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BARBARA

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Barbara sitzt auf einer nigelnagelneuen, dunkelgrünen Liege mit cremefarbenen Polstern, auf deren Waschzettel das Wort »Luxus« steht, und schaut starr geradeaus, über ihren Körper und den Pool hinweg, hinein ins Gebüsch, als wäre da was, doch da ist nichts. Sie zieht zur Beruhigung an ihrer dünnen, pastelllilafarbenen Zigarette der Marke Vogue, woraufhin ihr ein tiefer, aufgebender Seufzer entkommt, als wüsste sie, dass sie gleich erledigt ist und zwar so richtig.

Die unbegründete Ahnung einer nahenden Katastrophe hat von ihr Besitz ergriffen, und Barbara ist darüber erleichtert, weil sich überhaupt was regt. Barbara lässt die Angst nicht mehr los, besser als sich an gar nichts mehr klammern zu können. Wenigstens eine Konstante im Leben. Und weil es mit der Angst als Begleiterin nie langweilig wird, steigert sie sich in besonders faden Momenten in sie hinein bis ins Unermessliche. Hinter jedem Schatten vermutet sie einen Mörder, von jedem Baum könnte sie in der nächsten Sekunde erschlagen werden, und in ihrem eigenen Pool sieht sie eine Todesfalle.

Die Zigarette geht aus, sie steckt sich eine neue an. Jetzt ist es auch schon egal, ob der Krebs noch kommt. Vielleicht wär’s sogar besser. Die Vorsorgeuntersuchung hat sie abgesagt. Jetzt will sie auch nicht mehr gerettet werden. Wenigstens ist es angenehm mild. Klimawandel sei Dank sitzt sie heuer schon im Februar draußen.

Im Gebüsch raschelt’s. Barbara ist bereit und wackelt nervös mit dem rechten Bein, das sie über das linke geschlagen hat. Sie schaut so angestrengt, dass sich ihr Oberkörper langsam nach vorne bewegt und sich ihre Augen dabei verengen.

»Barbara! Jetzt sei nicht peinlich!«, schallt es da, »Es kommt kein böser Geist, um dich zu holen, der Postbote kommt gleich, das ist alles, und da vorn sitzt wahrscheinlich eine Amsel drin und du scheißt dich gleich an. Was soll denn das! Du bist doch eine erwachsene Frau!« Endlich, denkt sich Barbara, die zutiefst erschrak und eine erholsame Gänsehaut am ganzen Körper spürt, da ist sie wieder, die scheltende Stimme vom D. – sie wusste doch, dass gleich was kommt. Sie hat es immer schon gewusst. Dass der sich nicht abschütteln lässt, denkt Barbara und zieht an der Vogue. Im Gebüsch raschelt’s weiter. Und dann: absolut nichts zu sehen. »Sag ich’s doch! So eine Aufregung wegen nichts!« Der D. ist tot und zetert trotzdem in ihrem Schädel herum – das Leben ist wirklich ungerecht.

Doch Barbara ist erleichtert, die Stimme ihres toten Mannes hört sie immer noch so klar. Warum war der eigentlich immer so lästig? So leicht reizbar? Das Wippen ihres Beines wird langsamer, bis es schließlich aufhört. Barbara ist sich gar nicht mehr sicher, ob es überhaupt im Gebüsch geraschelt hat. Denn es ist schön ruhig hier auf der Terrasse, eines Morgens stand sogar ein Reh vor den Büschen. So eine Idylle nennt Barbara ihr Heim. Dass das Reh heimlich die Jungpflanzen frisst, ist ihr noch gar nicht bewusst.

