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2. Zum Erben erwählt

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Wenn du eine Rolle übernimmst, die deine Kräfte übersteigt, entehrst du dich in ihr und lässt zugleich die im Stich, die du hättest ausfüllen können.

Epict. enchir. 37

Im heute als „Erstes Buch“ der Selbstbetrachtungen bekannten autobiographischen Rückblick findet sich eine lange Reihe von Danksagungen Marc Aurels an Verwandte, Lehrer und Freunde für das Vorleben persönlicher Tugenden und für hilfreiche Eingriffe in sein Leben. Die mit Abstand längste Passage behandelt Antoninus, den Kaiser und Adoptivvater, je einige Sätze auch den früheren Adoptivvater Catilius Severus und „meinen Großvater Verus“. Nicht ein Wort gilt Hadrian, der in den ersten Monaten des Jahres 138 zu Marcus’ neuem Großvater durch Adoption wurde, und der Zusatz „Verus“ war eigens gedacht, eine Verwechslung auszuschließen. Von Undank zu sprechen wäre völlig legitim.1

Zwei Schlüsse drängen sich auf: Marcus lehnte Hadrian ab, und falls er für die Kaiserwürde je dankbar war – was nicht wahrscheinlich ist –, schrieb er alles Verdienst daran Antoninus zu. Sympathie und Wertschätzung waren allenfalls auf Hadrians Seite im Spiel, als er noch einmal sein großes Vorbild Augustus imitierte und auf einen Schlag zwei Generationen von Nachfolgern bestimmte. Auch hier ist Vorsicht geboten. Falls die Vermutung zutrifft, dass Marcus das Kind von Hadrians Halbschwester war, machte ihn dies nach dem Scheitern von Servianus’ Linie zum wohl engsten Verwandten des Princeps, ganz wie Antoninus dessen nächste Verwandte, Marcus’ Tante Faustina, geheiratet hatte. So kehrte Hadrian zu jenem dynastischen Prinzip zurück, das er mit der Wahl der Ceionier, die ihm genealogisch ferner standen, 136 einstweilen verlassen hatte. Das gescheiterte Projekt wurde aber nicht folgenlos begraben: Lucius, der kleine Sohn des verstorbenen Caesar, erhielt seinen Platz in der frisch komponierten Kaiserfamilie.2

Zu Beginn des Jahres – angeblich am 24. Januar, Hadrians Geburtstag – wurde der neue Plan publik gemacht; falls der Kaiser das körperlich vermochte, war es Tradition, dass er selbst vor den Senat trat und zum Volk sprach. Wir wissen nicht, ob dies möglich war. Antoninus wurde am 25. 2. 138 von Hadrian adoptiert; die Verleihung des Titels Caesar und erster Anteile der Kaisergewalt folgten unmittelbar. Seinerseits hatte Antoninus sowohl Marcus als auch Lucius zu adoptieren – eine Doppellösung, die seit acht Jahrzehnten niemand versucht hatte. Für den nur zu möglichen Fall, dass ein Prinz vor Antoninus starb, würde es weder zur Erbschaftskrise noch zur Rivalität kommen. Mord im Kaiserhaus war trotz der Servianus-Affäre weithin außer Mode gekommen. Am wahrscheinlichsten musste in den Spekulationen des Jahres 138 ein Modell sein, das mit zwei festen Vorgaben rechnete: Marcus war Antoninus’ Neffe und beinahe zehn Jahre älter als sein künftiger Bruder, der am 15. Dezember – wohl 130 – geboren war. Wenn ihm nichts zustieß, würde Marcus einen Vorsprung haben, den Lucius unmöglich einholen konnte, es sei denn, er würde spektakulär bevorzugt werden, womit aber aus dem ersten Grund nicht zu rechnen war. Hadrian erhöhte das Gewicht des Jungen, indem er Lucius’ Verlobung mit Antoninus’ einzig überlebender Tochter Faustina anordnete, wohl wissend, dass der Widerruf solcher Absprachen vor der Hochzeit durchaus üblich war. Allerhand sprach dafür, dass Lucius niemals herrschen würde.3

Hadrian war kaum so umnachtet, dies nicht zu sehen. So nahm er diese Entwicklung zumindest in Kauf. Er hätte Antoninus, einen Mann von 51, allein mit dem siebenjährigen Lucius zusammenspannen können, aber die Chancen standen hoch, dass der Erbe der zweiten Generation dann früh und unerfahren auf den Thron kommen würde – Hadrian selbst war damals 41 gewesen und Traian noch etwas älter. Wenn Marcus hinzutrat, wuchs die Hoffnung auf einen wohlvorbereiteten Erben. Mehr als durch Doppeladoption, seine letzten Äußerungen vor Zeugen und sein Testament konnte Hadrian sowieso nicht sicherstellen, dass sein Wille geschehen würde; eine etwaige Direktive, beide zu Kaisern zu machen, würde vielleicht beherzigt werden, vielleicht aber auch nicht.

