdem Sarkis in den Palast gekommen war, übersetzte Leonora Sophokles und Tacitus. Nur das Französische schreckte sie ab.

– Sie werden wahrscheinlich eines Tages in Paris wohnen, wie alle Hoheiten ohne Königreich: wollen Sie denn, daß die Pariser, die Spötter sind, sich über die schlechte Aussprache einer Este lustig machen?

Um die Wirkung dieser Worte zu erhöhen, übersetzte er ihr Balzac, machte aber häufige Pausen und übersprang manche Stellen.

– Warum machen Sie eine Pause, Sarkis?

– Weil das nicht passend ist!

Leonora bat, wurde ungeduldig.

– Lesen Sie es selbst, Hoheit, wenn Sie darauf bestehen.

Bald konnte sie französisch wie eine Französin, um die Stellen zu lesen, die nicht passend waren.

Sarkis meinte, die Sprachen des Homer, des Tacitus, des Dante, des Balzac genügten für eine Romanin; aber er las mit der Prinzessin auch Shakespeare und Goethe, da er sich bemühte, ihr die größte literarische Kultur zu geben. Besonders Dichter und die Bücher legte er in ihre Hände, in denen das Herz in wahren Tränen, in hohen Gedanken geschrieben ist: so warf er in diese Seele, die er als böse ahnte, den erhabenen und äußerst fruchtbaren Samen des Ideals.

Sarkis legte fast ebenso viel Gewicht auf die Geschichte wie auf die Literatur; aber er lehrte sie ohne Daten, nur nach Vierteljahrhunderten rechnend; beschränkte den politischen Teil auf wenig, die Verträge auf nichts, die Schlachten auf Beschreibungen von Waffen und Landschaften. Da er die Menschheit als ein leidenschaftliches Wesen betrachtete, das sich in Zivilisationen entwickelte, malte er mit Worten große zusammenfassende Gemälde. Diese umgab er mit unzähligen kleinen Bildern, in denen das Intime, das Private, das Persönliche jeder Epoche wieder auflebte, bis in ihre Moden des Anzugs und des Lasters. So sieht man in der Mark Ankona die Werke der Schüler Giottos: das Martyrium des Heiligen ist mit einem Rahmen von Medaillons umgeben, welche die Szenen der Berufung und die Wunder des Lebens einzeln wiedergeben. Er entstäubte die Geschichte von allem Staub des Konventionellen, riß die Schleier von den Statuen, entriß den Menschen ihre Maske, den Worten ihre Schönfärberei. Mit einer sicheren Wissenschaft und der lyrischen Sprache eines Saint-Yves6 zeigte er der jungen Prinzessin die Menschheit nackt, im Aussatz ihres Körpers, in der Entartung ihres Gedankens, in der Selbstsucht ihres Herzens.

Leonora faßte einen Haß gegen ihren Nächsten und einen Abscheu vor der Geschichte. »Bleiben wir hier stehen,« sagte sie oft. Aber ohne zu antworten, öffnete Sarkis ein illustriertes Werk, zeigte ihr ein Basrelief, eine Medaille, eine Zeichnung und ging auf die großen Einzelheiten der einstigen Frauenkleidung ein, auf die Künste der Koketterie: Leonora wurde wieder aufmerksam.

Zur Erholung führte Sarkis sie auch spazieren. Er hatte nur klare Linien über die lebhaften und verworrenen Striche zu ziehen, welche die Tiraden Strozzis in diesem Kinderkopf gelassen hatte; aber während der florentinische Patriarch Leonora das gibellinische und welfische Florenz, die Dramen des Ehrgeizes und der Straße gezeigt hatte, weihte er sie in das Florenz der Museen und Kirchen, in das heitere Florenz der Kunst ein. Lange standen sie vor den Bronzetüren der Taufkapelle oder den Statuen von San Michele in Orto; fast täglich besuchten sie die Kapelle der Medici, die Uffizien, den Palazzo Pitti, den Bargello. Unermüdlich erklärte Sarkis, vom Leben des Malers auf das der Zeit übergehend.

Sonntags führte er sie in die Messe, oft die Kirche wechselnd; wenn sie die Messe gehört hatten, ließ er sie alles sehen, vom Weihkessel der Halle bis zur Predella der dunkeln Kapellen.