Da der Pool, da die zweite Liege – völlig unbenutzt. Da blühen später die Rosen, und da hinten haben D. und Barbara einmal den Kater und die Katze beerdigt. Der Kater war dick, ein wandelnder Hocker auf vier Beinchen, so sah der aus mit seinen langen Haaren, ein Quadrat, und mit einem Schnurren so laut wie ein Motor. Und die Katze war grazil, irgendwie elegant und wenig verschmust, die wollte mehr Action. Ganz wie D. und Barbara, er ein Hocker, sie so abenteuerlustig. Sie weiß gar nicht, wann die Tiere verstorben sind. Zeit ist für Barbara weniger greifbar denn je. Die Zigarette geht aus, sie steckt sich eine neue an. Was soll’s. Ist eh schön. Mir geht’s gut, denkt sich Barbara. Schöner wär’s nur, wenn die Sonne noch ordentlicher scheinen würde. Heute hängt so ein diesiger Dunst, gänzlich unattraktiv. Spuken kann’s auch bei Sonnenschein. Es muss nicht immer trüb sein.

Sie lehnt sich zurück und wackelt wieder nervös, ihre Hand streift über den Poolliegenaufsatz. So gemütlich. Die Zigarette hängt ihr von den Lippen, der Blick hängt an ihren lackierten Fingernägeln.

Mit einem Satz und einem Jauchzen springt ein weißer Spitz aus dem Gestrüpp, rennt schnurstracks auf sie zu und hechelt aufgeregt. Wer weiß, ob vor Freude oder Durst oder Tollwut, und tut dabei so, als wär das ein ganz gewöhnlicher Vorgang. Als wären sich die beiden schon längst bekannt.

Barbara, die sich so gern fürchtet, hat sich nicht erschrocken, betrachtet den freudig umherhüpfenden Spitz, nimmt erst mal lässig die Kippe aus dem Mund und drückt sie im winzigen Marmoraschenbecher aus, der auf dem Tischchen neben ihrer Liege steht. Der Hund gibt sein Bestes. Er setzt sich artig zu Barbaras Füßen und schaut sie an. Mund auf, Mund zu, Zunge raus, hechel, hechel, die Zunge fährt über ihre Hand. Barbara ist erst in diesem Moment völlig überwältigt und stößt einen spitzen Schrei aus. Jetzt begreift sie erst: Ist die Strafe Gottes ein kleiner, weißer Zuchthund? Der Hund hat keine Ahnung von der tiefen Angst, die sich in Barbara breit zu machen scheint, ist er nur Entzückung und Lobhudelei gewohnt, er schleckt ihr deshalb sanftmütig über das Bein, um ihr die benötigte Zuneigung zu entlocken. Das erinnert Barbara an ihre Krampfadern, und sie lässt die Zuneigung über sich ergehen, als wäre das die verdiente Folter. Sie versucht, sich dran zu erinnern, in welchen Gestalten der Teufel sonst immer auftaucht. Sie hat wohl völlig vergessen, dass sie längst aus der katholischen Kirche ausgetreten ist und sich eigentlich gegen den Glauben entschieden hat. Aber in so einer Gegend, da am Starnberger See, da kann wirklich gut an einen Gott geglaubt werden, so schön ist es da. Und so ein Hund, so ein herangezüchteter, ist ja auch wirklich nicht von dieser Welt.

Der Hund hat keine Zeit für solche Erwägungen, der braucht Nahrung und setzt auf mitleiderregendes Winseln, was sogar die Barbara zurück in die Realität bringt. Kirche! Jesus! Gott!, sie schüttelt den Kopf und wundert sich mehr über sich selbst als über ihren neuen Begleiter. Endlich kommt der Sinn fürs Wesentliche zurück. Sie leert den Aschenbecher in den Pool, den wird sie so schnell eh nicht mehr betreten und steht auf, der Hund springt in die Höh, Barbara geht zur Terrassentür, öffnet diese, geht hinein, nickt dem Hund zu, der keine Einladung mehr gebraucht hätte, und so verschwinden die beiden im Haus. Barbara weiß, was zu tun ist: Küche, Kühlschrank, Fleisch von gestern.

Sie weiß, wie sie das Gewinsel ums Essen abstellen kann.

Das hat sie ihre ganze Ehe lang gewusst. Gefressen wird doch immer gleich.

