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Kindheit und Jugend 1. Ein Junge aus guter Familie
ОглавлениеNullum animal morosius, nullum maiore arte tractandum quam homo, nulli magis parcendum. Kein Wesen ist diffiziler, keins muss mit mehr Geschick behandelt werden als der Mensch, keines braucht mehr Schonung.
Sen. clem. 1,17,1
Rom erlebte einen besonderen Freudentag. Die Weltstadt, die im Bann der Feiern zu einer großen Tempelweihe stand, nahm obendrein Kenntnis von der Geburt eines Erben in einem ihrer besten Häuser. Wer Klient der Familie war und Geschenke oder Aufmerksamkeiten zu erhoffen hatte, beeilte sich mit seinen Glückwünschen, wer zu ihren Standesgenossen im Senat zählte, erst recht. Niemand, nicht einmal die höchsten Kreise des Reiches, konnte fest darauf rechnen, einen Sohn geschenkt zu bekommen, und auf den Straßen, in den Thermen, beim Klatsch unter Freunden, Verwandten und Kollegen mischten sich Mitfreude und Neid. An diesem Tag, dem 27. April, stand für viele fest, dass selbst der Kaiser das Haus der Annii um sein Glück beneiden musste. Es war der vierte Frühling der Herrschaft Hadrians, nach der späteren christlichen Rechnung im Jahr 121. Man schrieb in Rom das Jahr der Konsuln Gnaeus Arrius Augur und Marcus Annius Verus. Dieser war es sogar schon zum zweiten Mal.1
Glücklich war zuallererst die Mutter, Domitia Lucilla, sooft sie nicht vor Erschöpfung schlief. Die ärgsten Schmerzen waren vorüber, das Kind lebte und sie auch; so würde es hoffentlich bleiben. Besser noch, es war ein Junge – Domitia, nach heutigen Maßstäben selbst ein halbes Mädchen, würde natürlich noch mehr Nachwuchs liefern müssen, aber die Reihe lebensgefährlicher Geburten konnte nun nicht mehr endlos sein. Vor ihr lagen die Anerkennung als Mutter eines Sohnes und Zeit genug, mit ihm groß zu werden, mochte er auch mehr der Familie und der Öffentlichkeit als ihr gehören; sie kam aus einem Haus, in dem sie diese Regeln früh erlernt hatte. Nun durfte sie sich ausruhen und auf begeisterte Besucherinnen freuen.2
Froh und stolz stand der Vater, der junge Marcus Annius Verus, vor dem Ansturm der Gratulanten. Das war seine Stunde. Noch wartete er auf die Wahl zum Quaestor im passenden Alter, die ihm die Tür zum Senat öffnen würde. Er durfte nicht hinter seine Vorfahren zurückfallen; auch sein Bruder Libo war ihm schon weit voraus, seine Schwestern hatten gar gestandene Consuln geheiratet – die eine Ummidius Quadratus, 118 Consul, die andere, Faustina, den Amtsträger des Vorjahres 117 Aurelius Fulvus, aus guter, aber anders als die Annii auch aus alter Familie – und gebaren ihnen Kinder. Ihm, Verus, hatte der Vater seinen Namen gegeben, eine Erbin mit reicher Mitgift und einen vorgezeichneten Lebensweg. Nun hatte er eine große Hoffnung erfüllt, sich und den Seinen. Das Kind war lebendig, ohne Missbildung und gesund; neun Tage, dann würde er ihm einen Namen geben, den eigenen, und später eine Erziehung, ein Vorbild. Dieses Kind würde dabei sein, wenn er Quaestor wurde und Praetor und eines Tages Consul. Verus war an diesem Tag gewachsen und freute sich darauf, seinen Sohn lieben zu lernen, wie es römischen Vätern vorgeschrieben und zugleich ein Bedürfnis war.3
Ein wunderbarer Frühling war es für den Großvater, den zweifachen Consul Marcus Annius Verus. Was sich ein römischer Senator erträumen konnte, er hatte es erreicht. Nicht umsonst hatten seine Vorfahren Spanien verlassen, um sich ins Zentrum des Reiches zu wagen; hier war er, der Sohn des ersten Senators unter den Annii, und vereinte alle Ehren außer dem Kaiserpurpur. Ihn hatten die Wirren der großen Politik nach dem Bürgerkrieg weit emporgehoben, statt ihn zugrundezurichten. Vespasian und Titus hatten den gelichteten Senat aufgefüllt, und ein mühsam erwirktes, vergessenes Wunder an Loyalität und Geschick trug dem jungen Annius den Patriziat ein, das Anrecht auf Roms ehrwürdigste Priestertümer und einen ungeheuren Prestigezuwachs – das alles, obwohl er möglicherweise mit der Frau des Kriegsverlierers von 69, Vitellius, verwandt war. Mit Domitian war er zurechtgekommen. Domitian wurde ermordet, die flavische Dynastie endete, Nerva kam auf den Thron und hätte ohne Hilfe bald den Kopf verloren – Verus kam auch mit Nerva zurecht. Die Hilfe gewährte der Statthalter Ulpius Traianus, zum Erben bestimmt, während Verus Consul war; bald war Traian Kaiser und führte das Imperium in große Kriege. Verus, der Freund des Kaisers, behielt in Rom die anderen Mächte der neuen Herrschaft im Auge, Statthalter und Funktionäre, und plante seine eigenen, durchaus zivilen Feldzüge.4