– Eine italienische Prinzessin muß zeichnen können, wiederholte Sarkis.

Als er eines Tages in der Bibliothek schrieb, rief die klare Stimme Leonoras diesen Namen »Sarkis«, der sie durch seine Fremdheit belustigte; und dann reichte sie ihm eine ungeschickte Skizze, auf der sie ihn erkennbar und boshaft karikiert hatte.

Sofort machte er sich auf die Suche nach einem Zeichenlehrer und entdeckte einen verrückten Künstler, der sein Brot der Woche damit verdiente, daß er die »Vision des Hesekiel« wiedergab, um sich dann vor ein Faksimile von Leonardo zu setzen und es mit Begeisterung zu kopieren.

Bojo stellte sich der jungen Prinzessin mit einem Album vor, in dem er alle Karikaturen des Malers von »Bescheidenheit und Eitelkeit« vereinigt hatte. Mit entzückten Ausrufen wandte Leonora langsam diese Blätter, auf denen die menschliche Maske sich zum Maul, zur Schnauze, zum Schwein, zur Fratze vertiert. Schließlich tat sie keine Ausrufe mehr, sondern schnitt selbst Gesichter. Bojo hatte gleichfalls versucht, Grimassen zu zeichnen; da er aber mehr Begeisterung als Eitelkeit besaß, war er zufrieden, daß seine Schülerin fühlte, wo das Genie aufhörte.

– Ich vergaß die Musik, sagte sich Sarkis etwas später.

Alsbald schrieb er an Warke, einen dieser Deutschen, die glücklich sind, wenn sie Bach und Händel spielen können. Er hatte ihn in Heidelberg getroffen, damals, als er, von dieser Alhambra des Nordens entzückt, die Nächte damit verbrachte, aus dem wunderbaren Palast Ottos des Großen die Eulen zu verscheuchen.

Warke gab seine Stellung als Kapellmeister in Zürich auf und kam nach Florenz, um das seltsamste Lehrer-Trio zu vervollständigen.

Als Torelli zum ersten Male in den Lehrsaal eintrat, in dem Unterricht erteilt wurde, wußte er nicht, ob er lachen oder sich ärgern sollte.

Sarkis, von dicken Büchern umgeben, erzählte Leonora vom Verfall des römischen Reiches; am Flügel spielte Warke gedämpft Beethoven; und Bojo zeichnete ein Geduldspiel, in dem Lindwurmrachen sich Frauenkörpern und Banditenköpfe sich Richtergewändern anpaßten.

Wenn ein Wort von Sarkis ungünstig für Italien war, warf Bojo seinen Bleistift hin und gestikulierte, laut schreiend. Wenn Warke ein mißtönendes Beiwort für Deutschland hörte, blieb er die Antwort nicht schuldig: dem Motiv die plötzliche Erregung und den gereizten Rhythmus seiner Entgegnung gebend, begleitete er das Gespräch mit Katzenmusik. Den Lärm beherrschend, stieg das perlende Lachen der Prinzessin in tollen Trillern empor.

Ohne die Fassung zu verlieren, legte Sarkis nach einander einen Aischylos, einen Tacitus, einen Molière vor die Prinzessin und schlug sie irgendwo auf: Leonora übersetzte ohne Anstrengung. Bojo überreichte eine Zeichnung. Warke ließ sie am Flügel Platz nehmen, wo sie das Gebet des »Moses« spielte.

– Ich werde Sie nicht mehr stören, sagte Torelli, erstaunt und entzückt.

Bis zum 16. Jahre lebte Leonora unter diesen drei Männern, die sie mit der tiefen Zuneigung derer liebten, die kein Ziel mehr haben in ihrem verfehlten Leben.

– Sarkis, sagte Leonora eines Tages, als sie aus der Beichte kam, der Pater hat mir gesagt, was den Adel eines Namens ausmache, seien die Tugenden der Ahnen.

– Damit hat er Ihnen kein Kompliment gemacht, Hoheit.

– Und warum nicht, ich bitte Sie, fragte die junge Patrizierin verletzt.

– Warum nicht? erwiderte Sarkis nachlässig.

