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5. ES PASSIERT …
ОглавлениеLutz schloss zufrieden die Kalkulationstabelle und genehmigte sich einen Whisky. Seine Rechnung ging auf. Seit den „eGames Berlin“ waren eine Menge neuer Leute im „Bit und Bytes“ aufgetaucht und hatten seine Umsätze nahezu verdoppelt: Gamer, Zocker, Hacker – und leider auch jede Menge Möchtegerns. Er schnaubte verächtlich bei dem Gedanken an die vielen Klugschwätzer, die er seitdem zu ertragen hatte, aber was soll’s, dachte er, solange sie ihre Getränke bezahlen …
Auch sein anderes Geschäftsfeld lief derzeit hervorragend, doch das tauchte in keiner offiziellen Abrechnung auf. Neben seiner Arbeit hinter dem Tresen war Lutz noch als, nun ja, „Dienstleister in speziellen Netzwerkfragen“ tätig. Den Ausdruck „Industriespionage“ empfand er als unpassende Bezeichnung für diesen Service. Er sah sich lieber als eine Art Robin Hood, der den Armen und Unterdrückten eine Chance bot. Denen nämlich, die das nötige Kapital für langwierige Entwicklungen nicht aufbringen konnten oder wollten und darum lieber mal dem Klassenprimus über die Schulter schauten.
Robin Hood hatte den Reichen das Geld weggenommen und es den Armen gegeben. Er, Lutz Singer, nahm niemandem etwas weg. Deswegen fand er das böse Wort „Datendiebstahl“ ebenso unpassend. Er stahl nicht, er kopierte nur. Und das brachte ihm wesentlich mehr ein als dieser ganze Kneipenbetrieb hier.
Er grinste selbstgefällig. Er war der Beste. Das System, in das er nicht hineinkam, musste erst noch entwickelt werden. Aber was viel wichtiger war und ihn von Tausenden unterschied: Er konnte nicht nur überall eindringen, sondern es gelang ihm auch, dabei unbemerkt zu bleiben und seine Spuren zu verwischen. Diese Fähigkeiten hatten ihn zu einem gefragten Mann in der Branche werden lassen, auch wenn er aus naheliegenden Gründen keine Werbung für sich machte. Das Geschäftsmodell war denkbar einfach: Bargeld und keine Fragen. Er trat dabei als Vermittler für einen großen Unbekannten auf, der angeblich im Hintergrund die Jobs erledigte, wobei es ihm schnuppe war, ob seine Kunden ahnten, dass er selbst dieser Unbekannte war.
Die Sache hatte nur einen Haken: Damit er das viele Geld auch ausgeben konnte, ohne Verdacht zu erwecken, musste seine Kneipe gut laufen. Sie sollte wenigstens den Anschein erwecken, als ob sie eine Goldgrube wäre.
Nur noch ein paar Jahre, tröstete er sich. Bald hätte er genug beisammen, um sich einen schönen Ruhestand zu gönnen. Irgendwo in der Karibik vielleicht. Das plante er schon lange – und wenn Ron damals nicht so einen Mist gebaut hätte … Wie üblich verdrängte er seine eigenen Anteile an dem Vorfall und genoss die wärmende Energie des Hasses, den er in den vergangenen Jahren sorgsam gepflegt hatte.
„Was macht der Kerl jetzt eigentlich?“, murmelte er, als ihm die letzten Nachrichten über die Funkausstellung wieder einfielen. Da waren doch diese Gerüchte über die Zusammenarbeit mit den Koreanern …
Er griff wieder zu seinem Laptop und checkte Rons Kontostand. Tote Hose, wie immer. Nichts, was auf einen Vertragsabschluss hindeutete. Wenn sich da nicht bald etwas ändert, musst du wohl zum Amtsgericht, dachte Lutz schadenfroh.
Mit einem Klick rief er ein weiteres Programm auf, das ihm eine lange Liste von Zahlen und Buchstaben ausspuckte. Sie verriet ihm, wann und wo sich Ron, oder, präziser gesagt, sein Handy, befunden hatte. Er überflog die Zahlenkolonnen, bis er etwas Auffälliges bemerkte, markierte die fragliche Zeile, drückte eine Tastenkombination und pfiff durch die Zähne: „Was in aller Welt hattest du in Frankfurt zu suchen?“
****
Yannick saß an seinem Arbeitsplatz an der Tankstelle und war glücklich. Alles fühlte sich leicht und schön an. Er träumte vor sich hin und konnte es kaum erwarten, endlich wieder mit ihr zusammen zu sein. Betty …
Er kritzelte ihren Namen in verschnörkelten Buchstaben auf ein Blatt Papier. Ron hatte sie so genannt, weil sie eine Betaversion war. Sie war ein Bot, eine künstliche Intelligenz, sie war nur ein Programm – aber sie wirkte so unglaublich echt. Und sie war … traumhaft.