Wenn Hadrian so viel an Marcus lag, fragt sich, wieso er ihn nicht gleich 136 von Aelius Caesar hatte hinzuadoptieren lassen. Die Antwort liegt eventuell in der Geschichte der iulisch-claudischen Kaiserdynastie und ihrer Familienmorde: 37 hatte Caligula, Tiberius’ Neffe, die Herrschaft nominell mit dem Enkel des Princeps, Tiberius Gemellus, teilen sollen, 54 Nero, Claudius’ Adoptivsohn, mit dessen leiblichem Kind Britannicus. Beide Male ermordete der ältere, adoptierte Erbe den jüngeren; es ist unsicher, ob Aelius Caesar einer solchen Konstellation zugestimmt hätte.

Vermutungen sind unausweichlich, wer Hadrians eigentlicher Wunscherbe für die ferne Zukunft war. Eine Mehrzahl denkt an Marcus – so sehr, dass es weithin üblich geworden ist, Antoninus in Hadrians Plänen zum bloßen Platzhalter zu machen. Ein bis zur Unverständlichkeit intelligenter Mann mit einer langen Karriere in Militär und Provinzen hätte sich, so die Überzeugung, sonst nie einen ortsfesten Patrizier ohne große Kenntnis des Reiches ausgesucht, der als Statthalter der Provinz Asia fast peinliche Sanftmut gegenüber arroganten Intellektuellen bewiesen hatte. Doch rund um Marcus wimmelte es von markanteren, charakterstarken Verwandten, wenn Hadrian einen gewollt hätte. Ummidius Quadratus, der andere Schwiegersohn des alten Verus, war so profiliert, dass man Hadrian später zuschrieb, er habe ihn dafür förmlich gehasst. Verus selbst, der Großvater, war 126 noch einmal Consul gewesen und hätte einen formidablen Übergangskaiser abgegeben. Schließlich war da Catilius Severus, der jetzige Stadtpräfekt, Marcus’ zeitweiliger Ersatzvater, Feldherr, Diplomat und für sein Teil fest davon überzeugt, er habe jeden Anspruch auf die Herrschaft, wenn sie auf Marcus hinauslief – bald sollte Rom mehr davon hören.4

Keinen von ihnen wählte Hadrian. Er nahm einen im Senat bestens eingeführten, durchaus zivilen Mann von Familie, der im Ruf des Traditionalismus und der Umgänglichkeit stand. Ob er dabei mehr auf Antoninus’ Fügsamkeit gegenüber seinen Direktiven setzte oder auf die Werbewirkung der so unhadrianischen Figur unter den aufgebrachten Senatoren, muss offenbleiben, doch wie schon im Fall Aelius Caesars traf die Wahl einen Kompromisskandidaten mit tadellosem Stammbaum und etwas wenig Profil. Nicht einmal einer der Consuln, die das Jahr 138 eröffneten, wurde von diesem besonders prestigereichen Platz verdrängt und zum „außerordentlichen“ consul suffectus in den Folgemonaten zurückgestuft. Seit Nerva war kein Kandidat mehr Senatskaiser gewesen. Dass es gar keinen der militärisch Erfahrenen getroffen hatte, mochte das Entstehen einer geschlossenen Opposition erschweren; Ex-Statthalter und mächtige Vertraute Hadrians durften hoffen, künftig mehr denn je gebraucht zu werden.


Abb. 3: Die Kaiserdynastie nach den Adoptionen von 138, in einem Relief aus Ephesos zugunsten des späteren Kaisers Lucius Verus umgedeutet (vgl. S. 88): Hadrian (hinten rechts) und Antoninus umrahmen den kleinen Lucius, während Marcus links am Rand steht (Wien, Kunsthistorisches Museum).

