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Mit den Augen des Blinden

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Der Dichter als Persönlichkeit, die eigene Beachtung verdient, ist eine griechische Erfindung, die ihre Zeit brauchte. Auf einmal gab es – seit etwa 650 v. Chr.1 – Menschen, in deren Lyrik nicht nur die handelnden Figuren „ich“ sagten. Ganze Biographien standen dahinter, mochten sie auch poetisch überhöht sein: ein Söldner, ein heimatvertriebener Adliger, eine Mädchenerzieherin. Wer von diesem Punkt aus zurückschaute, sah die Dichtung Hesióds2, die Werke und Tage vor allem, die zwar allgemeingültig, aber voll von Klagen über den Lokaladel und von Vorwürfen an den vielleicht nicht realen, aber realistischen Bruder des Dichters sind. Hesiod war (oder schrieb zumindest als) ein böotischer Bauer. Und dann gab es noch Ilias und Odyssee, zwei Monumentalwerke, an denen sich alle Späteren maßen, sei es durch Nachahmung oder Rebellion. Längst bevor sich eine Literaturgeschichte in Griechenland entwickelte, war ausgemacht, dass zwei solche Schöpfungen aus derselben Hand zu stammen hatten. Wem diese Hand gehörte und wie der Unbekannte gelebt hatte, verriet nicht ein Vers; das wurde mit der Zeit immer quälender, denn für Griechenland ging es um mehr als nur Literatur. Aus einem Namen, aus Geschichten, die umliefen, und aus feinfühliger bis spitzfindiger Lektüre beider Werke rekonstruierten die Gelehrten – im Interesse der gesamten griechischen Welt – ihre Wahrheit über das verschollene Ich.

Nomen est omen – Homer

Der überlieferte Name des Dichters strapaziert den Glauben an seine Echtheit. hómēros bezeichnet eine materielle Sicherheit oder Bürgschaft, sei sie ein toter Gegenstand oder eine lebendige Geisel. Ein Grund, dem Ilias-Schöpfer diesen Namen anzuhängen, liegt auf der Hand: Er ist das Unterpfand für die Wahrheit seines Berichts, der Gewährsmann oder – um es in unser halbes Latein zu übersetzen – der Autor.

Zahlreiche Griechen liefen mit dem Namen Homeros herum; einer von ihnen mochte ihn längst getragen haben, ehe etwas Besonderes aus ihm wurde. Als populärer erwies sich die Hoffnung, hier verrate sich das Leben seines Trägers – war er eine Geisel gewesen? –, und die antike Homerforschung machte sich eifrig an die Arbeit. Ihr Ertrag kann sich sehen lassen: Homer hatte am Ende mindestens zwei ursprüngliche Namen, zwanzig Geburtsorte und ein langes, hartes Leben als armer wandernder Sänger und/oder Schulmeister, den der Lokalpatriotismus Dutzender Gelehrter quer durch Griechenland und Kleinasien schickte, dass es einen Odysseus gegraust hätte, bis er hochbetagt auf der Insel Ios sein Haupt zur Ruhe legen durfte. Ein wahres Wunder, wie er nebenher zum Dichten kam.

Das Bild all der rivalisierenden Homerviten und Heimatstädte wirkt in dieser Verkürzung unverdient absurd. Es entwickelte sich so schrittweise, dass seine Urheber kaum merkten, wie viel Wunschdenken und Erfindung in ihren ‚unausweichlichen‘ Schlussfolgerungen steckten – und gerade die Methode, die Epen selber zum Sprechen zu bringen, wurde für die Zukunft kostbar, so nahe sie mitunter der Folter kam. Sehr früh nahm man zur Kenntnis, dass die Odyssee nicht nur in der Chronologie der Ereignisse – erst Troianischer3 Krieg, dann Heimkehr des Odysseus – auf die Ilias folgte. Generationen pedantischer und begnadeter „Wortfreunde“, Philologen, deckten subtile Wandlungen der Sprache und der feststehenden Formeln von einem Epos zum anderen auf; die „Trennenden“ stritten mit den Parteigängern des einen Homer, ob die spätere Dichtung auch einen anderen Autor verlange. Aus heutiger Sicht haben sie wohl gewonnen. Stellen, an denen das kürzere Odysseuswerk die Techniken des Kriegsepos übernimmt, es zitiert oder eigene Szenen wie zur Überbietung dagegenstellt, häufen sich. Nicht zuletzt der grimmige, hoffnungslose Tonfall so vieler Ilias-Stellen und das unbekümmerte Wüten der olympischen Götter weichen der (fragilen) Überzeugung, dass es im Himmel wie auf Erden grundsätzlich geordnet und – mit langen, schmerzlichen Umwegen – moralisch zugeht.