Die Söhne von Obizzo erwürgten ihren Bruder, der es verdiente. Alberto ließ seine Frau lebendig verbrennen und Johann von Este mit glühenden Zangen zwicken. Nikola III. enthauptete seine Frau Parisina, weil sie mit seinem eigenen Bastard Hugues Blutschande trieb. Derselbe Nikola III. hatte sechsundzwanzig Bastarde. Herkules schnitt zweihundert seiner Feinde die Hände ab und stach ihnen die Augen aus. Der Kardinal Ippolito ließ seinem Bruder Don Giulio in seiner Gegenwart die Augen ausreißen.7 Alfonso war der Henker des Tasso. Der zweite Herkules wurde Kalvinist; Cesare suchte sich seine Frau, die Dianti, im Laden eines Hutmachers … Alle Laster, alle Verbrechen: Sie sehen, Ihre Ahnen sind Banditen oder Blödsinnige gewesen, oft beides!

Leonora biß sich gedemütigt die Lippen.

– Ich wenigstens, sagte sie, bin keine Lukrezia …

– Glauben Sie nicht an die Verleumdungen der Geschichte, rief Sarkis. Das Laster einer Lukrezia Borgia entzieht sich notwendiger Weise dem Historiker. Intuitiv fühlt man, daß sie verbrecherisch war, doch man hüllt sie in Fabeln ein, die ihrer unwürdig sind. Es war eine sehr sittsame Dame, wie der französische Chronist Brantôme8 sagt.

Er blickte die Prinzessin fest an.

– In zehn Jahren studieren Sie Ihre Seele, und Sie werden dann sehen, ob sie tugendhaft oder lasterhaft, gut oder böse waren, Ihre Ahnen, diese von Bayard geliebten und von Tasso besungenen Prinzessinnen von Ferrara, denn Sie sind von deren Rasse und gutes Blut kann nicht lügen!

Diese Rede machte Eindruck auf sie, indem sie für einen Augenblick ihre angeborene Gleichgiltigkeit gegen das Böse, die Strozzi gesteigert hatte, erschütterte; und infolge einer dieser Regungen von Religiosität, die nicht selten sind in der Jugend der Entarteten, ging sie mit einem wahren Eifer zum ersten Male zum Abendmahl, in den Dom Santa Maria del Fiore, zu gleicher Zeit wie ihre Freundin Bianca del Agnola. Dieser Tag war für sie, wie für die Meisten, der, den man den schönsten des Lebens nennt, weil man sich über die Erde erhoben hat; und weil man bei diesem Streben im heiligen Abendmahl das höchste Ziel des menschlichen Gedankens erkannt hat, das die Kabbalisten den Unaussprechlichen, Gott, nennen!

In den Salons von Florenz war Leonora nicht zu der stummen Haltung eines jungen französischen Mädchens verpflichtet, vor dem das Gespräch zu einem Flüstern wird; das man wegschickt, sobald man auf die Liebe abschweift. Ohne an ihre Gegenwart zu denken, sprach man von der Art, wie Salviati die Gräfin Sambelli verlassen hatte, und von den Anstrengungen, die der Graf Sambelli machte, um die beiden wieder auszusöhnen.

Es geschah nicht selten, daß jemand seine, oft heikle, Auffassung von der Leidenschaft auseinandersetzte; aber das alles hatte zuviel von der Wirklichkeit, um sie zu entflammen. Was sie verwirrte, war ihre Lektüre, und mehr noch die Gedanken, die jene in ihr entstehen ließ.

Wenn sie Tasso studierte, beneidete sie ihre Ahnfrau, so besungen worden zu sein. Das »Neue Leben« ließ sie vom Ruhm einer Beatrice träumen. Laura de Noves und Vittoria Colonna schienen ihr sehr glücklich zu sein, da sie die unsterbliche Krone trugen, die allein die Finger der Dichter flechten. Diese Frauen mit soviel Tugend und Feinheit waren ihre Heldinnen, waren die Vorbilder, die sie sich zum Muster nahm. Deren Madonnenhaltung, mit dem anbetenden Genius, der ihre keuschen Füße umschmeichelte, setzte sie in die höchste Bewunderung. Eine Liebe einzuflößen, die eine Religion war, und sie einem Genius einzuflößen, das war ihr Traum. Doch zischte die Begierde, die Schlange, die der Wille in Stücke schneidet, die sich immer wieder vereinigen, zuweilen die lüsternen Schwächen ihr in die Ohren und entrollte während der Nacht ihre funkelnden Ringe.

