Читать книгу Erzählen (E-Book) - Jörg Ehrnsberger - Страница 8
Оглавление«Erzähl doch mal …» – Wer hat diesen Satz nicht auch schon mal gehört? Manchmal haben wir Lust, dieser Aufforderung Folge zu leisten, manchmal nicht. Manchmal sprudeln wir sofort los, manchmal wissen wir nicht recht, wo wir beginnen sollen. Mal finden wir kein Ende, und mal haben wir vielleicht auch das Gefühl, dass das, was wir gerade erzählen, irgendwie nicht richtig ankommt. Oft aber haben wir schon jemandem gelauscht, der gut erzählen kann und uns mitnimmt in eine andere Welt, die uns völlig das Jetzt vergessen lässt. Aber bestimmt gab es auch schon Momente, in denen jemand etwas erzählte und wir nur mit großer Mühe den Blick zur Uhr vermeiden konnten.
Allein diese Gedanken zeigen, wie viel Erfahrung wir schon jetzt mit dem Erzählen und Zuhören von Erzähltem haben, auch wenn uns das gar nicht so bewusst ist. Erzählen ist nicht nur etwas, was andere tun, wir sind täglich mittendrin.
Im Alltagsgebrauch verstehen wir unter Erzählen, dass uns jemand etwas mitteilt, etwas berichtet, etwas Geschehenes wiedergibt. Das Wort «erzählen» geht zurück auf das mittelhochdeutsche erzeln und auf das althochdeutsche irzellen. In beiden Wörtern steckt noch die Bedeutung «zählen» im Sinne von aufzählen, was uns schon verrät, dass es beim Erzählen auch darum geht, etwas in einer bestimmten Reihenfolge aufzuzählen. In «Erzählen» schwingt aber heute im Gegensatz zu «berichten» oder «mitteilen» mit, dass das, was uns gesagt wird, etwas angereichert ist, dass es sich nicht bloß um nackte Fakten – wie in einem Bericht – handelt. Es ist etwas Schöneres, etwas, bei dem sich jemand Mühe gibt, mich zu unterhalten. Etwas, das nicht nur meinen Kopf anspricht, sondern vielleicht auch mein Herz.
KOMMUNIKATIONSMODELLE
Die meisten Kommunikationsmodelle – so sehr sie sich auch unterscheiden – stimmen darin überein, dass es beim Sprechen oder beim Erzählen darum geht, eine Botschaft von einem Sender zu einem Empfänger zu übertragen. Der Sender ist der Erzähler oder die Erzählerin, es kann aber ebenso eine Plakatwand sein oder ein Film, und der Empfänger ist der Zuhörer, die Leserin oder die Zuschauer. Die Botschaft ist der Inhalt, der dabei vom Sender – irgendwie – zum Empfänger transportiert wird. Kommunikation kann dabei auch ganz ohne Worte funktionieren. Stehe ich gemächlich irgendwo mit dem Auto im Stau und der Fahrer auf der anderen Spur lächelt mir freundlich zu, zeigt auf meine Spur, legt den Kopf leicht schräg und zieht fragend die Augenbrauen nach oben, lasse ich ihn natürlich gern vor mir einscheren, denn er hat ja so freundlich gefragt. Kein Problem, wir verstehen uns. Der Kontext der Situation ist also mit entscheidend für das Verstehen einer Botschaft; er transportiert viele Informationen. Daneben steht uns eine ganze Reihe von Ausdrucksmitteln zur Verfügung, wenn wir miteinander sprechen: Mimik, Gestik, Tonfall oder Stimmung. Wissenschaftlich belegt ist, dass ohnehin nur 10 bis 30 Prozent der Kommunikation verbal vonstattengehen und der Rest nonverbal (Mimik, Gestik, Haltung usw.) oder paraverbal (Lautstärke, Stimmlage, Sprechtempo usw.) läuft.