Die Odyssee erfand das Gottvertrauen und das Happy End, könnte man sehr vereinfachend sagen. Sie ist also jünger, um einiges jünger – nach den langen modernen Mühen, sie zu datieren (730 /20? 700? 650?), tatsächlich so sehr, dass man sie gut dreißig Jahre hinter die Ilias (750? 730? Nach 700?) stellen müsste, ein so entmutigend vollendetes Werk ihrerseits, dass sie nicht gut als der Werther oder die Buddenbrooks eines talentierten Jungautors gelten kann. Also reichte ein Leben wohl nicht für beide.4

Der Sänger Demodokos

Noch ein sehr auffälliger Zug an der Odyssee ist die gehäufte Präsenz einer Gruppe, die in der Ilias viel zu kurz kommt, gemessen an ihrer Bedeutung in homerischer Zeit wie jener vagen Vergangenheit der „Heroenzeit“, in der beide Werke spielen. Wieder und wieder tritt nun ein aoídos, ein „Sänger“ auf, der Heldengeschichten aus alter Zeit und aus jüngster Vergangenheit erzählt und sich dabei auf einem Instrument begleitet. Der Sänger gehört zum festen Programm bei den Abendbanketten der Könige und Fürsten.

Solch ein Sänger ist vor allem Dēmódokos im erfundenen Inselkönigreich der Phaiáken. Inmitten der vornehmen Festgesellschaft, die sich am Fleisch sättigt, sitzt er allein auf einem Sessel, in Griffweite ein Instrument, die phórminx (mehr Harfe als „Leier“), dazu Brot und Wein – kein Adliger ist er, sonst hätte er Braten, auch kein einfacher Mann aus dem Volk, sonst wäre er nicht dabei. Und er wird sehr deutlich als blind beschrieben. Die antike Philologie erklärte, „Homeros“ heiße in einem Lokaldialekt „Blinder“, und alle uns erhaltenen Bildnisse haben Demodokos als Selbstporträt aufgefasst und einen Greis dargestellt, in dessen von Alter, Leid und Weisheit geformtem Gesicht – es ist schön zu nennen, aber er wird nie sein Spiegelbild sehen können – die Augen ins Innere gekehrt scheinen, von wo aus etwas Außergewöhnliches ihn ergreift.

So sicher Schauplatz und Figur idealisiert sind, Gesang war eine der wenigen Tätigkeiten, die einem Blinden blieben, und stellte ihn – wenn er Talent besaß – höher als schlichte Bettler. Und wieder ist in die spätere Ausdeutung elementar Wichtiges eingegangen. Demodokos, erzählt die Odyssee, ist von der Muse selbst geblendet worden, der Göttin des Gesangs, und sie hat ihm zugleich ihre ureigenste Gabe geschenkt. Mit der Muse (oder den Musen) sind wir im Zentrum dessen, was den Sänger der Vorzeit beseelt und was seine Nachfolger bis hinunter – oder hinauf – zu Homer beanspruchten. Seine besondere Gabe machte ihn im Sozialgefüge unverzichtbar, bei „den Männern des Volkes geehrt“, trug ihm das Beiwort „göttlich“ ein.

Sie bestand aus der Sicht des Epos weniger in musikalischer oder poetischer Fähigkeit. Ohne Sänger ist ein Gelage nicht komplett, und wenn keine Lieder verlangt werden, kann man zu seiner Musik tanzen – das ist willkommen. Sänger ersetzen die Tageszeitung, wenn sie mit Nachrichten und ‚aktuellen‘ Gesängen von einem Adelssitz zum andern ziehen, und der Hausherr kann erwarten, im Gegenzug für Kost, Logis und eventuelle Geschenke etwas über seine Vorfahren zu hören, deren Taten und Abstammung ihn selber mit Göttern und Heroen verbindet (und verbinden muss). Ein kaum getarnter Stoßseufzer in der Odyssee beklagt den Zwang des Sängers, das zu bringen, was gerade Konjunktur hat, in Demodokos’ Fall etwa Troia. Doch ein anderer Zwang gilt als stärker: das zu singen, „wozu sich ihm der Sinn erhebt“. Nicht er und nicht seine Umgebung haben das in der Hand.5

