Читать книгу Ein Blick in die Schule und zwei dahinter - Jörg Ehrnsberger - Страница 11
Was dahintersteckt
ОглавлениеCord-Hendrik, der Klassenbeste aus der 3b, hat schon über zehn Bücher für die Leserallye gelesen. Jan hat sechs. Karl nur zwei. «Ich bin kein guter Leser», meint er. Jan dagegen ist überzeugt, dass man das selbst in der Hand hat: «Wenn man sich anstrengt, wird man besser, egal worin.» Karl widerspricht: «Lesen ist nichts für mich und da ändert sich auch nichts dran.»
Nach Karls «Ich-bin-so»-Überzeugung stammt Erfolg von Dingen, die er – Pech gehabt – leider nicht mitbekommen hat. Karl hat kein Talent fürs Lesen. Sein Vater hat ja auch keines. Nach Jans «Ich-hab’s-in-der-Hand»-Überzeugung ist Erfolg dagegen eine Frage der Anstrengung.
Es geht hier gar nicht darum, wer von beiden zu welchem Teil recht hat. Es geht um etwas Spannenderes. Darum, was passiert, wenn man das eine oder das andere glaubt. Wissenschaftler um Carol Dweck von der Stanford Universität untersuchten die Wirkung dieser Überzeugungen. Was passiert, wenn jemand glaubt, dass Erfolg mit Anstrengung zu tun habe? Und was passiert, wenn jemand das nicht glaubt?
Amerikanische Schüler wurden nach solchen Überzeugungen gefragt. Manche meinten, dass man ein bestimmtes Mass an Intelligenz habe und nichts tun könne, um das zu ändern. Das waren die Karls. Andere meinten, jeder Mensch könne im Laufe seines Lebens schlauer werden. Das waren die Jans. Die Schüler wurden weiter befragt. Dachten sie, je mehr man sich anstrenge, desto besser werde man auch? Oder eher, wenn du in irgendetwas nicht gut bist, hilft es auch nichts, sich anzustrengen? Wie reagierten sie auf schulische Misserfolge? Dachten sie, «ich bin eben nicht gut», und nahmen sie sich vor, beim nächsten Mal einfach zu schummeln? Oder glaubten sie, dass sie sich mehr anstrengen und beim nächsten Mal besser vorbereiten müssten?
Die Studie begleitete die Schüler durch das siebte und achte Schuljahr und sammelte ihre Mathenoten. Die Jans in dieser Studie, d. h. diejenigen mit der «Ich-hab’s-in-der-Hand-Überzeugung», konnten ihre Mathenote stetig verbessern. Die Karls jedoch nicht. Wieso? Die «Ich-hab’s-in-der-Hand»-Überzeugung ging mit dem Glauben einher, dass sich Anstrengung lohne. Deshalb führte Misserfolg nicht zu Hilflosigkeit («Ich bin halt nicht gut.»). Er führte sogar zu positiven Strategien («Beim nächsten Mal bereite ich mich besser vor.»). Mit diesen Strategien stiegen auch die Leistungen in Mathematik über die Monate hinweg. Bei den Jans. Aber nicht bei den Karls in dieser Studie.
In einer zweiten Studie nahmen sich die Forscher die schlechten Matheschüler vor. Der Hälfte von ihnen erzählten sie, dass man immer schlauer werden könne. Sie versuchten den Schülern eine «Ich-hab’s-in-der-Hand»-Überzeugung zu vermitteln. Die andere Hälfte – die Kontrollgruppe – bekam in derselben Zeit ein Gedächtnistraining. Was passierte? Die Kontrollgruppe veränderte ihre Überzeugungen nicht. Warum auch? Aber die Versuchsgruppe veränderte sich hin zu «Ich hab’s in der Hand». Und mit dieser Änderung verbesserten sich auch die Mathenoten im nächsten Schulhalbjahr. Eine Schülerin, die immer zu den schlechteren zählte, nutzte unaufgefordert die Mittagspausen für Matheübungen. Die nächste Mathearbeit bestand sie mit Bravour statt wie sonst mit ungenügend. Sie merkte, dass sie es tatsächlich in der Hand hatte, wie gut sie in Mathe wurde.
Wie gelang es, Schüler vom «Ich-hab’s-in-der-Hand» zu überzeugen? Zum einen half ein Text über das Gehirn, das mit einem Muskel verglichen wurde, der sich durch Übung entwickelt. Zum anderen half ein Blick in die eigene Biografie. Die Schüler erinnerten sich an Situationen, in denen sie etwas schliesslich richtig gut konnten, weil sie viel geübt hatten. Sie dachten daran zurück, wie sie immer besser wurden und dass Fehler zum Besserwerden dazugehören. Damit wurde ihnen klar: Man hat es in der eigenen Hand, ob man etwas kann oder nicht. Das Programm umfasste insgesamt acht 25-minütige Unterrichtseinheiten. Nur vier davon unterschieden sich in der Versuchs- und der Kontrollgruppe. Erstaunlich, wie schnell den Schülern eine «Ich-hab’s-in-der-Hand»-Überzeugung vermittelt wurde. Doch das geht sogar noch schneller. Zum Beispiel durch Lob.