Dem Hund ist alles Wurst, der stürzt sich auf den Teller, den Barbara just auf den Boden stellt, und frisst in Windeseile alles auf. Sie steht neben ihm, die Hände ineinander geschlagen und ganz gerührt von so einem Appetit. Ein vergessenes Glücksgefühl. In der Zwischenzeit macht der Postbote am Briefkasten herum, und Barbara schaut auf die Uhr. Erst elf. Der Tag ist noch so lang. Der Briefträger ist pünktlich. Brav und vorbildlich. Langweilig und vorhersehbar. Sie schneidet dem Hund noch ein bisschen mehr Fleisch auf. Der Hund liebt sie gerade sehr. Und das fühlt sich gut an.

Also, was ist jetzt zu tun? Wo wird ein fremder Hund gemeldet? Kann schon sein, dass er einer Villentante von einem Seegrundstück abgehauen ist, da würde ich auch fliehen, so ausgschamt san die da drüben – aber dann kommt der ausgerechnet hier an? Das ist ja viel zu weit weg. Hinter dem Gebüsch ist nichts. Ganz lange nichts. Und auf der anderen Seite, also vor dem Haus, da kenn ich mich aus. Da hat niemand so einen Hund. Noch nie gehabt. Der war auch noch nie zu Besuch, des hätt ich doch mitbekommen. Der wird ja nicht an der Loisach entlang spaziert sein bis hierher. So ein Schoßhündchen überlebt doch nicht in der echten Welt. Ach, Schmarrn! Ein bisserl dreckig ist er, aber nicht dreckig genug. Geh, Blödsinn, der ist doch ned durchs Unterholz geirrt. Vielleicht hat ihn jemand an der Bushaltestelle ausgesetzt. Oder einfach hinausgschmissen ausm Auto. Ja, freilich. Was meinst, was der frisst. So ein Rassehund. Sicher nur das Allerfeinste. Irgend so eine Wohlstandsverwahrloste wird den schon verhätschelt haben. Naja, jetzt sagen wir’s mal so: Der Hund kam aus freien Stücken hier an, dann darf er auch bleiben. Jawoll. Ich helfe, wo ich kann. Mei, jetzt schaut er wieder so liab. Vielleicht no a Radl Wurst?

Sie stellt ihm die neu gefüllte Schüssel hin, und der Hund macht keine Anstalten, irgendetwas anderes zu wollen. »Da schau her, Hundi, feines Fleischi!« Der Hund weiß, was feines Fleisch ist. Vielleicht hat er auch tatsächlich ein gutes Gespür fürs Timing, weil lange hätte es Barbara nicht mehr ausgehalten, dann hätte sie vor lauter Langeweile erst ernsthaft Angst und dann wohl doch noch einen Vogel bekommen – und hätte sich wahrscheinlich selbst niedergestreckt. Sie erwartet so sicher eine Bestrafung, dass sie sich permanent selbst bestraft. Eine Bestrafung, weil sie noch lebte, den D. beerdigte, weil sie nicht zuckerkrank ist, weil sie sich auch ein bisschen freut, allein zu sein, den D. nicht mehr im Haus zu haben. Der Ehegatte hat sich überfressen. Passiert. Das ist kein Einzelfall. Und dem hat’s immer geschmeckt. Der D. hat bis zum Schluss versichert, wie fein alles schmeckt. Sie hat ihn zu nichts gezwungen, nein, es war eher umgekehrt: Er hat das Essen eingefordert. Sonst war er noch lästiger. Und wer will freiwillig so einen Grantler zuhause sitzen haben?

»Jetzt muss einmal die Kirche im Dorf gelassen werden. D. war ein erwachsener Mann, der sich selbst in den Tod gefressen hat. Barbara ist lediglich ihrer fraulichen Pflicht nachgegangen und hat für ihn gekocht – das fordert ihr doch von euren Frauen! Ich würd euch alle vergiften!« Das hat Jolie gesagt, kurz nachdem sie auf den Tisch geschlagen hat wie ein Kerl, als die Männer Barbara als Todes-Köchin, als Todes-Gattin verhöhnten. Dann blieb es für einige Minuten mucksmäuschenstill im Wirtshaus. Jolie atmete schwer und setzte sich aufrecht hin, die Männer schauten bedröppelt und erschrocken. So wie Emma, die gar nicht wusste, wie ihr geschah. Jolie reiste ein paar Tage später wieder ab und damit verstummten auch die empörten Männer, die so eine freche Aktion überhaupt nicht gutheißen konnten, aber da hatte die freche junge Frau längst einen Keim in Barbara und in Emma gepflanzt. Barbara merkte, dass sie der Tod des eigenen Mannes auf ungeahnte Weise auch erleichterte. Der Keim sprießt. Die Realität als Witwe. Eine einsame Frau ohne Chance auf eine neue Liebe, denn die gibt es für Frauen in ihrem Alter nicht noch einmal.