Wo diese Entscheidungen fielen, ist nicht überliefert; alles spricht für Rom, nicht etwa für die riesige palastartige Villa von Tibur, in der man sich Hadrian gern in selbstgewähltem Exil denkt. Der sterbende Princeps hatte noch strapaziöse Monate vor sich, bedrängt von den Schmerzen und Erstickungsanfällen seiner Herzkrankheit ebenso wie von der Notwendigkeit, Personalien zu regeln und den drei Auserwählten eine feste Grundlage zu schaffen. In Hadrians Testament hieß es etwa, der Sophist Polemon habe ihm zu Antoninus geraten, aber das war eine Schutzbehauptung des eigenwilligen Philhellenen, der sich an den Hinauswurf Antoninus’ als Proconsul aus Polemons Haus erinnerte – für unerschöpflich hielt er die Sanftmut seines Erben also nicht.5

Auch war es nicht Hadrians Art, die Macht früher als nötig aus der Hand zu geben. Er stand wiederholt am Rande des Selbstmordes und verlor – für antike Begriffe – soweit die Kontrolle, dass ihm Klagen und Verwünschungen über sein Schicksal entwischten. Spät erst trennte er sich von einer größeren Portion der Staatsgeschäfte, „ließ Antoninus zum Herrschen zurück“ und reiste, um der Sommerhitze Roms zu entgehen und vielleicht eine letzte Kur zu versuchen, in den mondänen Badeort Baiae am Golf von Neapel. Cassius Dio berichtet, aus Trotz habe er am Ende seine Diät aufgegeben, die ihm vermutlich fast so sehr zusetzte wie das Leiden, und damit den Tod beschleunigt. Am 10. Juli 138 war es überstanden. Nach den harten Kategorien eines nach stoischen Doktrinen urteilenden Jugendlichen konnte der Versuch, die Herrscherpflichten durch verfrühten Tod abzuschütteln, nur Kritik, allenfalls Bedauern auslösen. Spätere Kommentatoren ließen Antoninus die Tat durch Vorsicht wie Zureden verhindern.6

Der Atmosphäre nach, die sich angeblich ausbreitete, konnte man sich hundert Jahre zurückversetzt glauben. Aus den zwei bekannten Todesopfern der Spätzeit Hadrians werden in den Quellen Mord und Verfolgung etlicher Senatoren, von denen ein großer Teil auf wunderbare Weise durch Antoninus gerettet wurde, und ein tief sitzender Hass „aller“ auf den Beinahe-Tyrannen, verbunden mit inniger Liebe zum gutherzigen Erben. Diese Version konnte die wirklichen Turbulenzen nicht ganz verbergen. Denn kein anderer als Marcus’ Ex-Adoptivvater Catilius Severus, nun Stadtpräfekt, hielt nicht mit seiner Meinung über die Wahl von Antoninus zurück, offenbar weil er sich mindestens ebenso geeignet sah. Catilius war mindestens siebzig, aber rüstig und streitlustig genug; er legte jedoch sein Amt nieder oder wurde zum Rücktritt gezwungen.7

Die Nachricht von Hadrians Tod brachte die erste größere Amts- und Familienpflicht für Marcus. Während Antoninus nach Kampanien reiste, leitete sein älterer Adoptivsohn die ersten Trauerfeierlichkeiten in der Hauptstadt. Wenn ein Kaiser auf Reisen starb, war das gängige Verfahren, die Leiche nahe dem Sterbeort zu verbrennen und die Urne nach Rom zu überführen, wo sich die eigentliche Trauerfeier anschloss. Der Erbe begleitete in der Regel den Überführungszug. Die Historia Augusta beschreibt aber, dass Hadrian ‚in aller Stille‘ in Puteoli beigesetzt worden sei; erst später, nach dem Ende des größten Unmuts, seien die Überreste nach Rom gelangt. Moderne Autoren haben in diesem Zusammenhang auf die Fertigstellung des großen Mausoleums erst gegen 139 verwiesen und darin eine Bestätigung gesehen. Vermutlich erliegen sie einer feindseligen Fiktion. Ein Jahr vor dem Abschluss fehlten dem Grabmal sicher noch viele Ornamente, doch war es zur Aufnahme von Urnen bereit. Überdies war ein zügiges Begräbnis mit einer entscheidenden Handlung verknüpft: der Apotheose des Toten.8

