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IV.
Gaga

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Inhaltsverzeichnis

In der Bibliothek, wo das Lehrertrio seine ganze Zeit verbrachte, sagte Sarkis zu Warke:

– Vormund und Mündel sind augenblicklich Leidensgefährten in der Versuchung: während sich Leonora gegen ihr Temperament wehrt, wird Torelli lüderlich mit einer Französin, einer von diesen, die man in Paris »tendresses et croqueuses de cœur« nennt. Sie werden sehen, daß das junge Mädchen rein bleiben wird, während der reife und erfahrene Mann dem schmutzigen Unterrock verfällt, um alles, selbst seine Würde, in den Falten dieses Hemdes zu lassen, das so viele Male und von so vielen Leuten hochgehoben wurde.

– Sie setzen mich in Erstaunen, sagte der Deutsche, und …

– Mein lieber Wolkensammler14 der Harmonie, Sie träumen zu viel, um etwas zu sehen … Torelli hat mit der Leidenschaft begonnen, er endet mit der Geilheit. Die Empfindsamkeit, die ihn, als er jung war, platonisch für Maria Beatrice seufzen ließ, hat sich mit dem Alter in Sinnlichkeit verwandelt; und die von seinen Pächtern, die eine hübsche Tochter besitzen, können sie mit leeren Händen schicken, um den Pachtzins zu zahlen. In den Cascinen15 habe ich seine Geliebte gesehen, eine alberne Französin: kein Gesicht, eine so zerknautschte Fratze, daß sie keine Züge besitzt; kleine listige und dumme Augen, in der Lasur von Schminke, die ihre Haut ist, blinzelnd; eine weichliche Beleibtheit, und von ihren Pudelhaaren bis zu ihrer Grisettenmunterkeit der Ton der Portierstochter, die aus dem Vorstadtcafé in die Sinne und die Taler eines Schwachkopfes gesprungen ist, dem viele andere folgten. Sie kam nach Monaco, von einem Hochstapler begleitet, dem dort sein Geld abgenommen wurde. Sie verheiratete sich wieder mit einem Reisenden, den sie für einen Prinzen hielt; er ließ sie im Hotel Victor Emanuel als Pfand zurück. Torelli, den sie für einen Reisenden hielt, traf sie in den Sesseln des Politeama16 und gab ihr das Geleit bis zum Morgen …

– Unsere Schülerin dagegen, fuhr er fort, ist seit dem Tode des Paters Francesco vom rechten Wege abgekommen. Die Keime von Heiligkeit, die dieser erhabene Mann gesäet hatte, sind verkümmert, weil er sie nicht lange genug mit seinem Worte pflegen konnte. Was davon übrig ist, vermehrt die Verwirrung dieser Seele. Ich werde nie vergessen, wie sie, von der Beichte kommend, mir die schönste Predigt hielt, die ich wie der geringste Schüler anhörte. »Sarkis, sagte sie zu mir, ich liebe Sie sehr, aber Sie sind schuldig: Sie haben keine Moral, und Sie lehren mich Ihre eigene Gleichgiltigkeit gegen das Gute und Böse.« … Ach, ich bin weit davon entfernt! Neulich las sie Martial; daneben lag die kleine Schrift des heiligen Liguori über die »Fügung in den Willen Gottes«. Seltsame Prinzessin, für alles begabt und sich in nichts auszeichnend, verständnisvoll und, dank unserer Arbeit, gelehrt; aber nicht vom Guten stammend; alles gut machend, niemals etwas schlecht, aber auch nicht besser.

Er schwieg eine Weile.

– Wer Leonora von sich selbst befreite, und den Herzog von seinem Mündel, sechs Monate lang, würde ein frommes Werk tun. So bin ich auf die Idee gekommen, die Prinzessin auf eine Reise quer durch Italien zu entführen, auf eine Kunst-, Geschichts-, Erziehungsreise. Das würde alle Teile befriedigen.

– Mich nicht, rief Warke.

– Noch mich, sagte Bojo, der eben eingetreten war.

Als Sarkis sie erstaunt anblickte, sagte der Deutsche mit trauriger Miene:

– Einen Kapellmeister nimmt man nicht mit auf die Reise.

– Ebenso wenig einen Zeichenlehrer, fügte Bojo hinzu.

– Ich bürge dafür, daß Sie beide mitgenommen werden, erwiderte Sarkis lachend.

Der Herzog war im Palast.

Kaum hatte Sarkis seinen Plan vorgetragen, als er sich beeilte, einzuwilligen.

– Ich habe volles Vertrauen zu Ihnen, sagte er, aber nehmen Sie Bojo und Warke mit: dann wird Leonora eine Art Gefolge haben.

Im Nachtgewand, ein offenes Buch vor sich, träumend, betrachtete Leonora ihre nackten Arme und zitterte, als sei sie in ihrem Gedanken überrascht.

– Nun? fragte sie trocken Sarkis, der plötzlich eingetreten war.

