Читать книгу Ein Blick in die Schule und zwei dahinter - Jörg Ehrnsberger - Страница 7
Was dahintersteckt
ОглавлениеHerr Funk fragt sich, warum Meike plötzlich gut in Bio ist. Licht in die Sache könnten ein paar alte Studien des amerikanischen Psychologie-Professors Robert Rosenthal bringen. In den 1960er-Jahren liess er Studenten mit Ratten experimentieren. Sie sollten die Leistungen von genetisch identischen Laborratten messen. Glaubten sie, Ratten vor sich zu haben, die auf «superschlau» gezüchtet waren, zeigten ihre Messungen genau das an. Meinten sie, es mit genetischen «Dummerchen» zu tun zu haben, sahen sie nur Unfähigkeit.
Nun ging Rosenthal einen Schritt weiter. Seine nächste Studie nahm nicht Ratten und studentische Versuchsleiter, sondern Grundschulkinder und ihre Lehrpersonen ins Visier. Dabei absolvierten kalifornische Schüler einen neuen IQ-Test. Ihren Lehrern wurde erzählt, es handele sich um einen Test, der schulische Entwicklungsschübe voraussage. Und wie erwartet kamen die Forscher mit einer Liste von Namen zurück. Was die Lehrpersonen nicht wussten: Welcher Name auf der Liste landete, entschied nicht der Test, sondern der Zufall. Aus jeder Klasse wurden 20 Prozent der Schüler ausgewählt. Die Lehrer sollten von diesen einen unmittelbar bevorstehenden Entwicklungsschub erwarten dürfen. Und nun begann in den Klassenzimmern das eigentliche Experiment. Was in den acht Monaten bis zur nächsten Testung genau geschah, weiss man nicht. Aber es ähnelte wohl dem, was Meike und ihr neuer Lehrer erlebt hatten. Wenn ein Listenkind Fragen halbrichtig beantwortete, wurden diese als zutreffend bewertet. «O. k., ich denke, du meinst hier das Richtige, auch wenn es jetzt vielleicht nicht ganz so rausgekommen ist. Ich fass das noch mal zusammen …» So wie Meike von Herrn Funk bestärkt wurde, wurden auch die Listenkinder womöglich durch diese und ähnliche Begebenheiten ermuntert. Sie beteiligten sich stärker am Unterricht und lernten in diesen Monaten: Ich kann das. Ich bin gut in der Schule. Sogar mein Lehrer hält was von mir.
Dann wurden die IQ-Tests noch mal durchgeführt. Es wurde berechnet, wie viel schlauer jedes Kind geworden war. Bei den Erstklässlern war der Unterschied am markantesten: Die Listenkinder hatten durchschnittlich 27 Punkte zugelegt, ihre Klassenkameraden nur 12. Ein satter Unterschied von 15 IQ-Punkten.
15 IQ-Punkte haben oder nicht – das macht schon was aus. Es holt den einen von der Sonderschule, es bringt die andere aufs Hochbegabtengymnasium. Wie entstehen solche Unterschiede? Liegt es an dem Bild, das die Lehrperson vom Schüler hat? Möglicherweise hatten die Lehrkräfte von den Kindern, deren Namen auf der Liste standen, ein positiveres Bild. Da ein Entwicklungsschub angekündigt worden war, überschätzten sie deren Leistungen. Und bewerteten zu gut. Aber in der Geschichte von Meike macht sich der Lehrer die Mühe, noch einmal die Arbeit zu kontrollieren. Er kommt dabei zum selben Ergebnis! Und in der Studie von Rosenthal wurden die Leistungstests von Externen ausgewertet. Die wussten nicht, für welches Kind ein Entwicklungsschub vorausgesagt worden war. Die Bewertung der Lehrer erklärt also kaum, warum die Listenkinder locker doppelt so gut abschnitten wie ihre Klassenkameraden. Ein anderer Grund für diese Unterschiede ist das Bild, das die Schüler von sich selbst haben.
Was haben Optimist und Pessimist gemeinsam? Sie haben beide recht! Wenn die Schülerin optimistisch meint: «Ich kann das. Ich bin gut in der Schule. Sogar mein Lehrer hält was von mir», wird sie bei der Aufgabe so lange probieren und sich bemühen, bis sie den Dreh gefunden hat. Wenn der Schüler pessimistisch denkt: «Ich kann das nicht. Ich bin nicht gut in der Schule. Sogar mein Lehrer hält nichts von mir», wird er sich bei der Aufgabe nicht lange bemühen. Es hat doch alles sowieso keinen Zweck. Selbstbilder bestätigen sich auf diese Weise in einer selbsterfüllenden Prophezeiung.
Rosenthals Experiment funktionierte bei den älteren Jahrgängen nicht mehr so gut wie bei den Erst- oder Zweitklässlern. Möglicherweise sind gefestigte Selbstbilder dafür verantwortlich. Bei einem gefestigten negativen Selbstbild («Ich kann das alles nicht») hilft auch eine Lehrperson wenig, die auf einen Entwicklungsschub wartet.