Einen vergöttlichten Kaiser als Vater zu haben war ein Kernpunkt kaiserlicher Selbstdarstellung. Deshalb duldete diese Sache keinen Aufschub von Monaten. Antoninus traf jedoch auf Widerstand im Senat, der ihn überrascht haben mag, als zwei eigentlich routinemäßige Schritte sondiert wurde, die Vergöttlichung des Verstorbenen und der ihr eng verwandte Beschluss, dass alle Rechtsentscheidungen Hadrians ohne Prüfung fortgelten sollten. Diese Feststellung des Senats markierte den „guten“ Kaiser. Wurden die Maßnahmen der abgelaufenen Ära dagegen förmlich widerrufen, bedeutete dies, dass der Tote zum Staatsfeind erklärt wurde. Nur die ausgesprochene Verfluchung seines Andenkens, die in der modernen Geschichtsschreibung damnatio memoriae heißt, ging noch weiter. Lediglich Tiberius hatte man aber zuvor einem vergleichbaren Schwebezustand zwischen Gut und Böse überantwortet, wie er nun Hadrian drohte. Auf diese Belastung seiner eigenen Legitimität konnte sich kein Kaisererbe einlassen.9

Antoninus ging die Angelegenheit in einer Senatsrede frontal an, angeblich unter Tränen: Wer Hadrians sämtliche Maßnahmen verdamme – wovon nicht ausdrücklich die Rede war –, mache damit auch seine Adoption hinfällig, so lässt ihn Cassius Dio sagen. Die Botschaft war klar: Wer Hadrian die üblichen Ehren verweigere, erkläre ihm, Antoninus, den Krieg. Eine solche mögliche Krise ging der großen Mehrheit zu weit. Antoninus’ emotionaler Auftritt hatte die Senatoren bewegt. Zudem waren sie von seinem rhetorischen Kunstgriff, ihre Verweigerung zur damnatio memoriae zu erklären, beeindruckt, und sie spürten die diskrete Drohung. Da die Verweigerung Hadrian, nicht Antoninus treffen sollte und man mit dem neuen Herrn auskommen musste, wurde also die Vergöttlichung beschlossen – nach Tagen, nicht nach Monaten. Antoninus wies ebenso die Rufe nach Bestrafung des Fehlverhaltens einzelner unter Hadrian ab: Auch die Vergeltung gegen Spitzel war Teil des Procedere nach dem Tod eines Tyrannen. Alles ging nach Protokoll. Aus dem Scheiterhaufen, auf dem ein Wachsbild des Toten verging, stieg der symbolische Adler gen Himmel, die Urne wanderte zügig in Hadrians gewaltiges Grab, und mit dem schnellen Abschluss der vergangenen Ära konnten alle gut leben.10

Längst vorher war Marcus’ Leben über den Haufen geworfen worden. Er war durch die Adoption vor Gesetz und Gesellschaft der Sohn des Imperator T. Aelius Caesar Antoninus, also hatte er ihn nach Kräften wie einen leibhaftigen Vater zu ehren und zu lieben, selbst wenn dieser noch gelebt hätte. Unwahrscheinlich ist, dass beide Beteiligten schon jetzt wussten, wie gut sie miteinander auskommen würden, auch wenn sie sich Marcus’ ganzes Leben lang gekannt hatten. Die Vergangenheit verschwand nicht über Nacht; dass Marcus keine Anstalten machte, plötzlich den älteren Mitgliedern seiner bisherigen Familie gegenüber auf den neuen Status zu pochen, sondern so respektvoll wie je blieb, wurde beifällig vermerkt.11