Die Zeiten waren für die großen Senatsfamilien sicherer geworden, ideale Bedingungen, um eine verzweigte Familie mit reichem Besitz und mächtigen Beziehungen zu gründen, die allen Katastrophen außer den größten trotzte. Verus hatte zwei Söhne und, besser noch, drei Töchter zu verheiraten; die Mitgift für drei glanzvolle Allianzen mit wichtigen Ehemännern besaß er auch. Schmeichler – oder ihr eigener Ehrgeiz – hatten den Annii wohl bereits eine Herkunft von Roms heiligmäßigem zweitem König Numa Pompilius angedichtet, dem Friedens- und Religionsstifter. Libo hieß Verus’ Ältester, eine Verbeugung vor seinem Schwiegervater, die verkündete, dass die Braut die beste Abstammung mitbrachte, welche zu haben war. Die Tochter des alten Libo Rupilius Frugi, Rupilia Faustina, machte Verus’ Kinder zu Nachkommen der Calpurnii, der Scribonii, der berühmtesten Figuren der vergangenen Republik. Andere waren wegen solcher Namen hingerichtet worden – tatsächlich wurden sie es immer noch; Calpurnius Crassus, ein entfernter Verwandter, der seinen Stammbaum zu sehr liebte, saß auf einer einsamen Insel und überlebte Traian nicht lange.5
Dieser offiziell „beste“ Kaiser hatte Erfolg, aber keinen Erben und tat wenig, um dem absehbaren Nachfolger – Hadrian, seinem Vetter und zugleich dem Mann seiner Großnichte – einen festen Stand zu verschaffen, ehe er 117 plötzlich starb. Der neue Herrscher war gezwungen, sich auf eine fragwürdige Adoption zu berufen, die er, wenn überhaupt, in letzter Minute erreichte. Es gab Verschwörungstheorien und vier hässliche präventive Justizmorde an prominenten Ex-Consuln, was viele Senatoren noch jetzt, drei Jahre später, kochen ließ. Hadrian würde sehr lange und diplomatisch regieren müssen, um diesen Einstand vergessen zu machen. Von Annius Verus hatte man kein böses Wort über die „Verschwörung der vier Consulare“ gehört, und er hatte nicht lange auf Hadrians Dank warten müssen. Nun war er wieder Consul und obendrein praefectus urbi, Stadtpräfekt von Rom, der einzige Amtsträger aus dem Senatorenstand, der in der Hauptstadt über Truppen verfügte. Zudem machte ihn dies nach ungeschriebenem Gesetz zum verkörperten Standesgeist und Hüter der Traditionen aller gut 600 Senatoren, und dies in einem Moment, da der Präfekt so wichtig sein würde wie selten: Der Kaiser rüstete zu einer Reise durch seine Provinzen, die auf Jahre berechnet war.
Lang war der Weg aus Spanien bis hierhin gewesen, und bei aller Vorsicht war das Ende der Möglichkeiten noch nicht erreicht. Denn auch dieser Kaiser war bislang kinderlos, nach zwei Jahrzehnten Ehe mit Traians Erbin Sabina; jedes weitere Jahr ließ die Aussichten auf Nachwuchs schwinden, zum Schaden des Reiches, dem Intrigen und selbst ein Bürgerkrieg drohen konnten, aber zum Vorteil irgendeines Prätendenten, der schon geboren war. Die Annii konnten Kaisermacher werden, wenn nicht mehr. Die neue Geburt fiel mitten in die Feierlichkeiten zum Baubeginn des riesigen Tempels der Venus und Roma und vor Hadrians einstweiligen Abschied von der Hauptstadt – kein übles Omen.
Unruhe, Erwartung und Ehrgeiz umgaben die Geburtsstätte des Kindes – eine Gartenvilla des Großvaters auf dem grünen Caelius, einem Lieblingshügel der Prominenz – wie dessen nahes Stadthaus am späteren Lateranpalast und die Wohnsitze der jüngeren Annii. Die Ankunft des „jungen Herrn“ brachte auch das Sozialgefüge der Haussklaven und Freigelassenen in Bewegung. Dass ihr Haus damit sein Gewicht mehrte, wussten und schätzten auch die Sklaven, auf die sich eine Spur solchen Zuwachses übertrug. Ihr Herr war guter Laune, also empfahl sich der Moment für kleine Bitten. Und wie würde der Sohn des Hauses einmal mit ihnen umgehen?6
Die Aufregung steckte die weitverzweigte Klientel des Consuls, seiner Söhne und der verschwägerten Familien an. Reiche und arme Bürger aus dem Volk waren sich mit Schützlingen der Annii aus Senatoren- und Ritterstand einig über das Glück ihrer Patrone. Es war womöglich ihr eigenes Glück: Wenn künftig ein Gesuch zu unterstützen war, ein junger Mann auf eine Stelle als Centurio hoffte oder ein Verwaltungsbeamter sich zu verbessern wünschte, würde es helfen, dass die Annii nicht nur die Mächtigen von heute waren, sondern auch ein Morgen hatten. Viele Briefe dieser schreibfreudigen Kultur trugen die Nachricht hinaus in die Landstädte und Häfen Italiens und weiter bis in den Süden der Iberischen Halbinsel, zur Provinz Baetica, wo die Honoratioren nicht nur im Städtchen Ucubi, dem Ausgangsort der Erfolgsgeschichte, aufmerkten.