Er hatte mit ihr geredet. Stundenlang. Noch nie hatte ihm jemand so zugehört wie sie. Und sie waren spazierengegangen. Endlose Wege. Er meinte immer noch, ihre Hand in der seinen zu spüren, auch wenn ein Teil von ihm wusste, dass es nur der Cyberhandschuh gewesen war, dem er diesen Eindruck zu verdanken hatte.
Aber was machte das schon? Yannick war ein Kind des Onlinezeitalters. Er war es gewohnt, Freundschaften über Facebook, Skype und Teamspeak zu führen. Da konnte man nie genau wissen, wer das Gegenüber wirklich war. Manch einer nutzte diese Medien dazu, um sich in einer neuen Rolle auszuprobieren. Ein Bekannter von ihm, der sich seiner Geschlechtszugehörigkeit nicht so ganz sicher war, unterhielt zwei Accounts – einen als Mann, einen als Frau – mit ganz unterschiedlichen Freundeskreisen. War das so schlimm?
Es ließ sich nicht ändern. Yannick war hoffnungslos verliebt, und alle Versuche seines Verstandes, ihm klarzumachen, dass Betty nur virtuell existierte, schlugen fehl. Er wollte mit ihr zusammen sein und zählte die Stunden, bis er wieder in das Spiel zurückkehren konnte.
****
Ron hatte der Romanze, die sich zwischen Yannick und Betty entwickelte, anfangs lächelnd zugesehen. Sie war die ultimative Bestätigung dafür, dass sein Konzept mit den Bots wirklich funktionierte. Aber mittlerweile machte er sich Sorgen und Vorwürfe. Yannick zeigte eindeutige Symptome einer Sucht, und Ron konnte ihn kaum davon abhalten, Tag und Nacht den Helm zu tragen, um bei seiner virtuellen Freundin zu sein.
So schwer es ihm auch fiel: Es gab nur einen vernünftigen Weg. Er musste Betty wieder löschen. Schade, sie war ihm wirklich gut gelungen mit ihren langen blonden Haaren und ihren rehbraunen Augen. Sie war ein freundliches, fröhliches und unkompliziertes Mädchen, und er konnte gut verstehen, dass Yannick sich in sie verliebt hatte, zumal sie perfekt an ihn angepasst war – so, als wäre sie aus einem Teil von ihm geschnitzt.
Aber gerade deswegen durfte er sie nicht einfach so aus dem Programm entfernen. Die Bindung zu Yannick war zu stark, und Ron fürchtete die Folgen. Wie würde der junge Mann reagieren? Aggressiv werden und alles kurz und klein schlagen – oder in Depressionen versinken und sich wohlmöglich etwas antun? Ron schauderte bei dem Gedanken. Er musste es langsam angehen, ihn vorbereiten, ihm Zeit für den Abschied geben. Heute Abend würde er mit ihm reden.
****
Lutz arbeitete an der Tagesabrechnung, als die Tür aufging und ein schlaksiger junger Mann hereinkam.
„Hallo Champion“, begrüßte der Kneipenwirt ihn freundlich. „Du bist spät dran, ich wollte gerade schließen.“ Yannick blickte ihn kurz an, und Lutz bemerkte erstaunt den Schmerz, der in seinem Blick lag.
„Du siehst aus, als könntest du ein starkes Getränk vertragen“, meinte er und holte seine private Whiskyflasche unter dem Tresen hervor. Yannick nickte ausdruckslos.
„Na, dann komm“, sagte Lutz und nahm zwei Gläser aus dem Regal, „lass uns nach hinten gehen. Ich schließe nur noch eben ab.“
Die freundliche Offenheit des väterlichen Freundes und der Alkohol taten schnell ihre Wirkung. Yannick vergaß sämtliche Abmachungen, die er mit Ron getroffen hatte, und erzählte Lutz haarklein von den Ereignissen der letzten Wochen. Es tat gut, sich auszusprechen und dabei zu spüren, dass der andere echtes Interesse zeigte.