Der Spitz ist fertig mit Fressen und möchte jetzt den Bungalow inspizieren, den er sich als neues Heim ausgesucht hat. Barbara folgt ihm und ist zufrieden über die Abwechslung, auch etwas verunsichert, wer weiß, ob der überhaupt stubenrein ist.

Sie greift nach dem Telefon, denn wenn sie eins nicht kann, ist das, gute Neuigkeiten für sich behalten: »Emma, pass auf: Da steht der plötzlich auf meiner Terrass’n, hab ich mich erschrock’n, kannst dir vorstell’n. Hüpft der da aus dem Gebüsch heraus, wie ich nichts-ahnend auf der Liege lieg und mich entspanne. Ja, na freilich, was soll ich denn sonst tun? Aber schau in sei liabs G’sicht, da zergeht dir’s Herz! Ja, eh, wart, ich schick dir gleich ein Foto, gleichzeitig geht das nicht. Du, ganz ehrlich: Ich hab keine Kinder, ich hab Geld auf dem Konto, ich nehm den Hund schon auf, das darfst mir glauben! Mein neuer Freund wird das. Treuer Begleiter, oder? Mei, so liab. Naaa, ich weiß nicht, wem der gehört. Ja, wenn ich’s dir doch sage, da ist keine Hundemarke. Na, die Polizei, so ein Schmarrn, als würden die sich jetzt mit so einem Schoßhündchen herumschlagen wollen, die haben wirklich was Besseres zu tun. Ins Tierheim? Bist narrisch. Das überlebt doch so ein feiner Hund gar nicht. Wenn du den jetzt sehen könntest, würdest nicht so damisch reden. Ich schick dir jetzt ein Bild, weil ich muss sowieso auflegen. Wir hören uns, gell? Ja, freilich sehen wir uns am Freitag. Na, sofort passt’s mir eigentlich nicht. Heute hab ich wirklich gar keine Zeit für einen Besuch. Na geh! Hör auf. Wirklich? Mei, das ist ja schad. Woher weißt du das? Na, sowas aber auch. Du, das tut mir jetzt wirklich leid, aber ich muss wirklich auflegen, weil der Hund ist jetzt irgendwo, und der kennt sich hier nicht aus. Ja, genau. Alsooooo, bis dann! Ja. Na, eh. Durchhalten, gell? Servus!«

Barbara ist stolz darauf, wie gut ihr schon wieder die Telefonate gelingen und wie gut sie diese Mitleids-Besuche abwimmeln kann. Sie braucht jetzt kein Mitleid. Sie braucht Abwechslung, und die hat sie jetzt. Dank dem Herrn. Sie lacht. Haha, als würd ich an den Herrgott glauben. Fröhlich spaziert sie durch ihr eigenes Haus und schaut in jedes Zimmer wie an Ostern, wie ein Kind auf der Suche nach der versteckten Süßigkeiten.

Dann entdeckt sie das süße Unschuldslamm: Der Hund liegt schon auf dem Bett und hebt kurz den Kopf, als Barbara ins Zimmer tritt. Der Hund weiß allerdings eh, dass er nicht vom Bett gestaubt wird, und legt den Kopf wieder ab. Barbara tätschelt sein Köpfchen und da kommt ihr erst, dass sie sein Fell noch gar nicht berührt hat. Meine Güte, ist das weich. Und fluffig. Wo ist denn da der Körper, fragt sich Barbara, der Hund, der ist ja weniger als nichts. Sie legt sich auch auf’s Bett, lässt sogar die Schuhe an. Wozu liegt da denn eine Tagesdecke, wenn nicht dafür. Hündchen und Frauchen schauen sich zufrieden an. Gut ist’s. So könnt’s bleiben. Schade, dass so ein Hund nicht schnurren kann. Irgendein Geräusch der Zuneigung wär jetzt schön. Barbara flüstert Liebkosungen in die Stille. Das Hündchen schmatzt zufrieden.