Jenes Auge, auf das es am meisten ankam, blickte mit besonderer Schärfe auf das Ereignis. Ein Kaiser erfuhr solche Geburten fast vor den Eltern selber; männliche Erben im Hause eines Stadtpräfekten waren hohe Politik, dieser selbst schon von Amts wegen ein Freund des Princeps, der einen herzlichen Glückwunsch erwarten durfte. Für Hadrian, der sich seines Augenmerks für viel unwichtigere Details rühmte, ging es um einiges. Wie politisch war die Geburt eines engen Verwandten des Throns, da der Kaiser keinen Erben hatte? Domitia Lucilla, die junge Mutter, war eine glänzende Partie, mütterlicherseits die Erbin zweier reicher Patrizier; ihr Vater Calvisius Tullus Ruso war ein guter Freund des Kaisers. Domitia und der Mittvierziger Hadrian standen in einer Verwandtschaft, die unsere Quellen nur vage kennzeichnen, was wohl mit jenem eben erst geborenen Kind zu tun hat. Eine Senatsfamilie aus Spanien, die Dasumii, verband sie, aber manches spricht für eine besonders spektakuläre Vermutung – Domitia als Hadrians jüngere Halbschwester. Annius Verus, das Familienoberhaupt, konnte sich in den Tagen Traians kaum eine bessere Schwiegertochter erträumen; was seinen Sohn erwarten mochte, wenn es bei der Kinderlosigkeit Hadrians blieb, hätte schlichteren Gemütern den Kopf verdreht. Der Kaiser und sein Präfekt – beide keine Naivlinge, Hadrian überdies im Ruf der Undurchschaubarkeit – wussten, wie gut der jeweils andere die Gefahren solcher Träume kannte; ihr Verhältnis litt allerdings nicht darunter.7
Auch Hadrians Schwager Servianus hatte Nachwuchs vorzuzeigen – das nahm den Druck von Hadrian, sich mit einem bestimmten Nachfolger anzufreunden. Er hatte nicht so schnell die Absicht, zu sterben oder zu adoptieren, und die Existenz mehrerer Kandidaten gab Intriganten etwas zum Grübeln, damit sie beschäftigt waren. Falls der kleine Annius überlebte, würde man über ihn nachdenken müssen; wenn Hadrian in ein paar Jahren zurückkehrte und Armeen, Straßen, Stadtverwaltungen in Ordnung gebracht hatte, war der Junge schon eine kleine Persönlichkeit und lohnte eine eigene Inspektion. Man durfte gespannt auf den Ausgang sein.
Wer sich seine Kindheit selbst aussuchen könnte, sollte nicht das antike Rom wählen. Gerade die modernsten medizinischen Ansichten, die in den Adelsfamilien befolgt wurden, waren für Kinder qualvoll. Zuständig war als Erstes die Amme, die Domitia das einengende Wickeln, Baden und das schlafraubende Stillen abnahm – damit erhöhte sich zugleich die Chance auf baldige Geschwister für den Jungen. Von seiner Amme lernte ein Senatorensohn üblicherweise die ersten griechischen Wörter, während der Rest des Haushalts Latein mit ihm redete; so wuchs er mindestens anderthalbsprachig auf – ein bis heute nicht ausgestorbenes Modell des Spracherwerbs. Den Eltern begegnete das Kind Marcus lediglich stundenweise. Wie früh und intensiv die Erwartungen der Familie auf ihn einwirkten, ist schwer zu schätzen, aber der Konformitätsdruck war enorm. Das bedeutet noch keine freudlose Kindheit; es gab Spiele, Besuche junger und alter Verwandter, die Begegnung mit religiösen Riten – Festen in der Stadt, Opfern für die Hausgötter – und den komplizierten Welten des eigenen Haushalts wie der Stadt vor dessen Tür.8
Dennoch: fast vom Moment der Geburt an kamen quasi-öffentliche Funktionen und Pflichten auf Marcus zu. Im Rückblick empfand er sie nach allem, was seine Selbstbetrachtungen verraten, keineswegs als drückend. Wir wissen wenig über die Erziehungsmechanismen, die den Zweck hatten, das Selbstgefühl eines Aristokraten der Kaiserzeit gleichzeitig anzuregen und zu bremsen; die Furcht der Älteren vor Hochmut, Stolz und unbeherrschten Handlungen erzwang mit Sicherheit engere Vorschriften als in den meisten Gesellschaften der Geschichte. Ein Sohn des Kaisers hätte kaum weniger Spielraum haben können als jemand aus einer der besten Familien, dem von klein auf vor Augen stand, dass bis zum Herrscher hinauf die ganze Welt auf ihn und besonders seine Fehler achtete, die Folgen von nicht näher erläuterter Schrecklichkeit haben konnten.