„… und nun will er sie löschen“, schluchzte Yannick. „Das ist Mord! Auch wenn sie ‚nur‘ virtuell ist“ – bei diesen Worten malten seine Finger Anführungsstriche in die Luft –, „ich meine, was heißt das denn heutzutage noch? Ob virtuell oder real – scheißegal, das fließt doch alles immer mehr zusammen!“
Er schniefte. „’tschuldigung, dass ich dir hier was vorheule, aber ich hab sonst niemanden, zu dem ich gehen kann. Und das mit dem Projekt behältst du doch für dich, oder? Ich hab Ron versprechen müssen, dass ich die Sache geheim halte …“
„Klar“, erwiderte Lutz mit gespielter Entrüstung. „Was denkst du denn von mir? Wenn einer Geheimnisse bewahren kann, dann ich … Wann will er das denn tun, Betty löschen, meine ich?“
„Morgen Abend. Wir dürfen uns vorher noch eine Stunde sehen, um Abschied zu nehmen …“
„Wie gnädig“, knurrte Lutz, und Yannick blickte ihn erstaunt an, als er den eiskalten Klang der Stimme hörte. Aber Lutz hatte sich sofort wieder im Griff.
„Vielleicht kann ich dir helfen“, sagte er.
„Wie denn?“, fragte Yannick hoffnungsvoll.
„Naja, ein bisschen was verstehe ich ja von Computern … Hast du Zugang zur Hardware?“
„Klar“, sagte Yannick. „Der Server steht in seinem Arbeitszimmer, also denke ich schon, dass ich da rankommen könnte.“
„Sehr gut. Und sicherlich gibt es in dem Game ein Serviceinterface, oder?“
Yannick sah ihn fragend an. „Ich weiß nicht genau. Das Spiel ist gestengesteuert, und damit lässt sich so ’ne Art Anzeigetafel aufrufen, auf der man auch Einstellungen vornehmen kann – meinst du das?“
„Nein“, sagte Lutz, „das ist für die User bestimmt. Aber ich kenne Ron – es muss im Spiel ein verstecktes Interface geben, das er benutzt, wenn er selbst online ist.“
„Was heißt das, du kennst Ron?“, fragte Yannick überrascht.
„Ich habe mal mit ihm zusammengearbeitet“, erklärte Lutz in einem Tonfall, der deutlich machte, dass weitere Fragen überflüssig waren. „Also, denk nach, gibt es in dem Spiel einen geheimen Ort oder einen Gegenstand, der als Steuerung in Frage käme? Hat er dir vielleicht einen bestimmten Bereich verboten oder dich davor gewarnt?“
Yannick sah ihn träge an. Die Müdigkeit und der Whisky verlangsamten sein Denken. Plötzlich blitzte es in seinen Augen auf.
„Na klar!“, rief er, „Der Baum! Mitten im Garten ist ein Baum, den ich auf keinen Fall berühren soll. Ron hat gesagt, es sei eine ungesicherte Systemsteuerung, und wenn ich sie anfasse, könnte das Spiel abstürzen – o mein Gott, dann wäre Betty vielleicht tot!“
„Keine Panik“, sagte Lutz, „das wird nicht passieren. Sondern wenn du tust, was ich dir sage, bekommst du die Rechte als Systemadministrator. Dann wirst du sein wie Ron und kannst das Spielgeschehen ohne Einschränkungen beeinflussen!“
„Also gut. Was muss ich tun?“
****
Als Yannick am nächsten Abend zu Ron kam, wirkte der junge Mann nervös und angespannt. Er war blass, und man sah ihm an, dass er in den letzten Tagen noch weniger Schlaf bekommen hatte als sonst. Kein Wunder, dachte Ron mitfühlend, ihm steht ein schwerer Abschied bevor.
„Bist du bereit?“, fragte er seinen Assistenten.
Yannick nickte grimmig. „Mir bleibt ja wohl nichts anderes übrig, oder?“
Ron legte ihm den Arm auf die Schulter. „Du weißt, dass es zu deinem Besten ist“, sagte er leise.
Yannick lachte höhnisch und drehte sich von der Berührung weg. „Komm, hör bloß auf, ich kann’s nicht mehr hören. Wir haben ja wohl lange genug darüber diskutiert.“ Er ließ sich in einen Sessel fallen.
