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III.

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Joseph Heir war kein wirklich guter Schüler. Seine Talente lagen eher in der ›Unterhaltung‹, so zumindest hatte es seine Klassenlehrerin einmal vorsichtig gegenüber seinen Eltern während eines Gesprächs ausgedrückt. In der Tat war Joey, wie er von allen genannt wurde, der Klassenclown. Bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit gab er seine teils dummen, teils ironischen Kommentare ab; sehr zum Leidwesen seiner Lehrer und auch seiner Eltern, die deshalb regelmäßig in der Schule vorstellig werden durften.

Doch der Klassenclown Joey hatte auch eine dunkle Seite. Und diese war es, durch die er sich dem Respekt und der Loyalität seiner Mitschüler gewiss sein konnte. In jedem Schuljahr suchte sich Joey ein ›Opfer‹; jemanden, an dem er seine ganzen Aggressionen und wechselhaften Launen auslassen konnte. Sein Opfer war der Garant dafür, dass er den anderen gegenüber als stets spitzzüngiger und gut gelaunter Klassenkasper auftreten konnte. Er war die Müllhalde und der Punchingball für Joeys schlechte Laune.

Meist war es der physisch schwächste in der Klasse oder der größte Streber, der sich täglich den verbalen und körperlichen Drangsalierungen von Joey ausgesetzt sah. Und wehe, ein Mitschüler Joeys hätte Mitleid mit dem Opfer gehabt; er wäre Gefahr gelaufen, selbst das nächste Opfer zu werden. Außerdem machte es natürlich viel mehr Spaß, in der Stärke und Sicherheit einer Gemeinschaft das Opfer Joeys in seiner Qual, einer Verhaltensstudie gleichkommend, zu beobachten. Heute würde man so etwas Mobbing nennen, doch zu Joeys Schulzeit war das Wort noch eher unbekannt.

Sein Opfer in diesem Jahr traf es besonders schlimm: Joey hatte sich ausgedacht, dass er ihm jede Woche nicht nur sein Taschengeld überlassen, sondern auch etwas im Supermarkt stehlen und ihm bringen musste.

Der arme Junge, eingeschüchtert durch die Androhung und hin und wieder auch die Ausübung von Gewalt durch Joey, tat, wie ihm geheißen. Jede Woche gab er brav sein Taschengeld an Joey ab, der es wiederum für Zigaretten und Fußballbildchen ausgab, und brachte ihm auch die geforderten Dinge, meist Süßigkeiten, die er im nahe gelegenen Supermarkt gestohlen hatte.

Ab und zu beobachtete Joey ihn natürlich beim Klauen, denn immerhin hätte der Junge auch die Waren brav bezahlen und ihm dann nur vorlügen können, er hätte sie gestohlen. Aber der Junge war ein Musterbeispiel von einem Opfer; Joey war sehr zufrieden mit ihm. Bis zu diesem einen Tag.

Der Junge hatte im Supermarkt zwei Tafeln Schokolade und ein Päckchen Brausestäbchen in seiner Jackentasche verschwinden lassen; als ›Opfergabe‹ für Joey. Doch diesmal war er von einem Ladendetektiv erwischt worden. Und es kam, wie es kommen musste: Unter dem Druck, dem der Junge während seines Verhörs ausgesetzt wurde, brach er zusammen und damit auch seine auf Angst und Einschüchterung gebaute Mauer des Schweigens. Dahinter zum Vorschein kam Joey, der Klassenclown. Die dunkle Seite des schlecht erzogenen Kindes, die es recht gut vor den Erwachsenen versteckt hatte, war ins Rampenlicht gezerrt worden; von seinem Opfer.

»Mister und Mrs Heir, es tut mir sehr leid«, sagte Direktor Groeber ernst. »Aber so etwas können wir nicht tolerieren. Darüber hinweg zu sehen, würde unsere Autorität gegenüber den anderen Schülern untergraben.«

Francess Heir und ihr Mann David wechselten einen stummen Blick.