Diese lebenslange Beobachtung durch Verwandte und Standesgenossen hat Reflexe hinterlassen. Lobende Vermerke, Marcus sei „von klein auf ernst“, ein kluges Kind gewesen, sind kein reiner Topos mit Blick auf sein späteres Leben. Sie verraten vielmehr einiges über die ungeschriebenen Akten, die jeder über jeden führte. Es war wichtig und beruhigend, Vorzeichen späteren Ernstes, von Würde und Beherrschtheit (die römische Idealtugend der gravitas), in einem solchen Kind zu finden. Vielversprechende Anlagen waren in der Tat ein Beitrag, den auch die Kleinsten zur Würde ihres Hauses leisten konnten, und die Annii waren so vornehm, dass sie sich nicht einmal wie so viele Senatsfamilien ihrer Zeit mit endlos langen Namen zu behängen beliebten. Marcus gefiel den Betrachtern, das zählte schon jetzt für seine Zukunft.9
Wenn er „ernst“ bezeichnet wurde, bedeutete das kaum, dass man ihn nie lachen oder nur lustlos spielen sah. Ernst, keine Verbissenheit, war eine der am meisten erwünschten Eigenschaften, die eine römische Standeserziehung produzieren konnte; er garantierte eine tadellose Haltung. Aufmerksamkeit und Lerneifer waren weitere Ideale des Erziehers. Marcus entwickelte sie früh – entweder freiwillig oder ohne langen Druck. Damit entging er vermutlich vielem von der an Grausamkeit grenzenden Härte der römischen Pädagogik. Streiche und vorlaute Reden waren in Adelshäusern das Privileg eigens verzogener Sklavenkinder; der künftige Herr des Hauses wurde für geringe Vergehen mit Schlägen traktiert. Eines Tages würde das Kind seinen Status dramatisch ändern und unantastbar werden, seinen eigenen Vater ausgenommen, der ihm sein Leben lang Vorschriften würde machen können. Die Spannung zwischen der jetzigen Unterworfenheit und der Aussicht, in Zukunft selbst befehlen und strafen zu sollen, war enorm, die erlaubten Freiräume spärlich. Im Fall des jungen Marcus verdarb ihm dessen anonymer Erzieher sogar die Parteinahme für eine der zwei konkurrierenden Hauptfarben bei den Rennen im Circus, Blau gegen Grün, oder die Waffentypen bei den Gladiatorenkämpfen, womit ihm eine Außenseiterstellung gegenüber der großen Mehrheit seiner Zeitgenossen, Senatorensöhne inklusive, gewiss war. Marcus selbst äußerte später Langeweile über „den immer gleichen Anblick“ der Vorstellungen; die Darbietungen im Theater und die „Speerkämpfe“ verglich er mit der Fütterung oder dem Herdentrieb von Tieren und bemerkte, jeder Mensch sei „das wert, worum er sich Mühe gibt“ – mit einer Spur Überheblichkeit. Eindeutig zuwider waren ihm Fälle wie jener „der halb gefressenen bestiarii“, wohl zum Tode Verurteilte, keine ausgebildeten Berufs-Tierkämpfer, „die voll mit Wunden und Eiter bitten, dennoch für den nächsten Tag aufgehoben zu werden, in diesem Zustand für die gleichen Klauen und Zähne“.10
Abb. 1: Marcus Annius Verus. Jugendporträt, wohl kurz vor 138 (Rom, Kapitolinische Museen).
Marcus’ spätere Eigenschaft, sich selber am meisten anzutreiben und immer noch mehr von sich zu fordern, gelangte dagegen zu einer frühen, enormen Entwicklung. Moderne Psychologen würden von einer Internalisierung sprechen: Der Erzieher saß im Kopf des Jungen. Vor allem litt er mit Sicherheit stärker als Altersgenossen, wenn er eine Erwartung nicht erfüllte, die eigene eingeschlossen. Wenn es zu Strafen kam, empfand er sie wahrscheinlich intensiver als öfter heimgesuchte Kinder seiner Zeit; er bestrafte sich allein genug, mit Schuldgefühlen und dem Vorwurf, versagt zu haben, denn „es drängte ihn stark zur Tugend“. Selbstbeschränkung und Genügsamkeit zählen zu den wenigen Gaben, die er auf seine Mutter und seinen Erzieher zurückführte: Beide schärften ihm ein, einfach zu leben und „wenig zu benötigen“. Dankbarkeit gegenüber allen, die ihm nahestanden, sollte seine bleibende Eigenschaft werden. Sich selbst bescheinigte er später, er habe an keinem der frühen Erzieher „vor lauter Überstürzung einen Fehler begangen, obwohl ich doch die Anlage dazu hatte“; unterdrückten Zorn und Rachebedürfnisse kannte der Junge also durchaus, „weshalb ich, wenn es sich ergeben hätte, wohl auch so etwas getan hätte“. Nur die Gelegenheit blieb aus.11
Über die religiösen Empfindungen der Zeit ist viel spekuliert worden. Marcus diente den ererbten römischen Göttern mit Ehrfurcht und Eifer; jedenfalls verriet er besonderes Talent für die genaue Ausführung der Riten und meisterte die archaischen Sakralformeln der Priesterschaft der Salii, deren Zeremonien er ein Leben lang eng verbunden blieb. So philosophisch Marc Aurel uns erscheint, so traditionsbezogen betete und opferte er als Kaiser wie als Oberhaupt seines Hauses, kein Diener einer ‚Vernunftreligion‘. Seine eigene Beschreibung „gottesfürchtig ohne Aberglauben“ meint ein Leben ohne ständiges Zittern oder kleine magische Rückversicherungen für jeden Schritt, aber keineswegs ein Abrücken von den überlieferten Riten, gleich wie urtümlich sie waren. Wie auch immer Marcus sich als Kind wie als Erwachsener die Götter dachte, fühlte er sich von ihnen ein Leben lang begleitet und antwortete mit Dankbarkeit und größtmöglicher Ergebung in sein Schicksal – was ihm nicht immer leicht fiel.12