Ewige Jugend der Taten

Noch vor gar nicht langer Zeit begann mancher Dichter, berufen oder nicht, mit einem Anruf der Muse, wer immer das sein mochte – Hauptsache, sie küsste ihn. Homer ist auch hieran schuld: „Den Zorn singe, Göttin […]“ hebt die Ilias an, und die Odyssee ist noch ausdrücklicher: „Sage mir den Mann an, Muse […]“ Die Göttin äußert sich aus dem Innern des Sängers; sie ergreift von ihm Besitz wie von einem Orakel – oder Wahnsinnigen. Der Normalität näher rückte ihn die – schon verblassende – Überzeugung, dass jeder starke Affekt, jede unvorhersehbare oder besonders energische Handlung auf die Besessenheit durch einen Gott oder wenigstens dessen Eingebung zurückging.

Für Ausnahmefiguren wie die Heroen, die direkt von Göttern abstammten und engen Kontakt mit ihnen hatten, galt das besonders: ein Grund mehr, gerade Heldensagen bei den Sängern in besten Händen zu wissen.

(Man verachtet Homer), weil er durch unmögliche Taten und unglaubhafte Fabelgeschichten die Fähigkeit jedes Menschen zum freien Willen unglaubwürdig mache. Aber das tut Homer gar nicht, sondern die plausiblen, gewohnten und vernünftigen Handlungen schreibt er uns selbst zu […], während er bei befremdlichen und verstörenden […] den Gott den freien Willen […] in Bewegung setzen lässt […]

PLUTARCH, Coriolan 32,4–6 (um 100 n. Chr.)6

Spätere Poeten riefen – wieder Homer folgend – die Muse an, wenn sie andeuten wollten, jetzt komme eine besonders schwierige oder noch nie dagewesene Passage. Nicht so das frühe Griechenland. Hesiod, der Systematiker der Götter, machte die Musen (deren Zahl er auf neun fixierte) zu Töchtern des Zeus und der personifizierten Erinnerung. Genau hier hatte zuvor ihre besondere Kraft gelegen – nicht die Künste zu fördern, sondern zu gewährleisten, was in einer Welt ohne Schrift niemand sicher verbürgen konnte: wahre, unentstellte Überlieferung. Besondere göttliche Gnade verschafft Informationen aus erster Hand inmitten des zutiefst menschlichen Hörensagens; der Dichter, den die Muse ergreift, sitzt auf einmal an der Quelle. Alle Zweifel, wie denn einer wissen kann, welchem Fürsten wie viele Schiffe folgten oder wer wen im Schlachtgewimmel vor Troia totschlug, das Menschen unmöglich „wie ein Gott“ übersehen könnten, sind aufgehoben. Demodokos muss seinen Gesang nur beginnen, schon lobt Odysseus – ein Zeuge aus erster Hand, wenn es je einen gab –, dass er singe, als wäre er dabei gewesen, und bestellt sich gar bei ihm die Geschichte vom hölzernen Pferd. Der Sänger weiß besser, wie es war, als der Held selber.

Die Musen oder Apoll haben es dem göttlichen Sänger verliehen, „dass er den Ruhm der Männer singe“, und diese Gnade zerstreut zugleich die schrecklichste Furcht des Berühmten: dass dieser Ruhm je erlöschen wird. Die Götter selbst erneuern ihn durch den Mund derer, die sie lieben, und der einzig greifbare Sinn blutiger Verwicklungen, der noch eine Helena in ihrer aufgezwungenen Schurkenrolle tröstet – „dass wir auch künftig / Zum Gesange werden den späteren Menschen“ –, ist gewahrt.

Der Sänger, „selbst belehrt“ (ein ‚Autodidakt‘), was so viel heißt wie „von den Göttern belehrt“, steht zwischen dem um Leistung, Prestige und Nachruhm wetteifernden Einzelnen und dem Schrecken eines zuletzt sinnlosen, zum Vergessen verdammten Lebens, der nicht auf ferne Epochen beschränkt ist.7

Sagt mir nun, Musen! die ihr die olympischen Häuser habt – / Denn ihr seid Göttinnen und seid zugegen bei allem und wißt alles, / Wir aber hören nur die Kunde und wissen gar nichts –: / Welches die Führer der Danaer und ihre Gebieter waren.

