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2. Berlin

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Auch an diesem 17. Dezember röhrt der nicht ganz legale Auspuff der Harley Road King etwas zu laut bei der Einfahrt in die Garage des Auswärtigen Amtes in Berlin. Die Polizeiposten vom Amt wissen: Rudi fährt vor, Dr. Rudolf Kürten, der Mann für alle Fälle, wenn deutsche Staatsbürger irgendwo in der Welt ein gravierendes Problem haben.

»Guten Morgen, Herr Doktor Kürten!«

Rudi klappt das Helmvisier hoch: »Ich hab‘ doch gesagt, lasst endlich den Doktor weg!«

»Jawohl, Herr Doktor!«

Es ist in der Tat ein etwas untypischer Ministerialdirigent, mit Biker-Lederjacke, einem dezenten Ohrring, einem spitzen Kinnbärtchen und zum Zopf zusammengebundenen Haar, der da sein Reich betritt.

Sein Reich im Hochsicherheitstrakt unter Tage, eine 24-Stunden-Krisenmanagementmaschine, ist das Beste, was es in Deutschland gibt. Seine Leute sind Spezialisten vom Auswärtigen Amt, der Bundeswehr und aus den Nachrichtendiensten, Menschen, deren Vita er selbst nicht immer kennt. Doch Rudi muss sich vollkommen auf sie verlassen können. Jede falsche Koordinate, jede falsche Uhrzeit, jeder falsche Name, jede falsche Wetteranalyse oder jede falsche politische Einschätzung kann Leben gefährden. Rudis Job aber ist es, Leben zu retten. Am liebsten würde er das selbst tun.

Aber er ist nicht Frontsoldat, sondern am Schreibtisch so etwas wie der oberste Krisenmanager der Nation. Oft genug am finalen Hebel der Verantwortung, wenn die Leitung oder sogar die Regierungschefin nicht entscheiden will.

Rudolf betritt das Krisenreaktionszentrum durch die Tür aus Tresorstahl, einem Erbe aus früheren Tagen, als hier noch die Reichsbank untergebracht war. Der Ort war eine kluge Wahl. Die abhörsicheren, einhundertzwanzig Zentimeter dicken Stahlbetonwände und achtzig Zentimeter dicken Fensterläden aus Stahl leisten beste Dienste gegen das Abhören von außen. Da aber der Feind auch innen sitzen kann, legt jeder Teilnehmer einer Krisensitzung sein Handy vor der Tür in den kleinen Schrank mit den achtzehn verschließbaren Fächern ab, Minister eingeschlossen.

Rudolf schaut kurz in den Lombardraum hinein, in seine Schaltzentrale.

»Guten Morgen allerseits, irgendwelche besonderen Vorkommnisse?«

Alberne Nachfrage, denkt er, denn hier ist jede Nacht etwas los und wird routinemäßig von der Nachtschicht unter Leitung des Beamten vom Dienst abgearbeitet: Entführte werden zurückgeholt, Angehörige telefonisch beruhigt, Sanitäter und Seelsorger geordert, und es wird ständig nach verschollenen Deutschen gesucht. Oft tauchen die dann irgendwann von selbst wieder auf. Nichts Besonderes. Es gibt im Fachjargon die Unterscheidung zwischen Vorkommnissen und den Besonderen Vorkommnissen, den BV, bei denen ihn die Nachtwache der Nation aus dem Bett holen würde.

Vor dem Beamten vom Dienst stehen vier Telefone, eines mit der Aufschrift Vorsicht Abhörgefahr! An sich nicht notwendig, denkt Rudi, meine Leute sind von Haus aus verschwiegen. Sie reden auch über die verschlüsselten Geräte nur das absolut Notwendige. Am liebsten: Verstanden – Roger – Over – Out.

Die Welt draußen ist hier in einen einzigen Raum gepackt. Neun Normaluhren mit den Namen der Hauptstädte, austauschbar mit dem aktuellen Krisenort in der zugehörigen Zeitzone. An der Wand Karten und die Privat- und Handynummern der Minister und Staatssekretäre. Sensible Daten, die abgedeckt werden, wenn Fremde das Allerheiligste betreten. Rund um die Uhr gehen die Ticker-Meldungen der Agenturen über Bild und Text ein, ebenso die BND- und BKA-Berichte und die der zweihundertvierzig deutschen Botschaften, so genannte Drahtberichte, die immer noch so heißen, obwohl sie längst elektronisch sind. Überall flimmert es, zehn Bildschirme allein für die Nachrichtensender. Für fast jedes Land gibt es einen Länderordner. Es gibt kaum etwas, was hier planerisch nicht schon vorgedacht ist.