Tägliche Besuche in den Uffizien hatten bei ihr das künstlerische Auge und das Verständnis für Plastik entwickelt. Diese Neugier nach dem Körper des Mannes, die das Reifen der Jungfrau verwirrt, hatten die ihren Augen vertrauten Statuen befriedigt.

Während ihre Freundin Bianca, die wollüstig war und deren vertrauliche Mitteilungen die verliebten Blicke der jungen Mädchen von Greuze erläuterten, sinnlich die Kraft bewunderte, David und Herkules liebte, zog Leonora den Epheben Perseus vor. Diese noch instinktive Sympathie sagte den Grundsatz voraus, der ihr Leben beherrschen sollte.

Die Kunstwerke, in denen die Frau über den Mann triumphiert, zogen sie unwiderstehlich an. Im Palazzo Pitti, in der Loggia hielten sie die Judith von Allori und die von Bandinelli in einer lächelnden und nachdenklichen Betrachtung fest.

Trotzdem sie unempfindlich zu sein glaubte, gärte das Blut der Jugend in ihren Adern und die Schläge der Arterien drangen bis ans Herz. Das war die Stunde, da dem fast Frau gewordenen jungen Mädchen das Ideal in einer strahlenden Herrlichkeit erscheint; da die Chimäre vorübergeht, sie mit ihren unwiderstehlichen Diamantaugen fest anblickend. Das war die Chimäre, die sie während der Nacht erspähte; das war ihr nervöses Kreuz, das sie in Gedanken bis zum Morgen liebkoste.

Das unbesiegbare Gesetz der Liebe fesselte sie. Ihre Blicke durchsuchten die Finsternis; ihr Ohr befragte die Geräusche; sie beugte sich über den Platz, indem sie hustete, Gebärden machte, die Zeichen zu geben und Küsse zu senden schienen. Sie hätte gerufen; aber sie wußte nicht den Namen dessen, der ihre Sorge, ihre Erwartung, ihr Verlangen war: der Geliebte.

Einer dieser jungen bleichen und stolzen Edelleute an den Wänden des Palastes Pitti, die mit einer Frauenhand den schweren Degenknopf liebkosen. Ihr Verlangen ließ sie ihn sehen: schlank in seinem schwarzen Wams; sein kurzer Bart mit den zwei Spitzen war seidiger als die Federn seines Baretts; seine zu roten Lippen wie feucht von Blut; in den Augen leuchtete ein verwirrender Blick; die Rädchen seiner Sporen funkelten wie Sterne; der Mond ließ seine Halskette glänzen, die sie durch ihre Arme hätte ersetzen mögen.

Er würde sicher kommen, am Arno entlang, bis an den Fuß des Palastes; er würde ihr wunderbare Lieder singen; sie würde ihm die Blume aus ihren Haaren zuwerfen.

Als die Morgenröte ihre großen Kreidezeichen auf dem schwarzen Himmel machte, als Schritte auf den Fliesen der Straßen erklangen, brannte der Kopf in Feuer, waren Lenden und Nacken wie zerschlagen; Steifheit im Ellenbogen und Fieberschauer auf der Haut, legte sie sich wieder nieder, fast weinend und wütend, schlief schwer ein, in ihrem blutenden Trotz, auf dem Bauche liegend, das Gesicht gegen die Wand gekehrt.

4. Campo santo, heiliges Feld, Friedhof. Der berühmteste Campo santo ist in Pisa, mit dem »Triumph des Todes« von Orcagna.

5. Jacotot, Méthode d'enseignement universel, Deutsche Ausgabe, Marburg 1830.

6. Saint-Yves, Mission des Juifs, Paris, Calmann-Lévy, 1884, 950 Seiten.

7. Conrad Ferdinand Meyer, Angela Borgia.

8. Schiller, Sammlung histor. Memoiren, Band 11-13, Jena 1796-97.

Das höchste Laster

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