Il. 2,484–487

Was heißt diese Form der Bewahrung für die Erinnerung, wie sie ein kritischer Moderner sucht, für die präzise Tradition einzelner, möglichst detaillierter Tatsachen? Nichts Gutes, das ist leicht zu merken. Die Muse spricht, nicht die Erinnerung. Natürlich saugt sich der Sänger seine Verse, die er „Göttern und Menschen“ singt, nicht einfach aus den Fingern; im Gegenteil, er variiert, ergänzt, verschönert die angesammelten Stoffe, Einfälle und treffenden Formeln von Generationen früherer Sänger. Nur hat er eben die Autorität, genau das zu tun: zu verändern, nicht bis zur Unkenntlichkeit und nicht aus bloßer Willkür (mag die Lust auf Neues auch bei ihm wie bei seinem Publikum mitspielen), sondern im Dienst einer Wahrheit, die durch ihn offenbar wird und über sein Repertoire verfügt. Der Sänger speichert keine geheiligten Texte, er tut vielmehr etwas, das einmal selbst nahe der Heiligkeit stand und in jener Spätzeit, die Homer hervorbrachte, immer noch mit besonderem Respekt gesehen wurde: Er beseitigt den Abstand zum Einst, das so fern liegt, dass keiner mehr genau sagen kann, wie fern, und lässt die Heroenzeit, da alles glänzender, vielleicht auch furchtbarer war als in der Nach-Zeit seiner Zuhörer, für den Augenblick lebendig werden. Wenn er es später wieder tut, werden die Worte andere sein, es wird manches fehlen und einiges hinzukommen – und doch ist das genau wie beim vorigen Mal die vollständige Wahrheit und alles, was man wissen muss.8

Die andere Welt

Ein gewisser Verfremdungseffekt lag in der Sprache des Vortrags (die übrigens die Suche nach der Heimatstadt Homers so erschwert). Ilias und Odyssee sind in einem griechischen Kunstdialekt geschrieben, den niemand je gesprochen hat, einer Mixtur aus Äolisch (wie es etwa auf den Inseln in der Ägäis zu finden war) und Ionisch (wie es die Bewohner eines langen Streifens der kleinasiatischen Küste sprachen) mit Formen, die einfach nur gut in den Hexameter, den Erzählvers, passten. Dabei scheint Homer eher einen äolischen Sprachkern in einem ionischen Rahmen verwendet zu haben als umgekehrt, und so war er wohl ein Küstenbewohner Ioniens, in dessen Heimat die lange auf den Inseln gepflegte Tradition eingezogen und kurz vor ihm zur Blüte gelangt war. Smyrna, eine der überlieferten Geburtsstädte Homers, lag für eine solche Verschmelzung besonders günstig (siehe Karte Seite 19) – was leider nichts beweist. Einzelzüge des Wortgebrauchs aber waren antiquiert und viel archaischer als beide Dialekte – vermutlich Jahrhunderte älter. So war bereits die Ausdrucksweise eines Sängers dieser Zeit ein Mittel, Distanz zwischen der Gegenwart und dem Erzählten hörbar zu machen, und zog den, der sich hineinvertiefte, auf die andere Seite des Abgrunds zwischen Jetzt und Einst.

Ausgerechnet Homer brachte das Ende dieses Mysteriums. In seiner Schöpfung fand die Nachwelt etwas Letztgültiges über Götter und Menschen ausgesagt; das aber schloss die Geschichte der beim Fest gesungenen Verse ab, die unversehens Türen zur Vergangenheit geöffnet hatten. Es gab Opferfeste und Rituale, in denen ein bestimmter Moment wieder und wieder gegenwärtig wurde; es gab (anderswo) heilige Texte, in denen sich die göttlich verbürgte Wahrheit ein für allemal ausdrückte. Neugier, Methode und Zweifel schließlich haben sich verbunden, einen mühsamen Weg zurück zu eröffnen, auf dem die Wissenschaft Überreste sichtet, Begriffe sucht, Grenzen zieht und sich mit der Frage, wie sehr sie sich selbst und dem Anschein trauen kann, das Leben notgedrungen schwer macht. Kein Zweifel, dass sie dem Sänger und seinem routinierten Griff nach göttlichem Beistand als bizarrer Um- und Abweg erschienen wäre. Sie gibt und nimmt mit derselben Hand, der Muse nicht ganz unähnlich, und Verstehen anstelle des Verklärens zu setzen bleibt immer eine gemischte und schmerzhafte Gabe. Es hilft aber nichts: So stehen wir vor der Zeit, so erkennen wir sie, unter diesen Bedingungen müssen wir auf ihre andere Seite gelangen.