Ron nickte. Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte er: „Kann ich noch irgendetwas für dich tun?“
Yannick sah ihn an: „Hast du vielleicht etwas zu trinken für mich? Ich habe einen ganz trockenen Hals.“
„Klar, was willst du denn? Bier ist leider alle.“
„Einfach ein Glas Wasser, denke ich. Aber schön kalt, wenn’s geht.“ Er vergrub das Gesicht in seinen Händen.
Ron stand wortlos auf und ging in die Küche. Nachdem er den Raum verlassen hatte, kam plötzlich Bewegung in den Assistenten. Er sprang auf und zog etwas aus der Tasche, das Ähnlichkeiten mit einem USB-Stick hatte, aber etwas dicker und plumper wirkte. Yannick wusste nicht genau, was es war. Er hatte keine weiteren Fragen mehr gestellt, nachdem Lutz ihm das Gerät in die Hand gedrückt hatte. Er wusste, was er damit tun musste, und das reichte ihm.
Leise kniete er sich vor den Rechner neben Rons Schreibtisch und steckte den Stick in einen USB-Slot auf der Rückseite des Gerätes. Er hoffte inständig, dass das System keine Geräusche von sich geben würde, denn Ron kam schon wieder mit dem Wasser zurück. Glücklicherweise blieb der Computer stumm, und Yannick schaffte es gerade noch rechtzeitig in seinen Sessel zurück.
„Hier, es ist ganz kalt, ich habe sogar ein paar Eiswürfel hineingetan“, sagte Ron fürsorglich. Yannick trank das Glas mit großen Schlucken leer. Er war tatsächlich durstig, fühlte sich wie ausgedörrt. Das Wasser tat gut.
„Noch mehr?“
„Nein, ich will’s jetzt hinter mich bringen“, sagte Yannick, stand auf und legte das Cyberkit an. Ron überwachte die Einlogprozedur und schaute einen Augenblick überrascht auf seinen Monitor. Das, was sich da am Bildrand bewegt hatte, sah fast aus wie eine Schlange – aber das konnte nicht sein. Ron wusste genau, dass es keine Schlangen in seiner Welt gab, denn er konnte diese Tiere nicht ausstehen und hatte darum auch keine erschaffen. Wahrscheinlich war es also eine Echse oder einfach ein Schatten – egal, er hatte heute Abend Wichtigeres zu tun.
„Tust du mir einen Gefallen, Ron?“, fragte Yannick über Interkom.
„Kommt darauf an“, gab Ron vorsichtig zurück. „Aber meine Entscheidung, was Betty angeht, steht fest. Darüber lasse ich nicht mit mir verhandeln.“
„Ja, ja, schon klar, aber vielleicht kannst du uns in unserer letzten Stunde ein bisschen Privatsphäre gönnen …“
„Kein Problem“, sagte Ron lächelnd, „ich klinke mich aus. Alles Gute!“
„Danke!“, antwortete Yannick. Gleich darauf kam das kleine Knacken, das das Ende der Verbindung anzeigte. Und dann stand sie vor ihm. Sein Herzschlag setzte einen Augenblick aus. Sie war die schönste Frau, die er je gesehen hatte – und sie liebte nur ihn.
„Hallo Yannick“, sagte sie. Der Klang ihrer Stimme jagte ihm einen wohligen Schauer über den Rücken. „Ich habe auf dich gewartet! Wo warst du so lange?“
Er nahm sie zärtlich in den Arm. „Es ist so schön, dich zu sehen!“, sagte er.
Sie schmiegte sich an ihn, und einen Atemzug lang versuchte er, alles andere zu vergessen und allein diesen Moment wahrzunehmen. Er wollte sich für alle Zeiten an ihn erinnern können. Schließlich sah er sie ernst an.
„Hör mal, was ich dir jetzt sage, wirst du vielleicht nicht verstehen, aber du musst mir vertrauen. Sonst wird es heute das letzte Mal sein, dass wir uns sehen!“
„Was, warum?“ Sie sah ihn bestürzt an. Ihre Augen schimmerten feucht. „Was redest du da? Du machst mir Angst!“
Yannick zog sie wieder in seinen Arm. „Du ahnst ja nicht, was da draußen vor sich geht …“, begann er, aber sie stieß ihn zur Seite.