1 Das Sender-Empfänger-Modell
WO LERNEN WIR ERZÄHLEN?
Unser Gehirn ist seit vielen Generationen äußerst erfahren darin, Erzähltes richtig zu entschlüsseln. Man muss hier gar nicht bis zu den in diesem Zusammenhang oft zitierten Neandertalern zurückgehen – doch für sie war es einfach von Vorteil, schnell zu verstehen, in welcher Richtung die Mammuts grasten, die ihr nächstes Abendessen werden konnten, und in welcher Richtung die Säbelzahntiger lauerten, für die die Neandertaler selbst zum Abendessen werden konnten.
Aus dem Blickwinkel der Neurowissenschaft ist unser Gehirn ein System, das auf Mustererkennung optimiert ist. Und Erzähltes, Geschichten sind nichts anderes als eine Reihe von Informationen, die in einem bestimmten Muster angeordnet sind. Muster lassen sich umso besser erkennen, je mehr Vorlagen unser Gehirn hatte, um zu üben. In der Schule gibt es kein Fach zur Mustererkennung, das zweimal die Woche zwischen Deutsch und Mathe unterrichtet wird. Und trotzdem lernen wir auch in der Schule, Muster zu erkennen, wenn auch in den meisten Fällen, ohne dass wir es bewusst merken. Das Erkennen von Mustern in Geschichten geht sogar schon weit vor der Schule los und lange nach der Schule weiter. Jedes Mal, wenn wir eine Geschichte hören, gleicht unser Gehirn dieses Erzählmuster mit den anderen ab, die es bisher gehört hat. Und jedes wiederholte Muster verstärkt die synaptischen Verbindungen in unserem Gehirn. Wo aber begegnen uns nun diese ganzen Erzählmuster, an denen unser Gehirn so fleißig lernt? Ganz einfach: Wir sind ständig umgeben von Erzähltem. Unsere ganze Kultur ist darauf aufgebaut. Als Kinder hören wir von unseren Eltern Geschichten, wenn wir Glück haben, jeden Abend beim Einschlafen. Aber auch schon tagsüber und in Erklärungen: «Du kannst jetzt nicht noch ein Eis essen, sonst kriegst du Bauchweh, und wir müssen ins Krankenhaus.» Selbst wenn diese Geschichten nicht immer ganz wahr sind, weisen auch sie schon die für Geschichten typischen Muster auf: Wenn du dies tust, passiert das und dann wahrscheinlich das.
Auch Kinder fangen schon sehr bald an, Geschichten zu erzählen: «Weißt du, mein Papa ist im Flugzeug zur Arbeit, und wenn er wiederkommt, krieg ich ein Geschenk.» Selbst wenn diese Form des Erzählten noch sehr simpel erscheint, enthält sie schon das Wesentliche an den in unserem Kulturraum üblichen Erzählmustern. Kinder lernen irgendwann lesen, in der Schule oft mit Geschichten. Selbst wenn sie nicht zu aktiven Leserinnen und Lesern werden, sind sie trotzdem weiter permanent von Erzähltem umgeben: Je nach Elternhaus sehen sie eine unterschiedliche Menge an Filmen und Serien, sie spielen Computerspiele, in denen sie selbst zu Handelnden der Geschichte werden. Sie dürfen oder müssen, je nach Vorerfahrung, bald in der Schule selbst komplette Bücher lesen. Sie erzählen einander vom Wochenende, sie hören, wie andere Kinder von ihren Erlebnissen erzählen.
Sogar wenn die Kinder die Schule irgendwann verlassen, hören die Geschichten nicht auf. Als Erwachsene sind wir weiter von Geschichten umgeben, selbst wenn wir aufhören, Bücher zu lesen. Die uns immer stärker einhüllende Werbung, sei es auf Plakatwänden oder in Zeitungsanzeigen, sei es im Internet oder als Werbeunterbrechung bei YouTube. Geschichten umgeben uns als Kollegenklatsch auf dem Büroflur, auf der Party, wo jemand Geschichten über sich selbst erzählt. Wir sehen nach den Nachrichten gern den Film zum Wochenende oder suchen gezielt bei Netflix nach Filmen oder unserer Lieblingsserie.
