Читать книгу In einer Stunde tot - J.P. Conrad - Страница 4
II.
ОглавлениеAus irgendeinem Grund war es hier im Park viel kühler als auf der Straße. Ich fühlte mich fast so, als wäre ich mit einem Schritt in einer anderen Klimazone gelandet. Ein Frösteln überkam mich, trotz meines Übergangsmantels und mein Atem fing an, in der Luft zu kondensieren.
Ich dachte mir in diesem Moment aber nichts weiter dabei und lief schnell los. Wer in Bewegung bleibt, dem wird auch nicht kalt, sagte ich mir.
Es war sehr still im Park; totenstill. Natürlich wusste ich, dass der Verkehr durch den schweren Unfall zum Erliegen gekommen war und daher auf dieser Seite des Parks keine Geräusche von fahrenden Autos zu hören sein konnten. Aber auch sonst war es ruhig: Keine Sirenen, keine Halloween feiernden Menschen. Nichts. Lediglich meine Schritte, die gleichmäßig auf dem Kiesweg knirschten, waren zu vernehmen und so konzentrierte ich mich auf sie, während ich lief.
Zunächst begegnete ich niemandem auf meinem Weg, was selbst für diese Uhrzeit ungewöhnlich war. Wo waren die Nachtschwärmer, die Hundeausführer oder zumindest die rumlungernden und Alkohol trinkenden Rowdys?
Nachdem ich ein paar Minuten gelaufen war, vernahm ich mit einem Mal Schritte hinter mir. Sie waren plötzlich da gewesen, sie hatten sich nicht genähert. So, als ob jemand in einem Gebüsch gehockt hätte… Ich drehte mich aber nicht um und legte lieber noch einen Zahn zu. Dabei zog ich meine Handtasche vor mich und kramte während des Laufens nach der kleinen Dose mit Pfefferspray; nur zur Sicherheit. Immerhin war hier im Park vor nicht allzu langer Zeit nachts schon einmal ein Mädchen vergewaltigt worden. Gar nicht so weit weg von mir; beim Boathouse Café am großen Teich.
Während ich noch mit Schaudern an den Zeitungsbericht dachte, passierte etwas, das mein Herz für einen Schlag aussetzen ließ: Ich spürte den warmen Atem von jemandem in meinem Nacken. Schnell fuhr ich herum, das Pfefferspray schützend vor mich haltend.
Doch dort war niemand.
Hatte ich mir das nur eingebildet? Ich hätte schwören können, jemanden hinter mir wahrgenommen zu haben, ganz dicht bei mir. Und ich hatte doch auch Schritte gehört. Aber ich war alleine, daran bestand kein Zweifel; der Weg war menschenleer.
»Du wirst schreckhaft.«
Mein Pulsschlag normalisierte sich allmählich wieder und nachdem ich mich vergewissert hatte, dass auch aus keiner anderen Richtung Gefahr drohte, packte ich das Spray wieder weg. Ich drehte mich in meine Laufrichtung um und stieß im selben Augenblick mit jemandem zusammen. Vor Schreck entfuhr mir ein leiser Aufschrei. Es war eine junge Frau mit blonder Ponymähne, einem Zungenpiercing und Flashtunneln in den Ohrläppchen, die einen kleinen Hund, einen Mops, an einer Leine hielt. Ich hatte sie nicht kommen gesehen.
»Oh, Entschuldigung!«, sagte die Frau peinlich berührt. »Meine Chloé läuft einfach immer, wie sie will.«
Ich warf einen kurzen, stummen Blick auf den hechelnden und nach meiner Auffassung viel zu dicken Hund und sagte: »Nichts passiert.«
In diesem Moment fing das Tier an zu knurren und im nächsten fletschte es laut mit den Zähnen. Sein Frauchen konnte gerade noch geistesgegenwärtig die Leine fester umklammern und riss den nun wie von Sinnen geifernden Hund zurück.
»Chloé! Spinnst du? Was soll das?«, schimpfte die Frau mit dem Mops. »So etwas hat sie noch nie gemacht«, versicherte sie mir angestrengt und mit aller Kraft an der Leine zerrend.
Ich glaubte ihr, denn sie war ebenso erschrocken über die plötzliche Attacke auf mich, wie ich selbst. Sie hatte große Mühe, den Hund von mir weg, weiter den Weg entlang, zu zerren. Noch nach einigen Metern hörte ich das aufgebrachte Tier in meine Richtung bellen.
»Ich hasse Hunde«, fuhr es mir in den Sinn. Wieder einmal hatte sich meine Abneigung gegenüber diesen Vierbeinern bestätigt. Ich hatte zwar selbst keine Haustiere, aber wenn, hätte ich mir viel eher eine Katze zugelegt.
Mit noch immer reichlich Herzklopfen ob dieser Begegnung, setzte ich meinen Weg fort.