»Das verstehen wir«, sagte David mit trockener Kehle. Ihm hing das Verhalten seines Sohnes schon lange zum Halse heraus, auch wenn er sehr gut wusste, dass es die mangelnde Zeit war, die er und seine Frau dem Kind widmeten, die ihn so hatten werden lassen.

»Ich tue das wirklich nicht gerne«, versicherte der Schuldirektor. »Aber der Schulverweis ist notwendig, um ein Exempel zu statuieren. Ihr Sohn hat sich unglaubliches geleistet. Das darf kein Freifahrtschein für andere werden.«

»Wie geht es dem Jungen?«, wollte Mrs Heir wissen. Sie stand kurz davor, zu weinen.

Direktor Groeber atmete tief durch und schüttelte dann den Kopf. »Er hat einiges mitgemacht in den letzten Monaten. Aber er hat es tapfer ertragen. Ich denke nicht, dass er Spätfolgen davon tragen wird.«

Francess Heir bekam große Augen. Spätfolgen. Das klang alles sehr schlimm. Was hatte Joey da nur angerichtet? Warum hatte sie nicht mehr auf ihn Acht gegeben? Mindestens ein Elterngespräch pro Halbjahr hätten ihr und ihrem Mann eine Warnung sein müssen.

»Wir möchten uns auf jeden Fall auch bei seinen Eltern entschuldigen«, warf Mister Heir nun ein.

Der Direktor verzog unzufrieden das Gesicht. »Das können Sie gerne versuchen, aber wir hatten seinen Vater kaum dazu bewegen können, hierher zu kommen. Er ist wohl ein viel beschäftigter Mann.«

»Und seine Mutter?«, fragte Mrs Heir.

»Sie ist gestorben. Er hat nur seinen Vater, soweit wir wissen.«

»Armer Junge.« Francess Heir schüttelte den Kopf und sah betroffen zu Boden.

Joey, der stumm auf dem Sofa in der Ecke des Direktorenzimmers saß, sah auf. ›Armer Junge‹; das war ein starkes Stück. Wer wurde denn gerade der Schule verwiesen? Wer würde sich denn Zuhause den Vorwürfen seiner Eltern und mit Sicherheit auch einer Tracht Prügel ausgesetzt sehen? »Armer Junge. Ich breche ihm das Genick! Das tue ich, jawohl!«

Joey ballte seine Fäuste in seinem Schoss. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt gewesen, sein Opfer zu drangsalieren. Vielleicht mit einem Tritt vors Schienbein oder einer Kopfwäsche in der Toilettenschüssel. Aber das ging nun nicht mehr. Der Klassenclown spürte, wie ihm die Fans den Rücken zukehrten. Es war ein äußerst mieses Gefühl. Als er aus seinen Gedanken auftauchte, gaben sich seine Eltern und der Direktor die Hand.

»Ich wünsche Ihnen und Ihrem Sohn alles Gute für die Zukunft«, sagte Groeber und zeigte ein gezwungenes Lächeln.

»Komm, Sohn!« Sein Vater sah Joseph fordernd an. »Wir haben noch einiges zu besprechen.«

Die Heimfahrt wurde eine Abfolge von Vorwürfen, Beschimpfungen und Demütigungen für Joey. Noch nie war er derart bloßgestellt worden. Noch nie war er das Opfer gewesen. Was wohl seine Mitschüler jetzt über ihn dachten? Lachten sie sich ins Fäustchen? Es hätte ihm zwar egal sein können, da er sie nach dem Schulwechsel ohnehin kaum noch sehen würde. Aber das war es nicht. Wenn sie ihn nun verspotteten, was schon in seiner Vorstellung dem Schmerz tausender von Nadelstichen gleich kam, war das die Schuld des Jungen, war es die alleinige Schuld seines Opfers, das so jämmerlich versagt hatte.