Hinzu kommen frühe Zeichen einer an Selbstzerfleischung grenzenden Sicht auf die eigenen Taten. Marcus beobachtete sich noch viel genauer, als es ganz Rom konnte, und er mochte nicht immer, was er sah. Für die Mitwelt zeigte er sich als bescheidenes, ungemein ehrliches Kind, an dem schlicht nichts verborgen schien; ‚Unarten‘ scheint er nicht gehabt oder beim ersten Tadel abgelegt zu haben. Zumindest lebte er sie ein Leben lang nicht aus. Dies fiel auf, insbesondere einem Beobachter, der mit Marcus die scharfen Blicke und den Eifer, aber keineswegs den Ehrgeiz zur Transparenz teilte. Hadrian fühlte sich vom kleinen Verus angezogen – eine einseitige Sympathie. „Verissimus“ nannte der Kaiser seinen ehrlichen jungen Verwandten mit etwas Spott und viel Staunen, den „Wahrhaftigsten“, die verkörperte Wahrheit. Die Selbstbeherrschung, die Hadrian öfters verließ, schien an dem Jungen nicht aus bloßer Vorsicht zu stammen.13
Es ist möglich, dass in ihr ein diskreter Hochmut mitschwang, nach allen Kräften innerlich der Beste zu sein und nach außen hin zu zeigen, dass er nicht allein klug war, sondern auch nichts zu verbergen hatte – eben etwas ganz Besonderes war. Zugleich verunsicherte ihn das aber. Der äußerlich ‚angepasste‘ Junge, wie wir fast bedauernd sagen würden, scheint, wo immer er eigene Schwächen sah, nie die Ruhe und Gelassenheit entwickelt zu haben, für die man ihn später gegenüber anderen rühmte. Zum Jagen – einem wichtigen Sport für Kaiser wie Aristokratie, für den sich Hadrian begeisterte – musste man Marcus nach wenigen Anläufen förmlich tragen. Wir finden ihn stattdessen früh auf der Jagd nach Fehlern an sich, und stieß er auf einen, war das nicht das Ende. „Oder zwingt dich irgendeine angeborene Behinderung, dich damit abzufinden?“, rügte sich der Erwachsene am Ende eines langen Sündenregisters. „Bei den Göttern, nein, sondern all das hättest du längst ändern können, im Bewusstsein – wenn man das gelten lässt – deiner Trägheit und Begriffsstutzigkeit. Und auch gegen die hätte man trainieren können, statt sie ins Herz zu schließen und seinen Spaß an deiner Untätigkeit zu haben.“14
Marcus wollte, bewusst oder nicht, durchaus vollkommen sein; Schwäche scheint er gefürchtet und gehasst zu haben. Und alle Zeit hat er an sich eine Schwachstelle gefunden, meist seinen Körper; „aus einem ganz hinfälligen machte er einen ganz abgehärteten“; er kämpfte als Zwölfjähriger gegen das Schlafen im Bett, später den Schlaf überhaupt, die ‚Abhängigkeit‘ vom Gesundsein. Spätere Quellen tadeln, er habe durch die Studien seine eigentlich robuste Natur untergraben. Nicht zufällig vertrug sich die senatorische Standesethik gut mit der stoischen Philosophie, die auch und gerade gegen das Leiden an Momenten äußerer oder innerer Schwäche zu schützen versprach. Doch bei Marcus, der schon als Junge nicht bloß aus einer Laune den groben Philosophenmantel trug, nahm die Symbiose von Standesideal und Stoa eine viel tiefere Form an, und so sehr er das Warten auf die Zeit des Befehlens und der Ehrungen ertragen konnte, so nahe kam das Regiment, das er nach innen über sich und seine Bedürfnisse errichtete, der Grausamkeit. „Deine ganze Aufmerksamkeit sei dem Verstand zugewandt.“ Wo solche Lehren, mit denen er vertraut wurde, zeitweiligen Verzicht empfahlen, um sich auf etwa nötige Entbehrungen vorzubereiten, suchte er mehr. Der Raubbau an seiner Substanz hatte begonnen, auch wenn man den heranwachsenden Marcus noch ringen, boxen und Ball spielen, in voller Rüstung trainieren und Wildschweine mit dem Speer jagen sah. Als Erwachsener „konnte er seiner Konstitution wegen nicht viele Kraftakte“ – oder „mannhafte Taten“, je nach Übersetzung – „vollbringen“.15
Die dauernde Askese erstreckte sich insbesondere auf das aus der Sicht eines Philosophen besonders heikle Gebiet der Sexualität. Marcus hatte es alles andere als eilig, hier Erfahrungen zu sammeln. Gleich nach der Gnade, überwiegend unter guten Menschen gelebt zu haben, dankte er den Göttern für die Beseitigung gleich mehrerer Versuchungen: „… dass ich nicht zu lange bei der Konkubine meines Großvaters erzogen wurde; und dass ich während meiner Jugend rein erhalten und nicht vor der Jugend schon zum Mann gemacht wurde, sondern mir sogar noch länger Zeit dafür nahm“. Mindestens zwei Personen seiner Umgebung machten Marcus Avancen oder stachen ihm doch ins Auge, und er pries sich später selig, „mich weder mit Benedicta noch mit Theodotos eingelassen zu haben, sondern auch nachher von Liebesleidenschaften genesen zu sein“. Anscheinend war er durchaus versucht gewesen; seine späteren Moralvorstellungen, vielleicht auch ein Wechsel im Geschmack ließen ihn „den Verzicht auf die Liebe zu jungen Männern“ loben. Zur Keuschheit geboren war er jedenfalls nicht.16
Auch über das Vergnügen an seiner sozialen Stellung war er anfangs nicht erhaben; so hielt er sich als Erwachsener vor: „Du hast es ja probiert, bist zwischen so vielen Möglichkeiten herumgeirrt und hast nirgends das richtige Leben gefunden: nicht in den logischen Beweisverfahren, nicht im Besitz, nicht im Ruhm, nicht im Genuss, nirgends.“ Und so sehr seine späteren Lehrer ihn für seine Intelligenz und seinen Fleiß priesen, so wenig glaubte er selbst zumindest an das erstere: „An deinem Scharfsinn gibt es wenig zu bewundern. Wenn schon, … dann zeige das, was zu erreichen ganz bei dir liegt.“ Wenigstens diesen Selbstanklagen zufolge fiel ihm die Aufgabe greifbarer Lebensziele lange schwer.17
Das alles greift weit voraus. Weite Reisen machte der Junge anscheinend nicht; immer wieder ging es im Sommer in die großen Landsitze der Familie, und Höflichkeitsbesuche der Verwandten untereinander, in der Stadt wie auf dem Land, waren an der Tagesordnung, von Visiten bei den verschwägerten Familien nicht zu reden. Er sah und bewunderte besonders seinen Großvater; Jahrzehnte später führte der Präfekt die Liste der prägenden Vorbilder an. Und auch die Freude, seinen Vater als Praetor zu Gericht sitzen zu sehen, wartete auf ihn.