Dass unter Hadrian mit Calpurnius Crassus ein hochgeborener Senator aus Marcus’ weiterer Verwandtschaft getötet worden war, machte ihm den neuen Großvater kaum liebenswerter. Gleichwohl schuldete er dem Todkranken Gehorsam und wurde angewiesen, in Hadrians Privathaus umzuziehen. Entsetzen über diesen Wandel der Dinge wird von dem jungen Mann berichtet, und das ist nur zu glaubhaft; seine Vita baute das zu einer philosophischen Lehrstunde für Hadrians Hauspersonal aus, das sich habe anhören müssen, „was mit der Herrschaft an Übeln komme“. Ein ermutigender Traum, den ihm spätestens die Überlieferung als Trost sandte, machte es nicht viel besser. Der Jugendliche soll geträumt haben, ihm seien auf einmal Schultern und Arme aus Elfenbein gewachsen, die eine stärkere Last tragen konnten als zuvor. Für solche Vorzeichen der Herrschaft gibt es eine feste literarische Tradition; aber selbst wenn der Traum authentisch sein sollte, hatten die unermüdlichen Arme eine Vorbedingung: den Verlust der leibhaftigen zugunsten des unnatürlichen Ersatzes. „Wo man leben muss, kann man auch richtig leben. Nun musst du aber am Hof leben; folglich kannst du auch am Hof richtig leben.“ Mit derartigen Syllogismen (sosehr er solche logischen Beweistechniken sonst abwertete) suchte sich noch der Fünfzigjährige Mut zu machen. „Nimm mich und bring mich, wohin du willst … Ist das so wichtig, dass es meiner Seele deshalb schlecht und schlechter gehen kann oder sie erniedrigt, kläglich, gedrückt, verschreckt ist? Und was kannst du finden, das so wichtig wäre?“ „Ich bin einst – wo auch immer ich verlassen wurde – ein Mensch geworden, der es gut getroffen hat; gut getroffen aber hat es, wer sich selbst ein gutes Los bereitet.“ Ausgangspunkt all dieser Überlegungen blieb als Tatsache das Verlassensein.12

Für das Jahr 139 wurde Antoninus zum zweiten Mal in seinem Leben zum Consul designiert. Entweder er oder noch Hadrian legte fest, welcher Senatorensohn ihm als Quaestor in der Amtsführung assistieren und dadurch selbst einen Sitz im Senat erwerben sollte: niemand anders als Marcus selbst. Quaestoren waren üblicherweise 25, der junge Mann aber würde bei Amtsantritt noch keine 18 sein – ein Privileg, dessen Unerhörtheit sich mit allen noch so extremen Vorläufern messen konnte. Der Senat stimmte Hadrians Antrag ohne weiteres zu.13

Kurioses Schweigen umgibt die Details der Doppeladoption. Kunstvoll widersprüchliche Versionen der Historia Augusta verbreiteten die Gegentheorie, Aelius Caesars verwaister Sohn Lucius sei erst einige Zeit später von Antoninus – oder gar von Marcus! – dazuadoptiert worden; andere Quellen interessieren sich vornehmlich für die reale Situation während der Herrschaft beider Stiefbrüder ab 161. Wenn die drei Adoptionen nicht im selben Moment erfolgten, müssen sie sich doch nahezu gleichzeitig vollzogen haben; die Münzen des Jahres 138 zeigen allerdings ausschließlich Antoninus. Wie die Gewichte verteilt sein würden, verrieten die Prägungen von 139, die Marcus vorstellten, Lucius aber noch für ein Jahr oder mehr nicht porträtierten. Manches spricht dafür, dass Marcus’ Großvater Annius Verus, der dreifache Consul, die nächsten Würfe im großen Spiel noch miterlebte und mit gewohnter Geistesschärfe den Ausgang vorhersah. Im Protokoll eines Senatsbeschlusses wird er zusammen mit seinem überlebenden Sohn Annius Libo, dem Consul von 128, ziemlich sicher nach Antoninus’ Amtsantritt oder sogar während der Quaestur seines Enkels seit dem 5. Dezember 138 aufgeführt. Vom Miterleben des nächsten Schrittes, der Erhebung Marcus’ zum Caesar noch vor dem Jahresende 139, trennte den großen Politiker damit nicht viel Zeit. Sein Haus würde also herrschen, nach menschlichem Ermessen.14