Die kommenden Tage waren für Joey geprägt von Hausarrest und recht kurzen Sätzen seiner Eltern, begleitet von vorwurfsvollen Blicken. Dass ihn mit seiner Vergangenheit keine andere Grundschule mit offenen Armen empfing, verbesserte ihre Laune auch nicht unbedingt.

Nach knapp einer Woche endlich durfte Joey das erste Mal wieder auf die Straße. Nach dem Frühstück zog er hastig seine Schuhe und die Jacke an, nahm den Hund an die Leine und lief mit ihm aus der Wohnung. Es kam für ihn der Entlassung aus einem Gefängnis gleich, als er auf den Gehweg trat. Joey schloss die Augen und sog die frische Luft, die ihn empfing, tief ein. Die Sonnenstrahlen wärmten sein Gesicht.

»Du bist pünktlich um fünf wieder da, verstanden?«, sagte seine Mutter durch das geöffnete Küchenfenster ihrer Wohnung, die im Hochparterre lag.

»Ja, versprochen.« Er ging los, den Bürgersteig entlang, weg aus dem Blickfeld seines Elternhauses. Sein zotteliger Havaneser Rover zerrte an der Leine; er wollte zu der Grünfläche nach der nächsten Ecke.

»Hey, nicht so schnell. Köter«, brüllte er den Hund an. Er hatte ihn bisher nie Köter genannt, denn eigentlich liebte er das Tier. Doch trotz der wieder gewonnenen Freiheit, des schönen Sommertags und der festen Zusage einer neuen Schule, war Joey nach wie vor wütend. Er hatte in den letzten zehn Tagen viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Vernünftige Kinder hätten vielleicht über ihre Taten gegrübelt und sich selbst Besserung gelobt. Nicht jedoch Joey. Er hatte nur eines im Sinn gehabt und auch nach wie vor im Sinn: Sich an seinem Opfer zu rächen. Die Aussicht darauf, es dem kleinen Bastard heimzuzahlen, hatte ihm die Zeit in seinem Zimmer, ohne Süßigkeiten und ohne die heimliche, tägliche Zigarette im Nachbarshof, erträglich gemacht.

Joey wusste, wo der Hurensohn wohnte. Er hatte ihn einmal bis nach Hause verfolgt, einfach nur so. Es hatte ihm Spaß gemacht, zuzusehen, wie sich der Junge immer wieder angstvoll umgedreht hatte, wie seine Schritte immer schneller geworden waren.

Er wohnte gar nicht so sehr weit weg von Joeys Elternhaus, gerade einmal zwanzig Minuten zu Fuß. Rover hatte inzwischen sein großes Geschäft erledigt und auch einige Hausecken und Straßenlaternen markiert und so konnte sich Joey nun auf sein Vorhaben konzentrieren.

Vor dem Haus des Jungen angekommen, legte er sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite, geduckt hinter einem Auto, auf die Lauer. Er würde gar nicht lange warten müssen, denn es war kurz nach Schulschluss. Nach knapp zehn Minuten kam dann auch der Junge die Straße entlang geschlurft. Sein lederner Schulranzen schleifte auf dem Boden.

Joey grinste wie ein Honigkuchenpferd. Da war es, sein Opfer. Ahnungslos und schutzlos. Joey band schnell die Leine seines Hundes um ein Abflussrohr.

»Du wartest hier, verstanden?«, flüsterte er ihm zu, wuschelte ihm über den lockigen Kopf und rannte dann los.

»Hey!«, rief er, als der Junge bereits in der Hofeinfahrt war. Dieser fuhr herum und bekam sofort vor Entsetzen geweitete Augen.

»Was willst du?«, fragte er angsterfüllt und ließ seine Schultasche gänzlich zu Boden sinken.

Joey trat vom Gehweg in den Hof und schloss die alte Holztür des großen Tores hinter sich. Sein Blick erschreckte den kleinen Jungen mehr, als alles andere jemals zuvor in seinem Leben.

Aufgefressen

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