– Es bedeutet wenig, Hoheit, daß ich Sie mit nackten Armen sehe; aber es muß viel für Sie bedeuten, eine Reise von sechs Monaten durch ganz Italien zu machen.

– Das ist eine schöne Ueberraschung, rief sie und erhob sich fröhlich.

– Dann kommen Sie, um Warke und Bojo zu beruhigen, die fürchten hier bleiben zu müssen.

Eine Mantille über ihre Schultern werfend, folgte sie Sarkis in die Bibliothek, wo die beiden Lehrer sich bei ihrem Anblick erhoben.

– Signori, verkündete sie lächelnd mit großer Haltung, es ist unser Vergnügen, Italien sehen zu wollen. Sarkis, der Sekretär unserer Befehle, wird außer der stets bereiten Erklärung und des endlosen Kommentars unserm Geiste etwas Interessantes bieten müssen, wenn wir Lust haben zu plaudern; Warke, unser Kapellmeister, wird seine Geige mitnehmen und, wenn wir vor einem Denkmal oder einer Landschaft stehen bleiben, ein Stück spielen, das die Stimmung unserer Seele wiedergibt; Bojo, unser Maler, wird die Typen und die Gegenden zeichnen, die uns auffallen. Dixi, und nun an die Koffer.

Und fröhlich war die Abfahrt, fröhlicher die Reise.

Keiner von ihnen erinnerte sich, jemals so glücklich gewesen zu sein. Alle waren bei Laune: Sarkis zu erklären, Warke zu spielen, Bojo zu skizzieren, Leonora mit Geist und Augen zu hören. Ein dreifacher Kommentar der Wissenschaft, der Zeichnung und der Musik vervielfachte ihr den Eindruck von dem, was sie sah, indem er ihn unauslöschlich machte.

Sie hatten seit sieben Monaten Florenz verlassen, als Sarkis von Pisa ihre Rückkehr telegraphierte.

Der Herzog war auf seinen Gütern in der Lombardei, und Gaga erbrach die Depesche. Nachdem die Prinzessin abgereist war, hatte sie es erreicht, im Palast wohnen zu dürfen.

– Dort, hatte sie zu ihm gesagt, wirst du »Gaga à gogo« haben17, aber nur dort.

Der Herzog, schon durch die Gewohnheit dieser gemeinen Ausschweifung, dieser Wollust der Vorstadt verfallen, in ein Alter gekommen, in dem er nicht mehr geliebt werden konnte, ohne zu wissen, was er in seiner Langenweile machen sollte, hatte sich in die Arme dieser Dirne gleiten lassen und vergaß bereits, wie Sarkis vorhergesagt, in seinem Laster den Anstand zu wahren.

Sie hatte ihn durch alles bezaubert, was ihn davor hätte schützen sollen: die Herausforderung der Gebärde, die Sprache der Gasse, das Betragen der Kneipe, die Albernheit in der Unzucht. Einst die Musik liebend, hätte er jetzt den ganzen Palestrina hingegeben für eines dieser Tingeltangel von Bullier, welche die Stimmen dieses dummen Paris sind, das die »Schöne Helena« bejubelt hat.

Mit der Freude einer Strickerin, die sich im Bett der Königin wälzt, war Gaga die vier Stufen zu dem übergroßen Säulenbette hinaufgestiegen. Es berauschte sie, wenn sie morgens die Augen öffnete und ein Wappen über ihrem Kopfe erblickte.

Als sie die Depesche von Sarkis noch ein Mal las, dachte sie nur daran, daß sie dieser stolzen Prinzessin, die selbst Torelli fürchtete, den Platz räumen müsse.

Die Neugier, ein Zimmer der jungen Hoheit zu sehen, kam über sie.

Nachdem sie die Schubkasten durchstöbert, die Gemächer aus Ebenholz und Perlmutter durchlaufen hatte, zog das ganz aus weißen Spitzen bestehende Bett sie an. Sie ahnte, daß sie es entweihen könnte, und legte sich mit Vergnügen in dieses Bett, wo so oft das rebellische Fleisch besiegt worden war.

Es schlug dreiviertel drei; sie machte eine Bewegung, sich zu erheben; überlegte es sich anders und zog die Vorhänge lachend über sich zu. Welche Gefahr lief sie, wenn sie sich das Schauspiel der entrüsteten tugendhaften Prinzessin leistete?

Um drei Uhr betraten die Reisenden den Palast; der Haushofmeister sagte Leonora, daß ihr Vormund abwesend sei; lebhaft eilte sie in ihr Zimmer; dort zog sie ihr Kleid aus und wusch sich, im Unterrock und Korsett, den Wagenstaub ab.

Als sie durchs Zimmer ging, sah sie, daß die Vorhänge ihres Bettes geschlossen waren, und zog sie aus einander: vor Ueberraschung blieben ihre Arme in der Luft schweben.