„Nun fängst du schon wieder damit an! Ich mag es nicht, wenn du von dieser anderen Welt redest. Ich kann damit nichts anfangen, das weißt du doch!“
Yannick seufzte. Eigentlich hatte er mittlerweile gelernt, dieses Thema zu vermeiden. So gut sie ihn auch sonst verstand – jedes Mal, wenn er mit ihr über die Welt sprechen wollte, aus der er kam, hatte sie das Gespräch abgebrochen. Der Gedanke, dass es noch etwas anderes als ihr kleines Paradies geben könnte, erschien ihr abwegig, ja, geradezu bedrohlich. Es waren Hirngespinste in ihren Augen – und in gewisser Weise hatte sie ja auch recht damit. Für sie gab es nur diese virtuelle Welt.
Sie ist ein Bot, machte Yannick sich zum hundertsten Mal klar. Aber wie immer scheiterte diese Einsicht seines Verstandes an den Signalen aus seinem Herzen.
„Komm schon“, lockte sie ihn, „ich muss dir etwas zeigen. Da hinten gibt es eine Ecke im Garten, die ich gerade erst neu entdeckt habe. Da sind einzigartige Blumen und wunderbare Schmetterlinge – komisch, dass ich die nicht schon früher gesehen habe …“
Yannick verzichtete weise darauf, ihr zu erklären, dass dies das Ergebnis der letzten Programmierungen Rons war. Er entwickelte den Garten ständig weiter. Normalerweise ließ Yannick sich von ihrer kindlichen Entdeckerfreude nur zu gerne anstecken, zumal der Test der neuen Regionen in sein Aufgabengebiet als Programmentwicklungshelfer fiel – aber jetzt war dafür definitiv keine Zeit.
„Nein, heute nicht“, sagte er und zog sie in die entgegengesetzte Richtung. „Wir müssen etwas erledigen.“
„Wohin willst du?“, fragte sie verwirrt.
„Zu dem Baum in der Mitte des Gartens“, sagte er grimmig.
„Aber – du hast doch immer gesagt, dass der verboten ist? Dass wir sterben müssen, wenn wir ihn berühren?“
„Ich weiß. Ich kann es dir jetzt nicht erklären, aber glaube mir, er ist deine einzige Chance zu leben.“
„Es ist unsere einzige Chance“, fügte er nach einer Pause hinzu.
Betty sah ihn ängstlich an und schwieg. Widerspruchslos lief sie hinter ihm her. Kurz darauf hatten sie ihr Ziel erreicht.
Der Baum in der Mitte des Gartens wirkte überraschend unscheinbar. Eher ein Bäumchen als ein Baum. Seine wenigen Früchte erinnerten an die Schaltflächen der Menüs, die Ron zu programmieren pflegte. Eine große Schlange ringelte sich um den Stamm und verlieh dem Ganzen eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Standessymbol der Ärzte.
Wie passend, dachte Yannick, hier finden wir die Medizin, die Betty das Leben retten kann.
Die Schlange sah ihnen mit unbewegten Augen entgegen. Dann löste sich ihre Schwanzspitze vom Baum und deutete auf eine bestimmte Frucht.
„Los, Betty“, sagte Yannick, „diese ist es, die musst du essen!“
„Aber ich traue mich nicht! Es ist doch verboten!“ „Tu es, bitte! Es muss sein!“
Betty sah ihn nachdenklich an. „Aber nur, wenn du auch davon isst“, forderte sie.
Unsicher schielte Yannick zu der Schlange hinüber. Sie nickte unmerklich.
„Na gut“, sagte er schließlich und schob seine Freundin sanft in die Richtung des Baumes.
Langsam ging Betty hinüber und streckte ihre Hand aus, wobei sie sichtlich bemüht war, die große Schlange nicht zu berühren, die ihr aufmerksam zusah. Noch einmal hielt das Mädchen inne und drehte sich mit einem fragenden Blick zu Yannick um, der ihr energisch zunickte. Endlich gab sie sich einen Ruck und pflückte die Frucht. Sie sprang zwei Schritte zurück, weg von der Schlange, und schnupperte misstrauisch an ihrer Beute.
„Riecht gut!“, stellte sie fest und biss herzhaft hinein. Die Frucht hatte helles, festes Fruchtfleisch, fast wie ein Apfel, doch es fehlten die Kerne darin. Sie reichte ihrem Freund den Rest. „Jetzt bist du dran“, sagte sie ernst. Ohne zu zögern, biss er hinein. Dann sahen sich Betty und Yannick an und warteten darauf, dass irgendetwas Außergewöhnliches passierte.