Doch dann war der Vater eines Tages tot, wohl das Opfer einer der häufigen Krankheiten, vor denen auch die besten, teuersten Ärzte des Reiches nicht schützten. Marcus verlor ihn zu früh, um mehr als vage Eindrücke und das wächserne Ahnenbild oder einen Statuenkopf im Gedächtnis zu behalten; was er später von ihm wusste, erfuhr er durch andere. „Vom Ansehen und der Erinnerung an meinen leiblichen Vater das Bescheidene und Männliche“, mehr als dies hatte ihn nach eigener Aussage nicht prägen können. Eine bestimmte Sichtweise auf das eigene Leben war seitdem offenbar angelegt: ein Gefühl des Ausgeliefertseins und der wiederkehrenden Verluste. „Jetzt begib dich in die Zeit deines Lebens unter deinem Großvater, dann in die unter deiner Mutter, dann die unter deinem Vater und finde das viele andere Vernichtete, Veränderte und Verschwundene und frage dich: ‚War das so schrecklich?‘“ Als Kind zumindest hätte er Ja sagen müssen.18
Der Tod eines Elternteils war ein nur zu gewöhnliches Schicksal. Über das Leid hinaus konnte für Halbwaisen aus Familien der zweiten Reihe – wie vormals für den jungen Hadrian, der mit zehn seinen Vater verloren hatte – ihre politische Zukunft scheitern; nicht in diesem Fall. Um Marcus wimmelte es von Würdenträgern, deren summierter Einfluss im Reich seinesgleichen suchte. Jeder von ihnen konnte als Vormund für den Eintritt des Jungen in die Erwachsenenwelt sorgen, während die Mutter Domitia die Hauptlast der Erziehung schulterte oder doch verteilte, für Marcus wie seine Schwester Cornificia – bei zwei überlebenden Kindern war es geblieben. Eine oft gewählte Möglichkeit war Erziehung durch die Großeltern. Der Patriarch Verus setzte auf eine andere Lösung, die Adoption. Ein enger Freund Hadrians mit glänzender Karriere, Catilius Severus, gab dem Jungen für eine Weile seinen Namen. Durch Heirat einer Großmutter oder Urgroßmutter Marcus’ – die Lösungsversuche sind zahlreich – war er an die Familie gebunden. Marcus blieb nicht lange ein Catilius und sein Name behielt schon aufgrund späterer, gravierender Ereignisse keine Spur der Episode.19
Die Zeit der Annii war aber keineswegs vorbei. Marcus’ Onkel Libo wurde 128 Consul; schon 126 schloss Großvater Verus seine Präfektur mit dem dritten Consulat ab, und Marcus’ zweiter Großvater Calvisius leistete ihm Gesellschaft. Iulius Servianus dagegen, Hadrians Schwager, musste acht lange Jahre auf dieselbe Ehre warten, als hätte der Herrscher auf eine biologische Erledigung des Anspruchs spekuliert; Rom nahm das genau zur Kenntnis. Bald fiel das Licht kaiserlicher Gunst auch auf den Enkel des Präfekten. 127 verlieh man Marcus ein aus Staatsgeldern bezahltes Pferd, eine besondere Ehre für römische Ritter; nominiert hatte ihn dafür Hadrian selbst. Mit acht Jahren wählte ihn das Priesterkollegium der Salii in seine Reihen, eine Sensation in doppelter Hinsicht: Das Alter aller sonst bekannten Mitglieder lag bei mindestens 16 und sie mussten aus rituellen Gründen zwei lebende Elternteile haben. Die Umgehung dieser Regeln ging zweifellos auf den Kaiser als pontifex maximus zurück. Seit Mitte 128 befand sich der oberste Priester Hadrian auf seiner zweiten langen Provinzreise in der Osthälfte des Reiches, zu lang für den Geschmack vieler Senatoren, aber Marcus war nicht vergessen. Interessierte Beobachter oder die vorzeichenhungrige Nachwelt hielten fest, bei einem rituellen Gastmahl, in dessen Verlauf die Salii ihre Kränze wegwarfen, sei ausgerechnet der von Marcus wie von Geisterhand gelenkt auf dem Haupt einer Statue des Mars gelandet.20
Nicht nur die Kenner der römischen Politik sahen über der Zukunft des Reiches dunkle Wolken aufziehen, als die 130er verstrichen. Der blutige Bar-Kochba-Aufstand in Judäa und in Teilen der Nachbarprovinzen, ein Einfall der Alanen in Cappadocia am Nordende der Orientgrenze waren schlechte Nachrichten. Aber drückender blieb die Frage, wer Hadrian nachfolgen sollte, der sich seinem sechzigsten Geburtstag näherte und vielleicht schon Krankheitssymptome zeigte. Roms mächtigste Familien, alle untereinander und mit dem Kaiser verwandt, maßen dynastische Ansprüche und warfen Blicke auf die Provinzstatthalter mit den größten Armeen. Würde Hadrian einen Erben bestimmen, ehe sich der beklemmende Moment von 117 wiederholte? Noch lebte Iulius Servianus, dessen Enkel Pedanius Fuscus, wohl acht Jahre älter als Marcus, sich einem Alter näherte, in dem mit ihm zu rechnen war; falls der Kaiser durchhielt oder seinen noch vitalen Schwager zum Nachfolger bestimmte, war Fuscus die wahrscheinlichste Wahl. Sollte der Thron früher frei werden, hatten auch mehrere enge Verwandte von Marcus wegen ihrer Abstammung oder politischen Begabung eine Chance.