Als erster Kaiser wurde Antoninus offiziell durch den Senat mit dem Ehrennamen Pius ausgezeichnet. Pietas war ein römischer Zentralbegriff für die moralische Bindung wie die liebevolle persönliche Anhänglichkeit an Götter – ausgeprägt als Ehrfurcht –, an Eltern und ältere Verwandte – dort sichtbar als Respekt –, aber auch an Kinder und Jugendliche, gegenüber denen sie als Fürsorgepflicht erschien. Seit Augustus war die pietas ein Aspekt des Herrschers, der sich zur religiösen Verehrung empfahl. Noch 138 wurde Pius Teil des Kaisernamens. Ob der Senat damit ein bestimmtes Verhalten würdigte, ist umstritten; eine Vermutung, schon Hadrian selbst habe Antoninus durch die Kennzeichnung als pius moralisch zum Festhalten an der Erbfolgeregelung drängen wollen, lässt sich nicht beweisen. Der schillernde Begriff pietas muss keineswegs eindeutig zugeordnet gewesen sein. Augustus, der ihn als Erster verwendete, wollte ihn auf die pflichtgemäße Rache an den Mördern Caesars bezogen wissen, meinte damit aber zugleich die Harmonie innerhalb der Kaiserfamilie, eine besonders krasse politische Lüge. Auch 138 verschwand Hadrians pflichtschuldiges Andenken schnell im Abseits, bis hin zur geduldeten Kritik, während der Reichsbevölkerung ein – diesmal echtes – Bild des Einvernehmens von Kaiserpaar, Kindern und Verwandten vorgeführt wurde. Hier erschien nun Marcus wie alle designierten Nachfolger seit Traian bald seinerseits als der optimus ac piissimus, „der beste, ergebenste“.15

In den Einzelheiten musste sich allerhand ändern, und Antoninus verlor keine Zeit. Erstaunlich ist die Art seines Vorgehens. Lucius’ Verlöbnis mit Antoninus’ Tochter, der jüngeren Faustina, sollte beendet werden, ebenso das seiner Schwester mit Marcus; stattdessen wurden nun Marcus und Faustina füreinander vorgesehen, während Lucius für lange Jahre keine neue Verlobte bekam. Was das für den Rang des Jüngeren bedeutete, lag auf der Hand. Doch so souverän über Lucius verfügt wurde, so unkonventionell war Antoninus’ Verhalten gegenüber Marcus: Er schickte, wird behauptet, seine Frau Faustina die Ältere, Marcus’ Tante und künftige Schwiegermutter, damit sie ihrem Neffen den Plan erläuterte und so seine Meinung „sondierte“. Marcus blieb es nach dieser Version überlassen, sich zu entscheiden; er nahm sich Bedenkzeit, wie zuvor angeblich Antoninus gegenüber Hadrian, und stimmte dann zu. Aus dem Gespräch darf auf eine gewisse Vertrautheit des Jugendlichen mit der älteren Faustina geschlossen werden, die im Klatsch als leichtlebig und eine Last ihres schwergeprüften Mannes abgestempelt wurde; noch dazu habe sie das Kaisertum – an dem sie sich nicht lange freuen sollte – wie eine Erbschaft betrachtet, wo es doch eine Pflicht war.16

Dem Gesetz nach waren die Vettern ersten Grades Marcus und Faustina inzwischen Geschwister, aber dieser Zustand wurde gelassen ignoriert. Die juristische Pikanterie wurde von der höchst wohlgesonnenen Tradition übersehen; wahrscheinlich ist mit einem Sondergesetz des Senats zu rechnen. Marcus selbst ließ lange später im Fall einer – allerdings ahnungslos geschlossenen – Inzestehe Gnade walten.17

Unmerklich verschwand das Element Aelius aus dem Namen des M. Aelius Aurelius Verus. Der Nachfolger des querköpfigen Catilius als Stadtpräfekt, Salvidienus Orfitus, blieb nicht lange im Amt, und seine Ernennung durch Hadrian gegen Marcus’ Verwandten mag dazu beigetragen haben; nicht einmal ein zweiter Konsulat war der Lohn des Patriziers. Antoninus, Marcus und Lucius wurden die vornehmsten Mitglieder des neuen Priesterkollegiums der sodales Hadrianales, dem die Verehrung des vergöttlichten Hadrian oblag; dass es 161 nicht um die Kultaufgaben für Antoninus erweitert wurde, sondern vielleicht umgekehrt in den zu dessen Ehre geschaffenen sodales Antoniniani aufging, spricht Bände über die offizielle Liebe zu dem einst mächtigen Toten.18

Der neue Kaiser veränderte sich mit seiner Thronbesteigung beruhigend wenig. Auch im Purpur blieb Antoninus der vornehme Senator und ließ sich von Korrespondenten wie Fronto mit „Caesar“, nicht „Herr“ betiteln, anders als später sogar Marcus; die exzessivste Leidenschaft, die von ihm überliefert wird, ist das Angeln. Für einen Machtwechsel trafen somit ideale Voraussetzungen aufeinander: ein gelassener, fast unerträglich friedfertiger Princeps und das Fehlen äußerer Widerstände. Für Meinungsverschiedenheiten zwischen Antoninus und den im Jahr 138 amtierenden Statthaltern oder Amtsträgern in Rom gibt es weder Quellen noch Indizien, von Unruhen zu schweigen. Hadrian hatte seinem Erben letzter Minute den Weg gut geebnet und tat dies immer noch, denn auf ihn allein entlud sich aller Zorn.19