Angenommen, ein Schüler denkt: «ICH KANN EINFACH KEIN MATHE!!!!! Diese Vier in Mathe versaut mein Zeugnis und ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll! Ich kann nämlich nicht mathematisch denken. VERDAMMT, ICH KANN’S NICHT.» Was passiert dann? Schon bei dem Gedanken an eine Mathearbeit schaltet sich das Stressnetzwerk in seinem Gehirn an und das Frontalhirn stellt sich aus. Es fällt ihm sogar schwer, zwei plus zwei zusammenzuzählen. Nicht, weil er es nicht kann, sondern weil er unter Stress steht. Wer meint, unsportlich zu sein, weil er dick ist, wird sich vor Sport drücken. Wer als Afroamerikaner immer wieder mit dem Vorurteil konfrontiert ist, dumm und faul zu sein, wird sich kaum um Fleiss bemühen. Und auch nicht um Verständnis.
Schon der Gedanke an ein Vorurteil kann die eigene Leistung torpedieren. Das zeigte eine Studie, bei der junge Frauen Matheaufgaben lösen sollten. Manche von ihnen lasen zuvor einen Text zu genetisch bedingten Unterschieden bei Matheleistungen. Männer seien halt anders als Frauen, hiess es da. Das liege in den Genen. Deshalb könnten sie auch besser Mathe. Andere Frauen lasen einen Text, der solche Unterschiede auf die Lehrpersonen zurückführte. Mathelehrer behandelten Mädchen eben anders als Jungen, wurde dort erklärt. Deshalb seien Männer besser in Mathe. Die Frauen, die die erste Begründung gelesen hatten, schnitten schlechter ab. Dabei waren die Gruppen eigentlich gleich gut. Aber der Text hatte das Vertrauen der Frauen in ihr Können erschüttert. Der Gedanke, als Besitzerin zweier X-Chromosomen Mathematik eben nicht so gut zu können, führt genau dazu: zum «Eben-nicht-so-gut-Können». Wer also denkt, etwas nicht zu können, weil er so ist, wie er ist, stellt sich damit selbst ein Bein.
Was kann man also gegen schädliche negative Selbstbilder tun? Nicht jeder bekommt wie Meike einen neuen Lehrer, der sie irrtümlich, aber voller Überzeugung, für eine sehr gute Schülerin hält, der sie so behandelt, dass sie selbst beginnt zu glauben, eine sehr gute Schülerin zu sein. Aber hier ist etwas, was jeder kann: nachmachen, was amerikanische Sozialpsychologen probiert haben. Sie testeten eine einfache Intervention. Zu Beginn des Schuljahres schrieben Sechstklässler einen Aufsatz. Dafür bekamen sie eine Liste von Werten und sollten denjenigen aussuchen, der für sie am wichtigsten war und ihre Wahl begründen. Dabei ging es nicht um Rechtschreibung oder Grammatik. Es ging nur um die Gedanken und Ideen der Schüler zu ihrem eigenen Leben.
«Beziehungen zu Freunden oder zur Familie» wählte ein Mädchen und schrieb: «Meine Freunde und meine Familie sind mir am wichtigsten, wenn ich eine schwierige Situation zu meistern habe und darüber reden möchte. Von meinen Freunden bekomme ich Zuspruch. Von meiner Familie Liebe und Verständnis.» «Sportliche Fähigkeiten» wählte ein Junge und notierte: «Sportlich zu sein ist mir wichtig. Wäre ich nicht sportlich, könnte ich nicht mit meinen Freunden spielen. Ich hätte wohl gar keine. Wir spielen immer draussen, Fussball, Baseball, Basketball.» Jemand wählte «religiöse Werte» und meinte: «Gott ist die Antwort auf alles.» Ein Mädchen entschied sich für «kreativ sein»: «Ich bin gern anders als die anderen. Ich brauche Kreativität. Wenn wir Projekte machen und alle machen dasselbe, wähle ich etwas anderes.»
Nach dem Aufsatz kreuzten die Schüler noch an, ob der Wert ihr Leben beeinflusst hatte und ob sie versuchten, diesen Wert zu leben. Die gesamte Prozedur wurde in abgewandelter Form noch zwei- bis dreimal pro Schuljahr wiederholt.
Die Aufsätze, die beantworteten Fragen und auch die Ergebnisse der zentralen Prüfungen gingen an die Forscher. Diese verglichen die Resultate der Schüler mit denen einer Kontrollgruppe. Dort wurde nur über Werte geschrieben, die nichts mit den Schülern zu tun hatten.
Im Fokus der Studie standen besonders die afroamerikanischen Schüler. Diese wurden als Gruppe im Alltag immer wieder mit dem Vorurteil konfrontiert, dumm und faul zu sein, bis sie es selber glaubten. Die Intervention wirkte! Sie verbesserten ihre Noten. Der Effekt war besonders deutlich bei den schlechteren Schülern. Sie bekamen bessere Zeugnisse und blieben über zwei Jahre hinweg stabil auf dem Niveau. Manche verbesserten sich sogar noch weiter. Sitzenbleiber gab es unter hundert Schülern nur noch drei. Nicht so in der Kontrollgruppe. Da blieben dreimal so viele Afroamerikaner sitzen. Ein deutlicher Effekt, noch dazu für so eine simple Intervention.
Die Aufsätze, in denen sie sich auf ihre eigenen Werte besonnen hatten, halfen den afroamerikanischen Schülern, ihr Bild von sich selbst zu verbessern. Dadurch drängten sie negative Selbstbilder zurück. Das ist wichtig: Denn wer schlecht über sich und seine Leistungen denkt, strauchelt tatsächlich. Und gerät in eine Abwärtsspirale. Doch diese Spirale funktioniert auch aufwärts – wie bei den Afroamerikanern in der Studie und bei Meike in der Geschichte.