Kunsthandwerk

Was genau ‚tat‘ der Mann, der die Ilias schuf? Seit der Abbé d’Aubignac 1664/1715 und mit größerem Widerhall Friedrich August Wolf 1795 die „Homerische Frage“ aufwarfen, wechseln die Antworten der Neuzeit zwischen „fast alles“ und „fast nichts“. Die Forschung der „Analytiker“ ließ (mindestens) einen letzten Bearbeiter die beiden Gedichte aus einer Vielzahl älterer Lieder zusammenfügen (Jahrzehnte, eher Jahrhunderte älter), so dass das ‚griechische Volk‘ (das es nicht gab) sich gewissermaßen selbst sein Hauptwerk gedichtet hätte, wogegen die „Unitarier“, vom Geniegedanken beflügelt, die Einmaligkeit und Individualität der Komposition verteidigten. In den letzten Jahrzehnten ist der Streit, kompliziert und zugleich abgekühlt durch die Beiträge ganz neuer Forschungsdisziplinen über mündliche Dichtung und die Chancen ihrer Überlieferung, beinahe friedlich ausgeklungen.

Unbestritten ist heute, dass die Ilias auf eine Fülle an Geschichten um Troia zurückgriff – ähnlich unbestritten, dass der Unbekannte, der dies tat, für die Endform des Epos ungleich wichtiger war als die äußere Gestalt seiner Vorbilder, die sich bis zu ihm hin stets verwandelt hatte. Vor Homer gab es einen wahren Geschichtenwald, gab es vielleicht auch besonders beliebte Wege, auf denen ein Sänger hineinführen konnte, nicht aber eine feste Form. Der Sänger hatte es mit einem Gewirr aus Mythen zu tun, Versuchen der Menschen, sich durch Götter- und Heldengeschichten der Vorzeit ihr eigenes Leben und ihre Welt zu erklären. Beides ändert sich aber mit der Zeit und so auch der Mythos. In der noch kaum schriftlichen Gesellschaft seiner Gegenwart zählte Homer offenkundig zu jenen Sängern, die aus dem breitesten inhaltlichen und formalen Repertoire schöpfen konnten, und diese Reichhaltigkeit machte ihn zu einer geachteten Figur. Wenige können materiell und sozial so gesichert gewesen sein wie er.

Die Festigkeit und Tragfähigkeit ‚volkstümlicher‘ Überlieferung in mündlicher Form ist selber ein Märchen. Das Bedürfnis der Forscher und Leser nach Kontinuität hat das der Dichter weit übertroffen. So wich die Begeisterung, noch im frühen 20. Jahrhundert in Bosnien mündlich komponierte Heldenepen vorzufinden, einem Schock, als man deren Machart zur Kenntnis nahm. Man hatte sich treue Brauchtumspfleger vorgestellt, die unvergängliche Verse oder mindestens Taten bewahrten – stattdessen wurde bei jedem Vortrag etwas Neues daraus, das mit den historischen Vorgängen der türkischen Herrschaftszeit bemerkenswert wenig zu tun hatte. Der Sänger rezitierte nicht, er erfand nach bekanntem Muster.

Dabei kann und muss nicht alles erzählt werden. Kein griechischer Sänger hätte ganz Troia an einem Abend präsentieren können; es gab also Ausschnitte, die kurz eingeführt wurden. Dennoch hätte niemand auf die Schnelle jedes einzelne Wort zu erfinden vermocht. Quer durch die Ilias zieht sich die Spur hilfreicher Techniken, die nur im mündlichen Vortrag entstanden sein können und dadurch, dass Homer sie einsetzte, noch lange nachwirkten. Die berühmten „schmückenden Beiwörter“, die einen Personennamen in den Vers einpassen helfen und wenig Abwechslung dulden („die eulen-“ oder für höfliche Übersetzer „helläugige Athene“, „der Völkerfürst Agamemnon“), waren Arbeitserleichterungen für Sänger, die Vertrautes in immer neuen Serien schnell hervorgebrachter Hexameter auszuspinnen hatten; dasselbe traf für Standardsituationen zu („Als die dämmernde Frühe mit Rosenfingern erwachte“), für Redeeröffnungen und Gefühlsäußerungen („Welch ein Wort entfloh dem Gehege deiner Zähne!“). Wiederholungsfreude und Sparsamkeit verdoppelten ganze Abschnitte.