Dass Barbara mal einen so prächtigen Zuchthund hätte, das hat wirklich niemand geahnt. Frauchen und Hündchen schließen die Augen und dösen, bis sie beide einschlafen. Den Luxus eines Schläfchens am helllichten Tage hat sich Barbara bis vor D.s Tod kein einziges Mal in ihrem Leben gegönnt. Wie gut sich das anfühlt, einfach himmlisch, denkt sie sich und schlummert ein.

Dass Barbara nicht im Himmel angekommen ist, wird ihr klar, als sie vom Kratzen an der Terrassentür, in Verbindung mit dem ihr noch nicht geläufigen Winseln geweckt wird und in ihr sofort Alarmbereitschaft herrscht. Der Hund muss pieseln. »Obacht! Jetzt aber raus, sofort, mach mir ja nicht auf den Teppich, sonst war’s das mit uns beiden, Freundchen. Weißer Flokati. Wehe, du scheißt mir in die Bude!«

Sie springt aus dem Bett, reißt eine andere Terrassentür auf. Der Hund schießt sofort in Richtung des Gebüschs, aus dem er vorhin heraussprang und verrichtet sein Geschäft. »Hast mir eh nicht ins Bett, oh weh, lieber gleich nachschauen.« Sie tastet die Bettwäsche ab. »Puh, Glück gehabt. So ein Braves!« Barbara ist dermaßen erschrocken, erst über eine potenziell nasse Tagesdecke, dann weil sie befürchtet, ihr neuer Begleiter rennt jetzt einfach denselben Weg zurück, dorthin, woher er eben gekommen ist, und sie würden sich nie wieder sehen, so rennt sie in die Küche und greift nach einer Packung Wurst, eilt auf die Terrasse, reißt das Papier auf und lockt das Hündchen so, wie sie einst ihren Mann anlockte: mit dem Versprechen auf eine Gaumenfreude, auf ein bequemes Leben, auf nie enden wollende Bedienung. Auf puren Mittelstandsluxus. Sie raschelt und ruft und müht sich ab, völlig überflüssig.

Der weiße Spitz kommt dahergetappt und schnappt gierig nach der Wurst, Barbara lässt ihn hüpfen und springen, und es erfüllt sie mit so einer großen Freude, dass sie erst jetzt bemerkt, wie spät es eigentlich ist. Sie manövriert den Hund ins Haus, legt ihm noch ein paar Scheiben unterschiedlichen Aufschnitts auf seinen Teller wie einst D. und verlässt den Bungalow. Seit Langem war sie nicht mehr so motiviert, in die Welt hinauszutreten.

Heute aber. Endlich eine Aufgabe. Und zwar eine große.

Eilig marschiert sie zum Auto, steckt sich eine Vogue an, fährt aus der Einfahrt und in Richtung Industriegebiet. Nächster Halt: Haustierbedarf. Im Radio kommen Powerballaden der 80er. Oh, sie fühlt sich gut und singt mit. Wann hat es so etwas zuletzt gegeben? Das fragen sich nicht nur die Nachbarn, die sie so eilig davonbrausen sahen, sondern auch diejenigen, die sie singend an Ampeln angaffen.

Den Weg kennt sie blind. Durch die Wohngebiete, über die Brücke, an der Gärtnerei, am Möbelhaus mit großem Sonderverkauf vorbei, an den Fast-Food-Ketten entlang zum Baumarkt, dahinter der Discounter, das Back-Center, und da kommt er auch schon, der Laden für Mausi, Katzi, Hundi und alles Mögliche dazwischen, neben dem Schuh-Outlet, dem Mega-Action-Markt und den Billig-Kleiderläden, aus denen der Plastikgeruch über den gemeinsamen Parkplatz weht. Hier reihen sich auf der einen Ortshälfte die Konsumtempel aneinander, damit auf der anderen die Villen mehr Platz und Strahlkraft haben. Diese Verteilung kommt bei den Einheimischen gut an. Auch die Touristen, die sich gar nicht erst in den geschmacklosen Bereich außerhalb des historischen Ortskerns und der guten Viertel mit Seezugang verirren, schätzen diese Klarheit an dem sauberen altbayerischen Städtchen. Doch die, die hier leben müssen, die sind der Hässlichkeit und der Tristesse schonungslos ausgeliefert. Arme Hunde. Arme Säue, hat D. sie genannt.