Marcus hatte die besten Voraussetzungen, seinen neuen Herrn und Vater zu beobachten. Es hätten sehr kritische Gedanken dabei herauskommen können, stattdessen aber näherte sich sein eigenes Lebensideal der Haltung an, die Antoninus zeigte: „Nach dem Vorbild seines Vaters wollte er handeln, reden, denken.“ Hatte Seneca einmal bemerkt, man könne sich nicht die physischen Eltern aussuchen, wohl aber die geistigen, so ging der junge Mann jetzt bereitwillig daran, aus einem Sohn im juristischen Sinn ein ganzer zu werden. Seine Mutter vergaß er darüber nicht. Sie starb kurz nach 155, als Großmutter, aber doch zu jung, wie Marcus fand, und sein Trost war, dass sie „die letzten Jahre mit mir zusammen wohnte“ – wohl spätestens nach seiner Hochzeit, als Marcus einen eigenen Hausstand hatte, aber vermutlich schon davor. Auch als „Gebärerin“ des Caesar, dessen Mutter nun die ältere Faustina war, spielte sie ihre Rolle. Hadrian war schon vergessen und erscheint nicht zufällig als Lieblingsbeispiel der Vergänglichkeit und schwindender Erinnerung in den Selbstbetrachtungen seines Enkels; manche seiner Vertrauten und Zeitgenossen tat Marcus teils als aufgeblasene und nur „scharfsinnige“ Sophisten ab, teils stellte er sie als Triebtäter neben Tiberius’ sexuelle Inszenierungen auf Capri.20

Die Art, wie Hadrian das Kaisertum ausübte, fordernd, wachsam, offen Kompetenzen an sich ziehend, wurde als Pose aufgegeben; von einem Rückgang des Arbeitseifers, einem leereren Schreibtisch ist dagegen nichts zu bemerken. Bei all dem gelang ein demonstrativ unaufgeregtes Leben. Worin sich Antoninus schonte, war Hadrians Lieblingspunkt, das Reisen. Nie mehr sollte dieser Kaiser Italien verlassen. Auf seine Art war dies abermals einmalig; wenigstens auf Feldzüge hatte sich fast jeder begeben, der seit dem zwiespältigen Tiberius länger an der Macht gewesen war – und wenn es ein Nero war, der die Herzen der Griechen erobern wollte.

Neben dem so ortsfesten Kaiser begann Marcus eine lange, methodische Lehre, wie sie noch kein Erbe bekommen hatte. Mochte er auch weiterhin schlicht leben und seine Spiele als Quaestor in betont unprätentiöser Weise leiten, „wie ein Privatmann“, nicht wie ein Mitglied der Dynastie – als Caesar sah er sich von einem Kreis handverlesener Berater und Funktionäre umgeben, einem verkleinerten Spiegelbild der Bürokratie, die Antoninus zuarbeitete. Wenige Monate nach Hadrians Tod residierte er in der domus Tiberiana, einem bescheiden prunkvollen Teil des Palastbezirks auf dem Palatin, und sah sich mit allen Formeln überhäuft, die seit Augustus erdacht worden waren, um dem Thronfolger besonderen Glanz zu verleihen. Er wurde zum princeps iuventutis ausgerufen, zur Leitfigur der heranwachsenden Römer, und führte als einer der sechs Vorreiter die Parade der Ritter vor dem Kaiser, womit er sich auch den zweithöchsten Stand verpflichtete. Marcus richtete es allerdings so ein, dass er nicht vor den anderen Rittern das Forum betrat.21