Während der Sänger solche Verse aufreihte – wir wissen wenig über das Tempo, aber unter sechs bis acht Verse pro Minute kann es kaum gesunken sein –, gewann er Zeit, sein Sagenrepertoire zu sichten, einen Mono- oder Dialog zu improvisieren und besonders glanzvolle Orts-, Gegenstands- und Schlachtbeschreibungen vorzubereiten. Die Mischung aus Vertieftheit ins Komponieren, musikalischem Vortrag und Kontakt zum Publikum muss, perfekt ausgeübt, in der Tat als Göttergeschenk erschienen sein und in alltäglicheren Ausprägungen immer noch als besonderes Können. Rechnen wir mit acht Versen die Minute, so hätten etwa die einzelnen Ilias-Gesänge (die eine nachträgliche Einteilung sind) zwischen einer und zwei Stunden Aufführungszeit verlangt – falls es keine instrumentalen Zwischenspiele gab, während der Sänger im Stillen weiterdichtete. Typisch scheinen mehrere Darbietungen hintereinander gewesen zu sein, deren Auswahl mindestens teilweise bei den Zuhörern lag: Lieblingssagen, Stoffe mit lokalem Bezug, ‚Aktuelles‘. Sollte es frische Heldenlieder über, sagen wir, einen erfolgreichen Kleinkrieg des Hausherrn geben, setzte das eine ‚Recherche‘ vor dem Auftritt voraus. Es ist also ausgeschlossen, dass sich Homer im Morgengrauen mit vom Saitenzupfen wunden Fingerspitzen an den Schreibtisch setzte, um die schönsten Ideen des Abends festzuhalten, oder unterwegs in einer Herberge (wo es welche gab) auf etwas Leder, das nächste Stück Holz oder ein paar Tonscherben schrieb.

Der Entdecker

Über Homer können wir nun einiges sagen. Er vereinte Talent, Erfahrung und Experimentiergeist; er war außerordentlich versiert – und erfolgreich, was nicht dasselbe ist. Sein Repertoire an Sagen war, wie sein Umgang mit ihnen verrät, enorm, vielleicht unerreicht. Die Vornehmen seiner Gegenwart bediente er so gut, dass er Erfolg über seine Heimatregion hinaus hatte, weiter reiste als der durchschnittliche Sänger – sei es auf Einladung oder eigenes Risiko – und ein ganzes Stück der griechischen Welt vom Augenschein her kannte. Mehr noch, er wurde reich beschenkt. Nur ein reicher Mann aber konnte sich das leisten, was Homer reichlich besessen haben muss: Freizeit.

Die Ilias kann nämlich keine bloße Zusammenstellung eigener Glanzstücke und der Tradition vieler Vorgänger gewesen sein (was beachtlich genug gewesen wäre). Sie ist in ihrem Aufbau gegen den Strich gedichtet, sonst hätte Homer mit Helenas Geburt begonnen, die zur schönsten Frau der Welt heranwuchs, weshalb Paris sie entführte, nachdem … und so weiter. Stattdessen komprimierte er die ganze Troiasage in kaum mehr als fünfzig Tage des zehnten und letzten Kriegsjahres, blendete Teile der früheren Ereignisse ein, setzte andere stillschweigend voraus und endete keineswegs mit dem Fall der Stadt, sondern mit jenem Moment, als er feststand. Rückblicke und Anspielungen auf frühere Heldengenerationen und Sagenkreise verliehen dem Geschehen ‚historische‘ Tiefe. Was nicht erzählt wird, ist von ferne zu ahnen. Auf eine Weise, für die den Zeitgenossen zweifellos kein Begriff einfiel (wir würden sie vielleicht mit einem Hologramm vergleichen), enthielt dieser Auszug trotzdem das Ganze; das war so unorthodox wie brillant.

Helena – die Schönheit

Die Tochter des Zeus (in Schwanengestalt) und der Leda schlüpft aus einem Ei und verdreht allen Fürsten Griechenlands den Kopf, noch ehe sie erwachsen ist. Sieger der Konkurrenz ist der Schwager von Helenas Schwester, Meneláos, dessen Rechte als Gatte zu verteidigen alle Unterlegenen schwören. Etwas später verfällt die Braut dem Charme des Paris und lässt sich nach Troia entführen, wo beide heiraten. Der betrogene Menelaos beruft sich auf den Beistandseid, worauf Troia belagert wird. Paris fällt im neunten Kriegsjahr, Helena wird an dessen Bruder Deïphobos ‚vererbt‘, ehe sie beim Untergang der Stadt zu Menelaos zurückkehrt. Eine wohlwollende Variante lässt die echte Helena in Ägypten leben, während Paris sich mit einem Phantom vergnügt.