Fast am Ziel kommt ihr plötzlich ein Polizeikonvoi entgegen mit Blaulicht, Sirene, allem, was dazu gehört. Barbara weiß, wie sie sich zu verhalten hat. Am liebsten würde sie umdrehen und der Polizei hinterher, schauen, was sich zugetragen hat, wie früher, als D. und sie noch gemeinsam ins Auto gesprungen und der Sirene hinterher sind. Ohne D. macht das Gaffen keinen Spaß, weiß die Witwe und fädelt sich stattdessen in die Linksabbiegerspur ein, um in den Parkplatz vom Mega-Center zu rollen. Die Zeiten sind vorbei, jetzt lebt sie ein neues, ein anderes Leben. Da weht schon der Duft vom Grillhendl-Stand herüber. »Nimm mich mit!«, steht da drauf. Heute nicht, sagt Barbara zu sich selbst.

Während sie das Auto verriegelt und zur großen automatischen Schiebetür blickt, denkt sie über das Glück nach, das ihr so ein Tier bringen wird. Die unbedingte Liebe, der Gehorsam, die Liebkosungen, die Abhängigkeit.

Zur Sicherheit holt sie sich einen großen Einkaufswagen und strebt sofort nach Betreten des Tiercenters in die Hundeabteilung. Die Musik ist ausgesprochen gut gewählt, und alle Besucher erscheinen grundsätzlich glücklich. Kinder suchen Spielzeug für ihre Vier-beiner, ein Paar steht vor den Vogelkäfigen, also Vögel im Käfig, das ist wirklich Tierquälerei, und da sieht sie eine sehr elegante Frau, die einen Spitz an der Leine führt. Barbara pocht das Herz. Auch sie wird so aussehen. Die Dame lacht herzlich. Der Hund wird von ihr hochgehoben, beide knuddeln sich, und da bellt der einmal – zuckersüß! – und die Frau wirft einen Ball, das Hündchen läuft los. Das Video über Hund und Frauchen läuft auf einem kleinen Monitor am leeren Info-Counter. Als nächstes wird ein Mann mit einem Bernhardiner gezeigt. Der Hund ist viel zu groß.

Das Tier braucht ein Schlafkörbchen, eine Decke, einen Fressnapf, Spielzeug. Barbara kann sich bei allem zügig entscheiden und greift stets zur drittteuersten Ausführung. Das ist nicht so protzig und doch besser als der Durchschnitt. Ihr neuer Liebling darf schon was kosten, aber angeben muss sie auch wieder nicht. Vor den Tierfutterregalen bleibt sie zum ersten Mal ratlos stehen. Sie möchte keinesfalls einen Fehler machen, entschließt sich schließlich für eine Marke, die einen weißen Spitz auf ihrer Verpackung abbildet. Die müssen’s ja wissen. Und kehrt noch zwei Mal zurück, um mehr Futter in den Wagen zu werfen, wer weiß, was der frisst.

Sie stattet sich aus, als hätte sie eine Spitzzucht eröffnet. Erst bei den Halsbändern realisiert sie, dass sie das Geschlecht ihres Hündchens nicht kennt. Barbara ist enttäuscht. Sie wünscht sich so sehr ein Mädel, mit einem rosa Band, einer rosa Leine und für besondere Tage vielleicht sogar das strassbesetzte Exemplar. Sie wählt ein Set in schwarz und eins in braun, wirft im letzten Moment aber das rosafarbene in den Einkaufswagen. Dem Hund is doch egal, was er trägt. Am allerliebsten würde sie auch noch so ein herziges Namensschildchen gravieren lassen, greift stattdessen zu einem Ratgeberbuch für Hundenamen. Kurz soll der Name sein und die edle Ausstrahlung des Wesens erfassen.