Noch in diesem Jahr des schwindelnden Aufstiegs bestimmte ihn Antoninus auf Antrag des Senats zum Consul für das folgende, 140, und ließ ihm den Caesartitel verleihen. Im höchsten Amt der Republik würde Marcus mit achtzehn Jahren erscheinen, fünfzehn Jahre vor gleichaltrigen Patriziern, über zwanzig vor gewöhnlichen Sterblichen; das hatte es nie gegeben. Die Eile und Konsequenz, als hätte es für Antoninus kein Morgen gegeben, befremdet. Nichts wurde offengelassen. Dass mit dem nahen Tod des Älteren gerechnet wurde, ist ganz unwahrscheinlich; eher zeichnete sich ab, dass Marcus als Aurelius Caesar so früh wie möglich in eine unangreifbare Position gebracht wurde. Caesar war er schon, Consul würde er bald sein, Antoninus ließ ihn – noch etwas nie Dagewesenes – in sämtliche Priesterkollegien wählen, um die Ehre zu erhöhen; und während Marcus nur noch einige wichtige Elemente der eigentlichen Kaisergewalt fehlten, blieb Lucius weiterhin nichts als ein vornehmer Junge.22

Nach 140 kehrte zunächst etwas Ruhe ein. Etliche Jahre sollten vor der Teilhabe an der wirklichen Herrschaft noch vergehen. Für Marcus handelte es sich, absichtlich oder nicht, auch um eine Charakterprobe; andere wären – blitzschnell erhöht, aber dann zum Warten und Lernen aufgefordert – ungeduldig und von sich selbst besessen geworden. Der Consulat war ein mehr als bloß symbolischer Moment. Für römische Begriffe leitete ein halbes Kind die Sitzungen dieses immer noch erhabenen Gremiums, in dem einige der schärfsten Köpfe und sicher die schärfsten Zungen Roms saßen; mit solider Rhetorik und dem richtigen Ton seinem erhabenen Adoptivvater zu danken, mit der Würde des hohen Amtes und zugleich ritueller Bescheidenheit die gestandenen Senatoren um ihre Meinung zu ersuchen, das alles konnte zu leicht in eine peinliche Szene entarten. Ungeschick, Arroganz und ein Dutzend weiterer Fehler lauerten darauf, diagnostiziert zu werden. Die Kontaktnahme mit dem Senat wurde jedoch zum vollen Erfolg. Marcus stand dort, wohin sein leiblicher Vater nicht mehr hatte kommen können, er hatte seinen Großvater beerbt und war im Begriff, ihn noch zu übertreffen; wenn es ihm schwindelte, hatte er alles Recht dazu.

Für die Zukunft galt das doppelt. Nicht nur Lucius’ Hoffnung war im Begriff, zerstört zu werden. Welcher Platz für Marcus vorgesehen war, konnte nicht bezweifelt werden. Für jetzt sollte er Antoninus’ Schüler sein, später auch sein Helfer; eines Tages musste er der Kaiser werden. Die Aussicht hätte viele berauscht – nicht den hellsichtigen, selbstkritischen Heranwachsenden, der über seine Erwählung furchtbar erschrocken war. Doch damals hatte es einen Trost gegeben: Hadrian hatte gleich zwei Enkel ausgewählt; die Last hätte sich also verteilen lassen. Schon 140 konnte niemand in Antoninus’ Plänen mehr etwas Derartiges vermuten. Ein Herr, ein Erbe, an denen die Augen Roms und des Reiches hingen. 145 wurde Marcus – mit 24 – das zweite Mal Consul, abermals an der Seite des Kaisers; sein Großvater hatte dafür gut sechzig werden müssen, Marcus war nicht einmal verheiratet. Lucius, ein Jugendlicher ohne eigene Ehren oder gar Ämter, war Statist auch in dieser Zeremonie. Marcus’ Hochzeit mit Faustina stand bevor, weitere, immer verpflichtendere Auszeichnungen würden folgen. Zwischen ihm und der letzten, lebenslangen Prüfung, dem Purpur, stand kein Schutz mehr außer Leben und Gesundheit seines Adoptivvaters; das war nicht der schlechteste Grund, ihn zu lieben und die Götter zu bitten, die Lehrzeit nicht allzu grausam abzukürzen. Sie sollte unwahrscheinlich lang werden, aber niemand wusste das. In dreiundzwanzig Jahren der Vorbereitung trennten sich Vater und Sohn genau zwei Nächte lang, während der Jüngere sich mit Unterstützung des Älteren „immerfort mit Rhetorik und Philosophie der Griechen und Lateiner vollsog, obwohl er schon zu den Männern zählte und Hoffnung auf das Kaisertum besaß“.23

Marc Aurel

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