Wieder war ich ein Stück gelaufen, als ich plötzlich jemanden rufen hörte. Nie hätte ich darauf reagiert, da ich von Natur aus nicht sonderlich neugierig bin. Doch es war mein Name, der dort durch das Zwielicht des Parks hallte:
»Cara! Cara! Hörst du mich?«
Ich hörte es genauso deutlich, wie ich kurz zuvor den Atem einer Person in meinem Nacken gespürt hatte. Nur diesmal war ich mir sicher, dass ich mich nicht geirrt hatte. Immer vernahm ich, aus unbestimmter Distanz, eine vertraut klingende Stimme, die meinen Namen rief. Ich versuchte herauszubekommen, woher sie kam, drehte mich auf der Stelle um mich selbst. Aber es gelang mir nicht. Sie war eigentlich überall. Aber wie konnte das sein? Kurzzeitig hatte ich schon gedacht, jemand hätte mich über die Beschallungsanlage des Parks ausrufen lassen. Aber danach hatte es sich nicht angehört; es hatte eher hallend, wie in einer Kathedrale, geklungen.
Ein Schwindelgefühl überkam mich. Ich schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. Das konnte trotz allem auch nur Einbildung sein. Mein Gehirn spielte mir sicher einen Streich. Es war Halloween, ich lief durch einen kalten, dunklen Park und ich war hundemüde.
»Das passiert alles nur in deinem Kopf!«, versuchte ich mir einzureden. Doch so ganz konnte ich mich selbst nicht davon überzeugen.
Mit einem Mal war wieder alles still. Niemand rief mehr. Aber hätte ich jetzt erleichtert sein sollen? Oder war es gar nicht ich, nach dem da gerufen worden war? Schließlich gab es ja noch andere Frauen, die meinen Vornamen trugen.
Ich setzte meinen Weg nun mit wesentlich schnelleren Schritten fort, wollte einfach nur noch den Regent’s Park hinter mir lassen und in den Bus nach Hause steigen. Ich zog meinen Kopf zwischen meine Schultern, klammerte mich mit den Händen an meiner Tasche und meinem Mantel fest und hielt meinen Blick gesenkt.
Ein leichter Nebel zog auf, der mich mit jedem Schritt mehr einzuhüllen schien, bis ich nach kürzester Zeit nicht einmal mehr fünf Meter voraus schauen konnte. Ich sah nur noch auf meine Schuhe und den Kiesweg unter ihnen. So lange ich noch auf dem Weg lief, war alles ok, sagte ich mir. Aber die in mir immer weiter emporkriechende Anspannung sagte etwas anderes.
Ein merkwürdiger Geruch stieg mir nun in die Nase. Er war… fischig. Ja, irgendwie roch es nach altem, gammeligem Fisch und es schien mir fast, als ob es von dem Nebel ausging. Ich begann, durch den Mund zu atmen.
Nach etwa hundert Metern lichtete sich der Nebel ein kleinwenig und gab die schemenhafte Sicht auf eine Weggabelung vor mir frei, in deren Mitte eine einzelne Parkbank stand. Nun musste ich mich entscheiden, nach links oder rechts zu gehen. Als ich weiter lief und die letzten Nebelschwaden hinter mir ließ, sah ich auf einmal jemanden auf der Parkbank sitzen.
War der gerade eben auch schon dort gewesen? Ich war mir eigentlich sicher, dass die Bank vor ein paar Sekunden noch leer gewesen war. Aber ich war mir mit einigen Dingen heute Abend schon so sicher gewesen.
»Du musst dringend ins Bett, höchste Eisenbahn!«, sagte ich zu mir und ging weiter. Mein Weg führte links an der Bank mit der Gestalt darauf, vorbei. Als ich näher kam, erkannte ich, dass es sich um einen Mann handelte. Und ich stutzte: Er trug einen Pyjama. Was sollte das? War das ein Halloween-Kostüm? Ich sah nun aber auch, dass er barfuß war und dachte mir, es könnte sich vielleicht um einen Patienten aus meinem Krankenhaus handeln, der ausgebüchst war. Wer immer es war und was immer er hier abends, nur mit einem Schlafanzug bekleidet, im Regent’s Park tat, es hätte mir egal sein sollen. Doch es konnte mir nicht egal sein. Denn gerade, als ich die Bank passiert hatte, sprach mich der Mann an. Mit meinem Namen.
Ich blieb wie angewurzelt stehen und drehte mich langsam um. Erst jetzt sah ich in sein Gesicht. Und ich erschrak, wie noch nie zuvor in meinem Leben.
Wieder überkam mich dieser stechende Kopfschmerz; doch er war, verglichen mit der Erkenntnis, die mich gerade getroffen hatte, sekundär. Dort auf der Bank, mich mit einem finsteren Blick aus schwarzen Augen anstarrend, saß Mister Judd. Lucas Judd, ein siebenundsechzigjähriger, pensionierter Bankkaufmann. Ein Mann, dem ich vor knapp zwei Jahren zuletzt begegnet war; als Patient auf meiner Station. Und ich war dabei gewesen, als der Oberarzt ihm das weiße Laken über das Gesicht gezogen hatte.