Gloria würde passen, weil der Hund so neugierig ist und Barbaras Rätselheft so heißt. Wahrscheinlich hat der Hund einen saudummen Namen, so was wie Madame, Bella oder Mini. Ich werd den schon umbenennen können. Nur eine Frage der Erziehung. Eine Frage der Fürsorge. Meine kleine Gloria wird gar nicht mehr weg wollen von mir. Nein, die wird es so gut haben wie der D.

Sie legt den Ratgeber zurück und lässt sich ihre Grundausstattung in Tüten einpacken, schaut gar nicht auf den Preis, reicht nur die EC-Karte, schiebt anschließend den Einkaufswagen über den Parkplatz und kann es kaum erwarten, zuhause anzukommen und Gloria zu beschenken. Wie der Hund schauen wird, wenn sie ihm die Leckerli bringt und das schöne ergonomische Hundebett, das intelligente Spielzeug und die weiche Decke.

Raus aus dem Parkplatz, blaue Stunde. Sie fährt durch die Ortschaft, wieder vorbei an den unzähligen Einkaufsmöglichkeiten, lässt den Industriepark hinter sich und will auf die Landstraße abbiegen, da wird sie von der Polizei weitergewunken und muss einen Umweg in Kauf nehmen.

Na sowas, was ist denn jetzt schon wieder passiert? Heute wird es ihr wirklich nicht leicht gemacht, doch sie kann widerstehen, bleibt nicht stehen und fragt nicht nach dem Grund. Auf dem Land kennen sich alle, nicht wahr? Da darf jeder ein bisschen neugieriger sein. Und das kann auch schnell gefährlich werden. Nicht dass der Polizist fragt, was das ganze Hundezeug da soll. Freundlich winken und weiter geht’s.

Der Umweg beschert ihr einen Blick auf die Berge, die heute viel näher erscheinen, als würden auch sie diesen Tag zu etwas ganz Besonderem machen wollen. Die Greifvögel sitzen erhaben am Straßenrand, und kaum ein Auto kommt ihr entgegen. An was für einem wunderschönen Fleck Erde ich lebe, denkt sich Barbara, das hier ist das Paradies. Kein Wunder, dass die Gloria ausgerechnet zu mir gekommen ist. Logisch!

Und schon biegt sie ab, in die eigene Idylle und parkt ihr Sportauto vor dem Bungalow. Sie trägt Tüte um Tüte zur Haustür, blickt sich um, niemand zu sehen. Wo steckens denn alle? Und mit dem Öffnen der Haustür kommt auch schon Gloria dahergelaufen und springt eifrig dem neuen Frauli die Beine hoch. Barbara spürt in diesem Moment, dass der weiße Spitz gar keine Intention hat, wieder zu gehen. Die beiden gehören zusammen, das Schicksal hat sie zusammengeführt. Das hier ist nicht die Ausgeburt des Teufels, das ist vielleicht der Hund gewordene D.! Sie bringt die Einkäufe ins Haus und setzt sich erst einmal in die Küche. Verschnaufpause. Der Spitz schnuppert an den Tüten. Fernseher an. Der Spitz springt auf die Eckbank und legt sich hin auf den alten Platz vom D. Das ist ein Zeichen. Aber darüber kann Barbara nicht weiter nachdenken. Jetzt kommen die Nachrichten. So mag es Barbara. Schön stillhalten, wenn die Neuigkeiten verkündet werden und sie sich ordentlich über die Anderen wundern kann.