Auch in der Politik erleben wir immer mehr, dass uns Zusammenhänge in Erzählstrukturen präsentiert werden: Hier sind wir, die Guten. Dann kommt das Böse und will unser Glück, wie auch immer, bedrohen. Aber zum Glück sind wir ja die Guten und gewinnen.
Wir können den Geschichten nicht entkommen: Selbst wenn wir ein Auto kaufen wollen, wird uns die Verkäuferin nicht nur mit den Zahlen, Daten und Fakten zum Auto langweilen, höchstwahrscheinlich wird sie uns in unserer Vorstellung erleben lassen, was wir alles mit dem Auto tun werden, was wir für tolle Dinge erleben können – wenn wir genau dieses Auto jetzt von ihr kaufen.
Wir sind also permanent umgeben von Erzähltem. Aufgrund dessen sind wir und unser Gehirn darin trainiert, die Muster in Geschichten zu erkennen. Deshalb sind wir auch alle in der Lage – mal abgesehen von persönlichem Geschmack –, recht treffsicher zu beurteilen, ob ein Buch oder ein Film gut war und ob wir damit zufrieden sind. Wenn wir aus dem Kino kommen und das Gefühl haben, dass uns etwas fehlt, oder verwirrt sind, dann muss es also nicht daran liegen, dass wir den Film nicht begriffen haben – vielleicht hat uns der Film auch nicht alles erzählt, was wir zum Verstehen brauchen.
WARUM ERZÄHLEN WIR?
Schon vor Tausenden von Jahren haben sich Menschen Gedanken zum Nutzen von Geschichten gemacht. Horaz prägte im alten Rom ein paar Jahre vor unserer Zeitrechnung in seiner «Ars Poetica», in der er sich mit Theaterstücken der damaligen Zeit auseinandersetzte, das Begriffspaar «prodesse et delectare». Er meinte damit, dass Geschichten sowohl unterhalten als auch nützlich sein, das heißt uns neben der reinen Unterhaltung auch etwas Wichtiges für das Leben mitgeben sollen. Aristoteles, der um 335 vor unserer Zeitrechnung in seinem Werk «Poetik» die damals erfolgreichen Theaterstücke des antiken Griechenlands untersuchte, fand einen Nutzen von Theaterstücken, also auf der Bühne Erzähltem, darin, dass Zuschauer durch das, was sie auf der Bühne miterleben, von negativen Emotionen gereinigt werden (Katharsis). Wenn wir etwas auf der Bühne – oder heute auch im Fernsehen, in Büchern oder im Kino – miterleben, was uns emotional berührt, kann das unsere eigenen Emotionen aktivieren, auflösen und uns von ihnen befreien.
Die Neurowissenschaften beantworten die Frage, was den Nutzen oder die Funktionsweise von Erzähltem ausmacht, ganz ähnlich. Durch die Funktion der Spiegelneuronen in unserem Gehirn sind wir in der Lage, uns in andere hineinzuversetzen. Das bekannteste Beispiel ist, dass wir ebenfalls gähnen müssen, wenn jemand anders gähnt. Es gibt aber auch Untersuchungen, die nachweisen, dass unser Körper Hormone ausschüttet, wenn wir in das Erzählte eintauchen. Ein spannender Thriller führt in unserem Körper zu einer Ausschüttung von Dopamin, was uns eher wach und aufmerksam werden lässt. Bringt uns eine lustige Geschichte zum Lachen, wird Endorphin ausgeschüttet, das uns kreativer, fokussierter und gleichzeitig entspannter werden lässt. Ist es eine anrührende Geschichte, die uns mit den Figuren mitfühlen lässt, wird Oxytocin ausgeschüttet, das mit Liebe und Vertrauen in Verbindung gebracht wird. Bedenken wir dies, wird klar, weshalb die Macht von Geschichten nicht zu unterschätzen ist.