Fang auch nicht so an wie einst der Schreiber eines Kyklos-Epos: / „Priamos’ Los will ich singen und auch den Krieg, den berühmten […]“ / Was wird der Versprechende bieten, das dieser dicken Lippe würdig ist? / Berge liegen in den Wehen, eine Maus wird geboren, zum Lachen. / Wie viel richtiger nun er, der nichts mit dem falschen Ton erschafft: / „Nenne mir, Muse, den Mann, der, nachdem für Troia die Zeit kam / Seines Falls, vieler Menschen Gebrauch und Städte gesehen“ […] / Der fängt den Troianischen Krieg nicht mit dem Ei der Zwillinge an: / Immer eilt er dem Ausgang zu und reißt mitten in die Geschichte, / Als wäre sie schon bekannt, den Hörer hinein, und was / Dargestellt unmöglich glänzen kann, lässt er aus […], / Damit Anfang und Mitte, Mitte und Schluss keinen Missklang geben.

HORAZ, Ars poetica 136–153 (ca. 20–8 v. Chr.)

Ohne die revolutionäre Methode, diese gedrängte Schilderung schriftlich zu fixieren, wäre eine solche Leistung unmöglich gewesen. Die Griechen des 8. Jahrhunderts v. Chr. übernahmen das Alphabet, das wie geschaffen war, Verwaltung und Handelsleben zu revolutionieren, wie es schon seit Jahrhunderten an vielen Orten geschehen war, und sie reservierten es nicht für ‚nützliche‘ Texte. Lange ist gestritten worden, ob Homer das Alphabet kannte; mit daran schuld war der Dichter selber, der sich kunstgerecht verstellt, als er einen Brief wie ein Stück Schwarze Magie schildert.9

Es gab gute Gründe für Homer, sein Werk aufzuschreiben, auch wenn sein Gedächtnis begnadet war. Mindestens vier strapaziöse Tage zu sechs Stunden wären für die gesamte Ilias nötig gewesen; würdigen konnte man sie erst bei der zweiten oder dritten Wiederholung. Schreibend hatte Homer die Chance, ohne sonstige Änderung jeden Ausdruck beliebig oft zu verfeinern, und konnte sich so selbst übertreffen. Mehr noch, ein zu endgültiger Form gelangtes Gedicht würde sich den Hörern mit der Zeit einprägen, wie es die variierende Sängerdichtung nicht konnte, während seinen Standesgenossen Homers unveränderliches Lied als Maßstab oder Ärgernis eingehen würde – allzu überlegen war es. Selbst der jüngere Hesiod, der neue Themen für die Dichtung entdeckte, wirkt primitiv, verglichen mit solcher Verschränkung von Leitgedanken, Motiven, Personen im Vordergrund und wechselnden Handlungsgeschwindigkeiten, ein Gewebe und kein gesponnener Faden mehr.

Die Methode Homers, sich der Schrift zu bedienen, war so kreativ wie unwiederholbar; die mündliche Erzählform durchdringt sie überall. Lange Einzelstücke der Ilias kann man sich ohne weiteres als traditionell entstanden denken – nicht aber das Ganze mit seinen fein abgestimmten Korrespondenzen. Einzelne Versehen, die akribisch gesammelt worden sind, ändern nichts daran – ein Film, in dem ein Schmuckstück von einem Arm der Darstellerin zum anderen ‚hüpft‘, hat deswegen noch nicht mehrere Regisseure. Wie ein moderner Schriftsteller Einzelkapitel seines Buches ‚herunterschreibt‘ und Querverbindungen lieber nachträgt, als lange im Manuskript zu blättern, so wird auch Homer große Stücke komponiert haben, wie er es sein Leben lang getan hatte; die Verfeinerung (und die Verzahnung mit anderen Teilen) kam später. Man hat vermutet, er habe nicht geschrieben, sondern diktiert – falls das so war, verstand er jedenfalls genug von der Schrift, um sie optimal auszunutzen, und das wiederum legt nahe, dass er (mindestens) lesen konnte. Blind geboren war er kaum (übrigens gebraucht er neun verschiedene Verben für das Sehen).