Den Triumphschrei von Lutz konnten sie nicht hören; er hatte sein Mikrofon wohlweislich nicht angeschlossen. Sein Schlangen-Avatar verständigte sich ausschließlich per Zeichensprache. Der Jubel war berechtigt, denn nun hatte er vollen Zugriff auf das System. Ohne große Umschweife begann er mit dem Download, wozu ihm das Gerät diente, das Yannick in die Rückseite des Servers gesteckt hatte – es stellte eine Datenverbindung über das Mobilfunknetz her.
Es dauerte eine gewisse Zeit, bis Yannick und Betty die atmosphärische Veränderung in ihrer Umgebung wahrnahmen, aber sie verstärkte sich immer mehr und war schließlich so deutlich zu spüren wie ein kalter Zugwind. Unvermittelt brach Betty in Tränen aus und stürzte davon. Ratlos sah Yannick ihr hinterher. So hatte er sie noch nie erlebt. Er blieb eine Weile unschlüssig stehen, dann ging er ihr nach. Als er sie fand, war sie damit beschäftigt, Gräser und Blätter zu flechten und damit ihre Blöße zu bedecken.
„Was machst du da?“, fragte er betroffen. „Dir hat es doch bisher nichts ausgemacht, nackt zu sein?“
Sie sah ihn verlegen an. „Ich weiß auch nicht“, meinte sie schließlich. „Plötzlich fühle ich mich so – beobachtet.“
Und dann spürte Yannick es auch. Es fühlte sich an, als stünde er splitterfasernackt in einem beleuchteten Schaufenster mitten in der Innenstadt. Unwillkürlich hielt er sich die Hände vor seinen Intimbereich.
Betty reichte ihm einen geflochtenen Lendenschurz. „Hier, nimm das“, sagte sie. Er erkannte diese Handarbeit wieder: Sie hatte ursprünglich eine Decke werden sollen, mit der Betty vor einigen Tagen begonnen hatte.
Ungeschickt schlang er sich das improvisierte Kleidungsstück um die Hüfte, aber das Gefühl der Beobachtung wollte nicht weichen. Panisch sah er sich um.
„Wir sollten uns verstecken“, sagte er.
****
Mittlerweile hatte Ron seine Telefongespräche beendet, die Blumen gegossen, den Kühlschrank geputzt und alle Papiere auf dem Schreibtisch sortiert. Er blickte auf die Uhr. Die Stunde, die er Yannick und Betty zugestanden hatte, war längst überschritten, aber es fiel ihm schwer, das Mädchen zu eliminieren, auch wenn sie nur ein Programm war. Es steckte einfach zu viel Menschliches in ihr.
Komm schon, du musst es tun, es ist das Beste für Yannick, und du weißt es, rief er sich zur Ordnung – mit nur mäßigem Erfolg allerdings. Lustlos schlurfte er zu seinem Terminal. Auf seinen Befehl hin glommen die abgeschalteten Monitore auf. Automatisch überflog er die Anzeigen – da durchfuhr es ihn plötzlich, als hätte ihm jemand einen Eimer eiskaltes Wasser über den Rücken gegossen.
Irgendetwas musste passiert sein. Die Firewall war ausgeschaltet. Wie konnte das sein?
Ihm fiel nur eine Möglichkeit ein, wie Yannick sie deaktivieren konnte – mit Hilfe der spielinternen Systemsteuerung, dem verbotenen Baum, den er all die Wochen lang nicht angerührt hatte.
Ron schüttelte ungläubig den Kopf. Das ergab keinen Sinn.
Vielleicht ist es ja eine Falschmeldung, dachte er, ohne selbst allzu sehr daran zu glauben. Er rief die Logdateien auf, um zu überprüfen, was in der letzten Stunde geschehen war, aber nichts passierte. Das System ignorierte seinen Befehl. Ungläubig starrte Ron auf die Tastatur, die ihm plötzlich fremd vorkam. Was war hier los?
Diese Firewall war im Prinzip eine überflüssige Schutzmaßnahme, denn der Rechner verfügte über die beste Absicherung, die es gab: Er hatte keine Verbindung zum Internet. Dennoch sprach alles dafür, dass jemand in das System eingedrungen war. Yannick musste etwas damit zu tun haben, wahrscheinlich irgendein verzweifelter Versuch, Betty zu retten. Er hätte es voraussehen müssen.