Erzähltes kann also ganz direkt unsere Stimmung verändern und beeinflussen. Wenn wir das nicht wissen, sind wir manipulierbar. Wenn wir aber wissen, wie Erzähltes funktioniert, sind wir eher in der Lage, die Strukturen zu entdecken und uns zu schützen (beispielsweise bei Werbung).
2 Müssen Sie gähnen, wenn Sie dieses Bild betrachten? Dafür verantwortlich sind Spiegelneuronen
WIE ERZÄHLEN WIR HEUTE?
Grundsätzlich ist es auch so, dass durch die Digitalisierung Veränderungen beim Erzählen zu beobachten sind. Zum einen ist durch Computer und das Internet Erzähltes viel leichter verfügbar. MP3s lassen sich viel einfacher kopieren und verteilen als früher noch die analogen Kassetten oder Schallplatten. Heute können wir ohne viel Aufwand Audiofiles oder Videos aus dem Netz fischen und bei Bedarf weiterverteilen. E-Books kann ich mir von zu Hause aus herunterladen, in viele kann man vor dem Kauf reinlesen. Auf YouTube und anderswo gibt es kostenlos Hörbücher zu finden, wenn auch oft in einer juristischen Grauzone. Nicht nur ist Erzähltes kostenlos und viel umfänglicher verfügbar als noch vor einigen Jahren. Für einen verhältnismäßig geringen Monatsbeitrag bekommt man Zugang zu Plattformen von Hörbüchern, sodass wir immer einfacher und immer schneller über eine immer größere Auswahl verfügen – und dementsprechend auch einfacher das Erzählte finden können, das uns am besten gefällt. Dazu kann jeder, der sich berufen fühlt, eigene Texte im Internet publizieren, als Webseite, als Blog oder in welcher Form auch immer.
Weitere Entwicklungen des Erzählens sind in den letzten Jahren Phänomene wie zum Beispiel der Poetry-Slam, bei dem jeder, der möchte, mit selbst geschriebenen Texten für eine bestimmte Zeit eine Bühne vor Publikum bekommt, das ihn hinterher in Punkten bewertet. Hier erhalten Erzählende ein ziemlich direktes Feedback. Natürlich ist ein Feedback in Punkten nicht unbedingt sehr differenziert, aber wenn man es sportlich nimmt, kann man aus der Reaktion des Publikums schon einiges über die eigenen Texte erfahren.
Eines der Verdienste der Poetry-Slams ist zudem, dass sie mit dazu beigetragen haben, die Nachwehen der «Genieästhetik» des Sturm und Drangs aus dem 18. Jahrhundert aufzulösen. Seit jener Zeit hielt sich in Deutschland, anders als in anderen Ländern, die Auffassung, dass man Dichten nicht lernen könne, man müsse dazu von Geburt an begabt sein. Fanden sich vor fünfzehn Jahren Schreibratgeber in den Buchhandlungen noch oft in der Selbsthilfeecke neben Büchern zu Depression oder Rückenschmerzen, ist inzwischen aus der literarischen Produktion, in der man das Erzählen sogar mit Universitätsabschluss studieren kann, eine eigene profitable Industrie geworden.
Trotz – oder vielleicht auch gerade wegen – der ganzen modernen Entwicklungen und technischen Neuerungen gibt es jetzt auch ein wieder erwachendes Interesse am Erzählen an sich. Es gibt immer mehr Kurse und Workshops, in denen man das Erzählen wieder lernen kann; es gibt Erzähltreffen und sogar Erzählfestivals. Immer gilt aber, dass Erzähltes nach bestimmten Prinzipien funktioniert, und die wollen wir in diesem Buch vorstellen und ausprobieren.