Die Ruhe und Entspannung sind nur von kurzer Dauer. Die Moderatorin berichtete soeben noch vom Aktionsplan Wolf, die vom Bauernverein geforderte Tötungserlaubnis, da schwenkt die Kamera auch schon auf ein stattliches Grundstück aus Barbaras erweiterter Nachbarschaft. Freilich, das Haus hinter der polizeilichen Absperrung ist nicht gerade einen Katzensprung entfernt, aber es gehört zum gleichen Landabschnitt, genauer gesagt zum selben Landkreis. Ein schönes Haus, eine alte Villa mit privatem Seezugang, muss ein Vermögen gekostet und jährlich noch eins verschlungen haben. Das Bild zeigt Polizisten, Spurensicherung, eins der Autos, das zum Haus gehört. Typische Tatortaufnahmen. Die Moderatorin spricht von Überfall, Raubmord, Todesopfern, eingeschlagenen Scheiben, Blut, gestohlenen Gütern, gestohlenem Barvermögen, bittet um Informationen. Sie zeigen ein Archivfoto: Mann mit breitem Lächeln und Escada-Golf-Käppi. Dann ein anderes: Frau im Kostüm mit Hut und, jetzt erschrickt sich Barbara, mit einem weißen Schoßhündchen. Um dringende Tathinweise wird gebeten, schließlich handelt es sich bei dem Paar um ruhige, angenehme Nachbarn, die seit Jahren hier ihre Wochenenden und Ferien verbrachten. Hoffentlich, so die Moderatorin, ist das nicht der Anfang einer Überfallserie. So was Tragisches, Mord aus Habgier, aus Eifersucht, aus Tobsucht, aus Versehen? Und das wäre auch in der eigenen Nachbarschaft möglich, hier ist das alte Geld, huch, Barbara wird es ganz klamm ums Herz. Zur Aufmunterung ein Bericht über die Rückkehr der Goaßmaß, der Weltrekord im Maßkrugstemmen und die Frage, warum die Österreicher mehr Rente kriegen. Es folgen Sport, Wetter und ein lustiger Spruch aus dem Bauernkalender. Das waren die Tagesnachrichten, schönen Abend, bis morgen, Mahlzeit, gesund bleiben und nach vorne schauen!

Barbara schaut abwechselnd den Hund und den Fernseher an. Der Hund döst. Es rattert im Hirnkastl. Der Hund merkt nichts. Dann endlich Freude, Barbaras Mund verzieht sich zu einem Lächeln, wie es schon lange nicht mehr durchkam: Ja, das ist sich jetzt super ausgegangen. Die alten Besitzer sind tot. Keiner wird nach dem Hündchen suchen. Es wurde nicht einmal über dich gesprochen. Außerdem sind’s, was sag ich, waren’s Wochenendler! Des war’n gar keine von uns!

Es läutet das Telefon, Emmas Name wird angezeigt. Barbara hebt ab, die Freundin redet, Barbara hört kaum zu, Emma hat soeben die Nachrichten gesehen, ist das der Hund?, Barbara schaut den Hund an, Emma sagt, sie müsse den Hund jetzt sogar behalten, sonst käme er ins Tierheim, Barbara stimmt ihr zu, Emma sagt, sie möchte morgen vorbeikommen, Barbara hat nichts mehr dagegen, Emma freut sich für Barbara, Barbara freut sich auch, Emma sagt, der Hund wird ihr helfen, nicht dumm zu werden oder ungeduldig oder gemein. Barbara verabschiedet sich. Barbara ist unermesslich glücklich. Manchmal trifft’s die Richtigen, jawoll! Da gibt’s gleich noch ein Leckerli fürs Hundi.

Sie setzt sich zu ihrem Hund an den Küchentisch, streichelt das weiße Tier und holt den Erdbeerschnaps aus dem Schrank in der Eckbank. Um ein Glas bemüht sie sich erst gar nicht und trinkt einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Gloria legt den Kopf auf ihren Schoß, Barbara greift nach den schönen Zigaretten und raucht genüsslich. So hat sie sich ihr Leben vorgestellt. Wenn das nur der D. sehen könnte. Wenn der wüsste, was er verpasst. Sie streichelt das Köpfchen des Hündchens und lässt sich das Gesicht abschlecken. Gierig nach Zuneigung, streckt sie sogar ihre Zunge ein Stück weit heraus. Fast wie ein Kuss, denkt sich Barbara und desinfiziert ihren Mund mit einem Schluck Selbstgebranntem. Danke D., denkt sie sich.

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