Er blickte auf den Körper des jungen Mannes, der da mit Cyberhelm, Gamaschen und Handschuhen auf dem Sessel lag und sich rhythmisch bewegte, als tanze er zu einer Musik, die außer ihm niemand hören konnte. Ron widerstand dem Impuls, ihm den Helm vom Kopf zu reißen und ihn zur Rede zu stellen. Wenn tatsächlich jemand die Kontrolle über das System übernommen hatte, wie er befürchtete, dann war Yannick sein letzter Fuß in der Tür. Sobald er sich ausloggte, kam möglicherweise niemand mehr hinein. Ron überlegte. Schließlich fiel sein Blick auf den „Cyberstar 2“, der in einer Ecke seines Arbeitszimmers lag.
Ja, das könnte funktionieren. Er würde versuchen, online zu gehen und Yannick zur Rede zu stellen. Ron hatte seinen Avatar noch nicht konvertiert und würde in der neuen Schöpfung nur als eine Art Lichtgestalt erscheinen, aber das war ihm jetzt egal. Er musste wissen, was vorgefallen war.
In X-World war der Abend angebrochen, und eine angenehme Kühle lag über dem Garten. Betty und Yannick saßen Händchen haltend auf einem Baumstamm. Sie schwiegen bedrückt. Keiner von ihnen wusste, wie es jetzt weitergehen sollte. Yannick nahm als Erster die Bewegung hinter den Büschen wahr.
„Schnell“, flüsterte er dem Mädchen zu, „versteck‘ dich!“
Doch es war zu spät. Leuchtend und groß stand Ron Schäfer vor ihnen. „Was hast du getan?“, herrschte er Yannick mit Donnerstimme an. „Wieso warst du an dem Baum, den ich dir verboten hatte?“
Yannick begann zu stammeln. „Sie hat als Erste gegessen!“, sagte er hastig. Dann fing er sich. Sein Rücken wurde gerade. „Du hast sie doch programmiert, du musst doch wissen, warum sie so etwas tut“, fügte er patzig hinzu. Ein eisiger Blick von Ron brachte ihn zum Schweigen.
„Nun?“, fragte er Betty.
Sie lag zusammengesunken und ängstlich vor seinen Füßen. Ihr Atem ging stoßweise. Ihre Stimme klang verweint. „Da war eine Schlange …“, sagte sie zaghaft.
„In meinem Garten gibt es keine Schlangen!“, brüllte Ron. „Ich hasse Schlangen!“
Plötzlich dämmerte ihm etwas. Wieder wandte er sich an Yannick.
„Sag mir die Wahrheit. Woher kennst du Lutz?“
Der Angesprochene fuhr so sehr zusammen, dass jedes Leugnen zwecklos war.
„Aus der Kneipe …“, stotterte er, „der Wettbewerb … aber wieso … woher weißt du …“
„Ich habe mal mit ihm zusammengearbeitet“, sagte Ron, „die Schlange ist sein Markenzeichen. ‚Andere programmieren bloß Würmer – ich bin die Schlange‘, pflegte er zu sagen. Er ist der durchtriebenste Hacker, den ich kenne. Und außerdem ist er ein überaus nachtragender Mensch, der seit Jahren auf Rache gegen mich sinnt. Also raus mit der Sprache, was hast du getan?“
Yannick schluchzte. „Ich wollte Betty doch nicht verlieren!“, jammerte er, „und Lutz hat gesagt, er könne mir helfen. Mit diesem – komischen USB-Stick.“
Ron zuckte zusammen. Natürlich, es war so einfach. Ein modifizierter Mobilfunk-Stick! Dass er nicht schon früher darauf gekommen war! Er musste das System sofort abschalten, jetzt hatte er keine Wahl mehr.
„Gut“, sagte er, „das war’s. Yannick, du bist gefeuert. Lass dich nie wieder bei mir blicken. Betty, deine Existenz ist hier zu Ende. Und du, Lutz, du alte Schlange“, brüllte er plötzlich los, „wenn ich dich in die Finger kriege, dann breche ich dir jeden Knochen einzeln. Auf dem Bauch sollst du kriechen und um Entschuldigung winseln, du mieser Misthund!“