Es scheint unmöglich, dass gleich die erste Verwendung der Buchstaben, um Dichtung zu fixieren, ein geschlossenes Ganzes von über zehntausend Versen hervorbrachte. Wenn es frühere Experimente gab, wissen wir es nicht. Völlig wahrscheinlich ist, dass gleichzeitig andere ausprobierten, was sich mit der Schrift anfangen ließ. Doch Homers Werk bleibt das erste erhaltene Zeugnis. Auch wer ihm eine Vorgeschichte aus mehrfach verfeinerten Einzelteilen zuschreibt, die er als Vollender einer langen Tradition zusammengesetzt habe, denkt sich keinen Homer, der mit Schere und Kleister an geschriebenen Vorlagen arbeitet.

Am Scheideweg

Das erste griechische Epos entstand nicht über Nacht, sondern aus der Dichterpraxis von Jahrzehnten. Wir dürfen vermuten, dass Homer seine Folgen bereits spürte, während er jahrelang probierte und verbesserte. Die Selbstreflexion in der Schrift kann seinem Erfolg nicht geschadet haben, sondern umgab ihn vielleicht schon mit einem Anflug jenes magischen Rufes, der ihn später ins Übermenschliche entrückte. Seine materielle Sicherheit wie sein Selbstvertrauen wuchsen, und er blieb bei seinem Werk. So wenig er blind war, fehlte ihm wohl doch die Hellsicht, dass sein großer Wurf auflösen würde, was ihn selbst hervorgebracht hatte.

Der Einbruch der Schrift in eine Gesellschaft hat enorme politische Folgen, aber sie sind nichts verglichen mit den Wirkungen auf ihre Tradition. Die Schrift kommt als Wunder und Katastrophe. Keine mündliche Überlieferung kann eine so unverfälschte Wiedergabe erreichen wie sie, doch eben das entzieht der Tradition von Mund zu Mund die Grundlage. Was wichtig ist, wird aufgeschrieben, also ist das Ungeschriebene fortan zweitrangig. Die Griechen retteten einen größeren und vielfältigeren Bestand in die neue Ära als manche andere Kultur und weigerten sich hartnäckig, manches Wichtige (wie Gebetsformeln) zu notieren; dennoch drohte dem Großteil der konkurrierenden Mythen eine Zukunft als Minderheitsmeinung, Kuriosität oder Märchen.

Märchenerzähler oder bloßer Rezitator musste auf lange Sicht auch der Sänger werden. Wir wissen nicht, ob schon Homers Zeit den Wandel zum Rhapsoden sah, der kein Instrument mehr spielte, sondern nur Verse im Sprechgesang vortrug – immer weniger davon ein eigenes Werk. Mit der Fixierung eines musterhaften, immergleichen Einzeltextes war es zugleich um die soziale Funktion des Sängers geschehen. Bald passte nicht der Rhapsode sein Lied dem Adligen an, sondern umgekehrt suchte eine Familie oder eine ganze Stadt Anschluss an den festgeschriebenen Mythos. Für solche Operationen brauchte man Lokalpatrioten, keine Sänger. Gedichte wurden auch weiterhin vorgetragen – aber es waren zusehends bekannte, immer wieder gehörte Texte, voran die Ilias.

Das war der Beginn einer neuen Geschichte, in deren Verlauf Homer selbst zur hochinteressanten Vergangenheit werden sollte. Nur schrieb und lebte er von dieser Möglichkeit unberührt. Seine eigene Gegenwart, für die wir heute händeringend nach schriftlichen Zeugnissen suchen, spiegelt sich in den beiden großen Epen geradezu ungewollt und vermischt sich – keiner Notwendigkeit als der dichterischen folgend – mit Reflexen früherer Zeiten, die fast nicht den Namen von Erinnerungen verdienen. Homer kannte die Fragen nicht, auf die man einmal Antwort verlangen würde; das hat er mit uns gemeinsam. Jede noch so gesprächige Zeit gibt den Späteren immer die ‚falschen‘ Antworten. Selbst wenn ein Wunder uns alle Relikte der Entwicklung auf den Tisch legte, an deren Ende Homer steht, wäre ihr endgültiges Geschichtsbuch nicht zu schreiben. Das Verstehen beginnt immer neu; dass es nicht mit dem Nichts beginnt, verdanken wir dem, was vor uns war.

Die Welt Homers

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