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Eine Entdeckungsreise

Erinnertes, Halbvergessenes, Erträumtes und Dichtung standen wild durcheinander am Gedankenhimmel über der griechischen Welt, als sie schon einige hundert Jahre alt war. Dann kam Homer, und das Gewirr der Lichtflecke verwandelte sich in Sternbilder, in unauflösliche Gestalten, deren Sinn nun für immer feststand. Der Weltraum selbst wurde zu etwas Geordnetem – mochte die Bilderfülle auch ebenso überwältigen, wie sie begeisterte – und von nun an war er schön. Der griechische Kosmos war geboren und lieh, so schien es den Späteren, einiges von seiner Klarheit dem Denken derer, die ihn betrachteten und sich dabei zu einem großen Abenteuer aufmachten. Auf einmal hatten die Griechen eine Welt; auf einmal erkannten sie sich als „die Griechen“.

Besucher des Deutschen Museums in München finden zwischen den Tafeln, Teleskopen und Bildschirmen der Abteilung für Astronomie ein kleines Schaustück. Sieben Pünktchen leuchten in einem Glaswürfel, eine Konstellation, die viele kennen: Orion. Aber ein Schritt zur Seite genügt, um dem bekannten Bild schon die halbe Vertrautheit zu rauben und das imaginäre Himmelsgewölbe, an dem es uns immer zu hängen schien, wegzuzaubern. Die Sterne verschieben sich. Ein Blick genau von der Seite, und sieben Einzelpunkte hängen verstreut in einer Leere, mit der sie so wenig zu tun haben wie miteinander. Doch auf einmal zeigt sich stattdessen – ist es ein Ausgleich? –, welcher der Erde am nächsten sein muss.

Wer sich auf diese Art im Raum bewegt hat, kann nicht wieder vergessen, was er gesehen hat, aber zumindest gibt es den Weg zurück in den „richtigen“ Blickwinkel, mit dem Sinn und Gestalt wiederkehren. Nur die Zeit wird in ferner Zukunft alle Sternbilder einmal endgültig zerstreuen. Mit den homerischen Epen ist sie in der (astronomisch gesehen) verschwindenden Spanne von zweieinhalb Jahrtausenden schon weitergekommen, was unsere Perspektive betrifft – ohne doch ihren Zusammenhang in Chaos aufzulösen. Der weite Abstand und die Neugier der Späteren haben in den großen und kleinen Glanzlichtern von Ilias und Odyssee, die alle einmal gleich weit entrückt in der unbestimmten Ferne der Heroenzeit angesiedelt schienen, die Spuren der Geschichte wiedergefunden. Einzelheiten, die aus dem Leben des Schöpfers selber stammen könnten, setzt die Dichtung neben Dinge, die schon alt waren, als Homer noch ein Mensch und keine Legende war. Mit viel Eifer ging die Moderne auf die Suche nach der „homerischen Welt“ und hoffte deren Geschichte zurückzugewinnen, sobald die Götter und einiges andere gestrichen wären. Dass in Wahrheit von homerischen Welten die Rede sein muss, weil sich hier Zeitalter mischen und durchdringen, hat diese Hoffnung nicht immer bescheidener werden lassen. Denn noch in ihren „sachlichsten“ Momenten erliegt sie dem Zauber eines (vorsichtig formuliert) großen Dichters, und wo sie einen Namen aus den Werken Homers anderweitig überliefert findet, möchte sie am liebsten den ganzen Troianischen Krieg für wahr halten. „Wahrheit“ jedoch ist ein vieldeutiges Wort und hat nicht immer das Gleiche gemeint, ohne sich deshalb schon in Irrtum oder gar Lüge zu verwandeln.

Beim Versuch, über die Wahrheit des Gedichtes hinaus einen Blick in die Epochen zu werfen, aus denen seine Bausteine sind, dürfen wir uns nicht beklagen, dass, was wir sehen, zunächst einmal ein anderer in voller Absicht zum Sehen für sein Publikum ausgewählt hat. Etwas von ihm bleibt mit allen noch so objektiv scheinenden Einzelheiten verbunden, die wir seinen Versen abgewinnen. Wer die Reise in die Welten Homers antritt, ist gut beraten, sich über Homer Gedanken zu machen. Was für ihn seine eigene Person, was „Wahrheit“ und „Echtheit“ gewesen sein kann, ist die Grundlage zum Verständnis, wie es in Homers Zeit – einem Jahrhundert der Abenteuer – nur darum gehen konnte, ein Verhältnis zwischen dem „Jetzt“ und dem übermenschlichen, überlebensgroßen „Damals“ der Heroen herzustellen. Wir werden stattdessen gleich drei Zeitalter in den beiden Epen Ilias und Odyssee gespiegelt finden, eine Aufteilung, von der kein Zeitgenosse Homers sich etwas träumen ließ. Doch all unsere Kunst, in diese schwierige Quelle hineinzuhorchen, ist nur ein sehr kleiner Teil dessen, was die Jahrhunderte seit Homer mit seinem Namen verbinden. Und so verdient das Phänomen Homer auch hier das letzte Wort; sein Werk zählt nicht zu denen, die überflüssig werden, wenn einmal genug Bücher über sie geschrieben sind. Es ist unersetzlich und – tief unter der Flut aus Nachfolgern, Lesehilfen und begeisterten Randbemerkungen – bestürzend neu. Wer es aufschlägt, für den beginnt eine unerwartete Geschichte.

Die Welt Homers

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