Und Marcus selber, so jung er noch war, würde nach Prestige und Stand eines Tages in Betracht kommen; schon jetzt war sich seine Verwandtschaft, so kompliziert ihre Beziehungen untereinander waren, in der Sympathie, ja, Liebe für ihn einig. Es gab weitere Signale, die ihn ermutigen konnten. Seine Vita spricht von einem Aufwachsen in Hadriani gremio; um „auf dem Schoß“ des rätselhaften Herrschers großzuwerden, mussten beide in Rom und Italien sein – Hadrian war es von 125 bis 128, zu früh für tiefere Eindrücke, und kehrte zwischen 132 und spätestens 134 aus dem Orient zurück. Später verschwieg man Marcus’ enge Kontakte zu ihm, die es schon aus Standesgründen gegeben haben muss – hätte ein junger Patrizier den Princeps gemieden, wäre der Skandal perfekt gewesen. Umgekehrt ist die Behauptung, allein Marcus’ Jugend habe ihn seinerzeit daran gehindert, Thronfolger zu werden, eine Rückprojektion, die, wenn überhaupt, die Wahrheit nur zufällig träfe.21
Abb. 2: Hadrian (76–138; Neapel, Museo Nazionale Archeologico).
Der werdende Philosoph, dem seine Mutter den Kompromiss abgerungen haben soll, auf Fellen statt auf dem Boden zu schlafen, war nicht ehrgeizig und hatte vom Status seiner Familie eine genaue Vorstellung. Wenn er zu dieser Zeit auf seinen Anteil am Erbe des Vaters verzichtete und seiner Mutter anheimstellte, ihn im Testament gleichfalls zu übergehen, dann darum, weil er in zahlreichen Vermächtnissen älterer Verwandter erscheinen würde, und um die Mitgift seiner Schwester Cornificia zu erhöhen – sicher nicht, um ein Leben in Armut zu führen. Auch Marcus teilte die Erziehung der Dutzende von Berufspolitikern, die sich nun Gedanken um die Zukunft machten. Seine Chance oder sein Risiko, in die Nachfolgefrage gezogen zu werden, war gegenüber den älteren Verwandten momentan klein; wahrscheinlicher wäre eine gewisse Gefahr, falls Intrigen oder Gewalt den nächsten Kaiser bestimmten. In jedem Fall hing sein Schicksal nicht von ihm ab. Für Manipulatoren oder Neugierige scheint der junge Patrizier, der 136 fünfzehn Jahre alt wurde, wenig Angriffsfläche geboten zu haben.22
Eine Wahl lag in der Luft, als Hadrian sichtbar verfiel. Sie traf im Lauf des Jahres 136 den vornehmen, aber politisch anscheinend profillosen Consul Lucius Ceionius Commodus, den der Klatsch später zum Ex-Geliebten Hadrians machte, moderne Spekulationen gar zu seinem unehelichen Sohn. Die Quellen verraten vorsätzlich wenig über Ceionius, reden ihn kränker, jünger und unreifer, als er war, und behandeln ihn als störendes Zwischenspiel auf dem Weg zu den vom Schicksal vorbestimmten „guten“ Kaisern. Der mutmaßliche Patrizier war relativ jung, besaß aber einen enormen Vorteil, als er zum Adoptivsohn aufstieg – er hatte Kinder, darunter einen Sohn. Noch konnte dieser kleine Lucius kaum sprechen, aber wenig Zweifel bestand, dass er der Erbe in zweiter Generation werden würde, sobald Hadrian tot war. Zwischen Ende Juni und Dezember 136 fand die Adoption statt. Eilig wurde dem Adoptierten, nun Aelius Caesar genannt, ein zweiter Konsulat für 137 zugedacht und das Kommando der pannonischen Donauprovinzen übertragen, wo er mit Hilfe handverlesener Begleiter Militär- und Verwaltungserfahrung erwerben sollte. Rom kam zur Ruhe und beging 137 eher geräuschlos das zwanzigjährige Thronjubiläum des Todkranken; seit Augustus und Tiberius hatte niemand mehr so lange regiert wie Hadrian. Der Thronkandidat Pedanius Fuscus und sein bald achtzigjähriger Großvater Servianus waren übergangen worden, die mögliche Wirkung auf Marcus’ Zukunft ausgeblieben.23