Auf dem Kopfkissen mit den Wappen der Este lachte ein gemalter Kopf, mit roten zerzausten Haaren, ein dummes Lachen. Die Verzerrung dieses Lachens erklärte Leonora, wer da war. Sie riß die Decken fort und warf den Eindringling aus dem Bett heraus.

Gaga erhob sich gekränkt und drohte ihr mit dem Vormund.

Eine Ohrfeige schloß ihr den Mund und ließ sie auf einen Schemel fallen.

Noch immer stumm, läutete Leonora heftig.

Als die Dienstboten herbeieilten, streckte sie den Arm nach Gaga aus, die im Hemd war und weinte:

– Werfet das auf die Straße, befahl sie.

Kammerdiener und Kammerfrauen rührten sich nicht: sie fürchteten alle den unbeschränkten Einfluß, den das Mädchen auf den Herzog übte.

– Wie man auf dich hört! rief Gaga, kühn gemacht. Ich werde dir deine Ohrfeige zurückgeben, und zwar wie einer Straßendirne.

Sie ergriff Leonora bei ihrem kurzen Unterrock; diese riß sich fieberhaft los, nahm ihre Reitpeitsche von einem Tisch und peitschte die Luft um sich.

– Fahr zu, Kutscher, rief Gaga.

Leonora erblaßte unter dieser Beschimpfung, packte das Mädchen beim Halse und zerriß ihr mit einem Ruck das Hemd, von dem ein Fetzen in ihren Händen blieb.

Die Finger zu Krallen gekrümmt, drang Gaga auf sie ein, aber Leonora peitschte ihre großen Brüste mit voller Kraft. Heulend suchte das Mädchen etwas, um es der Prinzessin an den Kopf zu werfen, hatte aber nicht die Zeit dazu: auf ihre Schultern, auf ihre Arme, auf ihre Schenkel regneten die Peitschenhiebe. Feige vor Schmerz schreiend, spie sie die Verwünschungen des Lupanars aus. Diese schamlosen Ausdrücke steigerten den Zorn der Prinzessin aufs Aeußerste. Durch ein wildes Peitschen ließ sie in diese welke Nacktheit jede Zote, die sie von sich gab, wieder eindringen: eine heftige Wollust kam über sie, als sie dieses Fleisch unter ihren Schlägen zucken fühlte und sich mit langen Streifen färben sah, die zuerst rot waren, bald aber violett wurden.

Die Dienstboten, die in Italien klug sind, hatten sich zurückgezogen; nur Julioti, der Kutscher, dem Gaga eines Abends, als der Herzog abwesend war, eine Gunst erwiesen hatte, glaubte sich zwischen die Peitsche und die Sünderin stellen zu müssen. Leonora, empört, daß ein Diener dazwischen trat, schlug ihn mit der Peitsche ins Gesicht.

Diese Ablenkung benutzte Gaga, um zu entfliehen.

Leonora verfolgte sie durch die Säle und erreichte sie in dem Augenblick, als jene die Treppe berührte. Mit ihren aufgelösten Haaren, ihrem Korsett aus blauem Atlas, das ihrer erzengelhaften Schlankheit eine Art Panzer gab, schien sie eine von denen zu sein, die auf den Fresken Heliodor18 züchtigen. Sie trieb das Mädchen in einen Winkel des Treppenabsatzes und schlug auf dieses Kreuz einer Prostituierten furchtbar ein, berauscht von dem schrecklichen Geschrei, das auf ihre Schläge antwortete. Endlich wurde ihr Arm müde und fiel zurück; das Mädchen stürzte sich rollend die Treppe hinunter.

Leonora sprang vor, aber eine Schwäche überkam sie: mit der einen Hand klammerte sie sich an die Rampe, mit der andern schleuderte sie ihre Reitpeitsche dem Mädchen nach, das in der Kniekehle getroffen wurde und in die Knie sank. Leonora selbst fiel ohnmächtig, den Fuß verstaucht, in Sarkis Arme.

Sie fand ihr Bewußtsein nur wieder, um in eine Nervenkrisis zu fallen.

Als sie wieder zu sich kam, sagte sie zu Sarkis:

– Lassen Sie anspannen!

Der mußte sie in den offenen Wagen tragen, in dem er ihr gegenüber Platz nahm.

Julioti, mit der Narbe des Peitschenschlages, der ihm das Gesicht zerfetzt hatte, wartete auf die Befehle der Prinzessin.

– Poggio imperiale19, sagte Leonora.

14. Lafontaine 8. 20, 45: Wolkensammler, Jupiter.

15. Parkanlagen in Florenz.

16. Kleines Theater für allerlei Vorstellungen.

17. Wortspiel: Gaga = Kuchen, à gogo = in Hülle und Fülle.

18. Raffael, Heliodor, Vatikan: Vertreibung des syrischen Feldherrn Heliodor aus dem Tempel von Jerusalem: Makkabäer II, 3.

19. ›Kaiserhöhe‹, im Süden von Florenz, südlich der von Poggio 1868 erbauten Hügelstrasse Viale dei Colli.

Das höchste Laster

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