Für ein Experiment sollten Fünftklässler ein relativ leichtes Aufgabenblatt lösen. Dafür wurden sie gelobt. Die einen bekamen ein Lob, das sich auf «Du bist so» bezog: «Du bist ja richtig schlau!» Die anderen wurden für ihre Anstrengung gelobt: «Du hast dich richtig gut angestrengt!» Dieses zweite Lob vermittelte damit: «Du hast es in der Hand». Das nächste Aufgabenblatt war absichtlich schwierig. Erwartungsgemäss taten sich die Schüler schwer damit. Die unterschiedlichen Überzeugungen entfalten vor allem dann ihre Wirkung, wenn es schwer wird oder gar ein Misserfolg verdaut werden muss. Das kann sein, wenn es schlechte Noten hagelt, bei einem neuen Thema, einem anderen Lehrer oder beim Übergang in eine weiterführende Schule. Im Experiment traten die Unterschiede bei den schwierigen Aufgaben zutage: Schüler, die in Richtung «Du hast es in der Hand» gelobt wurden, führten ihr schlechteres Abschneiden auf zu wenig Anstrengung zurück. Ihnen fiel es leichter, an der Aufgabe dranzubleiben, auch wenn es schwierig wurde. Sie freuten sich sogar über schwierige Aufgaben und interessierten sich dafür, wie sie noch besser werden könnten. Zum Abschluss des Experiments bekamen die Schüler wieder ein leichtes Aufgabenblatt. Und wieder zeigten sich Unterschiede: Wer ein «Du-hast-es-in-der-Hand»-Lob bekommen hatte, verbesserte sich gegenüber der ersten Aufgabenserie. Wer für unveränderliche und unbeeinflussbare Eigenschaften («Du bist so»/»Du bist ja richtig schlau!») gelobt worden war, war nicht mehr so gut wie anfangs. Möglicherweise behinderten ihn Selbstzweifel: «Vielleicht gehöre ich ja doch nicht zu den Schlauen?» (vgl. Kap. 1).
Was bedeutet das für Lehrkräfte? Zum einen, dass Frau Gomez die richtige Idee hatte, die Karl dazu brachte sich anzustrengen. Zum anderen zeigt diese Studie, wie leicht mit Feedback Anstrengung untergraben werden kann.
Wer eine Arbeit mit den Worten wiedergibt: «Der Test ist durchschnittlich ausgefallen, ausser bei denjenigen, die immer danebenhauen, und denen, die’s sowieso können», zementiert den Status quo und untergräbt zukünftige Anstrengung. Wenn ein Schüler hört: «Sowas Dummes wie du!», wird er sich kaum anstrengen. Es ist ja ohnehin sinnlos. Auch wenn ein Schüler hört: «Cord-Hendrik, der kann’s einfach!», heisst das für alle: «Können gibt es ohne Anstrengung.»
Dabei müssen sich selbst Genies anstrengen, um gut zu sein und besser zu werden. Schüler, die von den Anstrengungen berühmter Wissenschaftler lesen, verbessern ihre Leistungen in den Naturwissenschaften eher, als wenn sie nur von deren herausragenden Leistungen wissen. Wer glaubt, dass es für Naturwissenschaften ein aussergewöhnliches Talent braucht, wirft auf Durststrecken die Flinte ins Korn. Wer weiss, dass es auch Genies schwer haben, sieht Schwierigkeiten und Anstrengung als normal an und nicht als Zeichen mangelnden Talents.
Die «Ich-hab’s-in-der-Hand»-Überzeugung (oder auf Englisch: growth mindset) hat nach Carol Dweck drei Vorteile:
Schüler verwenden weniger Aufwand auf das Erscheinungsbild. Wer glaubt, besser werden zu können, versucht, besser zu werden.
Schüler glauben, dass sich Anstrengung lohnt. Anders diejenigen mit der «Ich-bin-so»-Überzeugung (fixed mindset): Sie meinen, wer sich anstrengen muss, habe kein Talent. Oder umgekehrt: Wer Talent hat, brauche sich nicht anzustrengen.
Schüler verstehen, dass Fehler zum Lernen dazugehören. Sie werden als Lerngelegenheiten angesehen und nicht als Zeichen mangelnder Fähigkeiten.
Schüler mit der «Ich-bin-so»-Überzeugung tendieren bei Misserfolg zu Hilflosigkeit oder zum Vertuschen. Sie vermeiden Situationen, in denen ihre Leistung auf dem Prüfstand steht. Karl hat sich nicht um das Vorleseprojekt gerissen. Schüler mit dieser Einstellung sind auch nicht sonderlich motiviert. Motiviert sind vor allem die, die meinen, dass sie besser werden, wenn sie sich anstrengen. Diese «Ich-hab’s-in-der-Hand»-Überzeugung ist eine wichtige Voraussetzung, um aus Lerngelegenheiten tatsächlich zu lernen. Beim Lesen. In Mathe. Oder im Fussball. Karl hat das für sich zum Glück noch entdeckt.