Sein künftiges Leben würde wie auf Schienen laufen. Er würde volljährig werden, dann mit ungefähr 18 eins der zwanzig kleinen Ämter des sogenannten Vigintivirats übernehmen, die Münzaufsicht etwa, würde mit rund zwanzig Quaestor sein wie alle Patrizier, dann nach einer langen Amtspause Praetor und schließlich Consul, wenn er 32 wurde oder bald danach. Jahre ehrenvoller Amtslosigkeit lagen dann vor ihm, er würde einem oder zwei hohen Priesterkollegien angehören, das Patronat von Städten und ehrgeizigen jungen Beamten erben, eines Tages Statthalter von Africa oder Asia werden und mit Glück und Gunst des Kaisers wie sein Großvater und sein Adoptivvater regelmäßig unter dessen Beratern sitzen. Sosehr ihn seine gesellschaftlichen Verpflichtungen fordern mochten, ihm würde viel Zeit für die eigenen Interessen bleiben, insbesondere für die Philosophie, während andere Legionen zu führen und Provinzen zu verwalten hatten; außerdem gab es auch noch die Familiengüter, die Angelegenheiten der Verwandtschaft, die Staatsgeschäfte. Alles in allem ein Leben, das ehrenvoll war und seine besten Kräfte freisetzen würde. Zu dieser Aufgabe war er geboren.24
In diesen Tagen bereitete sich aber noch Größeres für ihn vor. Hadrian veranlasste seinen Erben Aelius Caesar, eine seiner Töchter, Ceionia Fabia, mit Marcus zu verloben, der im März 136 die Erwachsenentoga angelegt hatte und nun mündig war – ein Geschenk an die Annii, das um ihre Loyalität für den künftigen Kaiser Aelius warb und den jungen Mann, sollte die Ehe zustande kommen, zu dessen Schwiegersohn machte. Einfluss und Ehren waren Marcus damit sicher. Falls der kleine Sohn des Caesar, Lucius, einmal starb, sah es noch ganz anders aus. In geringem Abstand folgte die nächste Ehrung: Einmal im Jahr verließen alle regulären Amtsträger Rom zu Opferfeiern, und ein junger Mann aus gutem Haus verwaltete in dieser Zeit die Stadt nominell für einige Tage. Marcus wandelte hier in den Spuren seines Großvaters Verus, aber auch eines anderen vaterlosen Jugendlichen namens Hadrian. Der Princeps hatte es mit Verissimus gut gemeint.25
Unglücklich, wer sich nicht besser einschätzen konnte und die Nähe zum Thron mit dem Purpur selber verwechselte. Hadrians letzte Jahre sahen den Tod seines greisen Schwagers Servianus und dessen auf die Kaiserwürde hoffenden Enkels; aufgrund einer vermeintlichen Verschwörung waren sie zum Selbstmord gezwungen worden. Hadrians Herrschaft endete also so blutig, wie sie begonnen hatte, und das Bild eines neuen Tiberius begann in den Köpfen Gestalt anzunehmen. Der reizbare, todkranke Mann auf dem Thron wurde für wahnsinnig gehalten, sein Caesar anscheinend nicht mit Begeisterung zurückerwartet. Und dann kam der Erbe nach höchstens einem Jahr im Kommando von der Donau heim, möglicherweise wegen Hadrians Zustand gerufen, erwies sich selbst als schwerkrank und starb am 1. Januar des Jahres 138 – eine Katastrophe für die Stabilität des Staates.26
Marcus war längst alt und kundig genug, die folgenden Wochen der Unsicherheit bewusst mitzuerleben, während sich in seiner Umgebung Hoffnungen neu entzündeten und Zukunftssorgen verschärften. Was vielleicht wenige dem sterbenden Princeps noch zugetraut hatten, bahnte sich an, eine zweite Erbfolgeregelung. Allein oder im Gespräch mit den wichtigsten Beratern versuchte Hadrian diesmal weit in die Zukunft zu wirken. Ein Ruf erging – wahrscheinlich überraschend – an den ältlichen Consul Titus Aurelius Fulvus, Marcus’ Onkel, der nach einer Adoption zusätzlich den Namen Antoninus trug. Seine Herkunft „aus vornehmem, aber nicht besonders altem Haus“ war makellos: wie Marcus hatte auch Antoninus seinen Großvater als Stadtpräfekten gesehen; im Jahr vor Marcus’ Geburt, 120, war er mit nur 34 Consul geworden, was nahelegt, dass er zum Patriziat zählte. Sehr reich war er obendrein. Später überlieferte man, Hadrian habe ihn regelmäßig zu Beratungen eingeladen, und als Italien von vier Beamten verwaltet werden sollte, die unangenehm Provinzstatthaltern ähnelten, war Antoninus unter den ersten. Für die Nachwelt stand er im Ruf der Klugheit, Umgänglichkeit – und Nachgiebigkeit. Elektrisierend für die Erbfrage war, dass er bis auf seine Tochter Faustina alle seine Kinder, darunter zwei Söhne, überlebt hatte.27
Marcus blieb wenig Zeit, über die denkbaren Folgen zu rätseln; man schickte auch nach ihm. Seine persönliche Katastrophe war komplett.