Jeden Morgen wundert sich Rudi darüber, dass es hier bei dem Rund-um-die-Uhr-Betrieb in drei Schichten nicht muffig riecht. Wenn es richtig heiß hergeht, hat er im Amt eine Reserve von über zweihundertfünfzig geschulten Beamten für den Telefondienst. Bei Rudi läuft alles zusammen. Er ist ein Kellerkind der besonderen Klasse.

Allerdings ist sein Dienstzimmer kein Kellerverließ, es ist wie alle Dienstzimmer der Ebene Abteilungsleiter/Ministerialdirigent/Besoldungsgruppe B 6 nach besonderen Standards ausgerichtet. Großer Mahagoni-Schreibtisch, schwerer Teppich, Besprechungsecke mit feinen, schwarzen Sesseln, das Bild des Außenministers in Öl.

Dieser, der Leiter des Amtes, Georg von Rüdesheim, hat ein nettes, freundliches Gesicht.

Minister kommen und gehen. Mit ihnen die Ölgemälde. Nur der kleine schwarze Nagel an der Wand bleibt. Jahrzehntelang. Er hat inzwischen quasi einen ministeriellen Status bekommen. Ein Nagel wie der ideale Beamte dieses Hauses. Unauffällig und leistungsstark.

Ein Schild in Rudis Zimmer wird jedoch nie bewegt:

Failure is not an option.

Rudi lebt konsequent nach diesem Prinzip. Es stammt von der NASA, und galt der zu rettenden Apollo 13-Crew im All. Katastrophen verhindern durch Vermeiden von Fehlern. Auf dem Motorrad wie auch im Krisenkeller. Da gibt es für Rudi keinen Spielraum.

Er mag seine achtunddreißig Frauen und Männer von der Abteilung 04 im geheimnisumwitterten Krisenkeller – und sie ihn. Denn Dr. Rudolf Kürten ist nicht der amtstypische, aalglatte Beamte, sondern stets locker, mit viel Herz, und dabei hoch kompetent. Er hat seine Krisenweihen als Botschafter in Kenia, und damit auch zuständig für Somalia und Burundi, bekommen. Niemand im Amt kennt das leidige Thema Piraterie so gut wie er. Mit zweiundfünfzig Jahren weiß er auch, dass ein lockeres Arbeitsklima die besten Erfolge garantiert.

Doch Fronterfahrung und kooperativer Führungsstil sind nur eine Sache. Rudi ist keineswegs naiv. Hier im Krisenmanagementzentrum der Republik ist analytischer und emotionsfreier Sachverstand gefragt. Ohne Wenn und Aber.

Für die Lösung komplexer Lagen hat Rudolf ein bestimmtes Konzept geradezu verinnerlicht.

Es war vor vier Jahren, bei einer Einweisung für Spitzen-Führungskräfte der Wirtschaft an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg Blankenese. Er sieht den Oberst noch vor sich: Linker Arm in einem Tragetuch, Narbe oberhalb des rechten Auges, ganz scharfer Blick. Ein Typ wie Graf von Stauffenberg, hingerichtet am 20. Juli 1944.

»Bevor Sie eine Entscheidung treffen, meine Damen und Herren, verfahren Sie nach diesen vier Schritten:

1. Situation Analysis:

Alle Faktoren der Situation, bitte ohne jegliche Bewertung. Wir Soldaten nennen das Eigene Lage und Feindlage. Bei Ihnen, meine Damen und Herren von der Wirtschaft, können das z.B. die Produktpalette und der Wettbewerb sein. Bei den Damen und Herren vom Auswärtigen Amt der eigene rechtliche Rahmen und die politische Situation im Problemland. Verstanden? Okay, weiter geht’s!

2. Assessment:

Bewerten Sie jetzt aus der Situation Analysis Ihre Lage und die des Gegners. Aber keine Emotionen, sachlich bitte! Sie fahren gut, wenn Sie nach Faktoren bewerten. Ich sehe, Sie schauen mich fragend an, was Faktoren sind. Sehr einfach. Zum Beispiel die Fähigkeit der eigenen und der gegnerischen Ressourcen, die Marktsituation, die politische Lage, je nachdem, wo immer Sie arbeiten. Bei uns Militärs kann zum Beispiel das Wetter der entscheidende Faktor sein. Je umfassender Sie bewerten, umso besser wird die Entscheidungsgrundlage. Ist das auch verstanden? Nun, dann komme ich zu:

3. Objectives:

Sie glauben, dass Sie jetzt entscheidungsreif sind? Falsch, meine Damen und Herren. An dieser Stelle werden leider zu oft zu frühe, und damit auch falsche Entscheidungen getroffen. Entschleunigen Sie einen Augenblick. Schauen Sie in sich und fragen Sie sich: Was ist die Zielsetzung meines Handelns in dieser Lage? Was will ich erreichen? Ihre Antwort wird den Kurs bestimmen. Wollen Sie vielleicht den ganz großen Krieg gewinnen oder in dieser Phase vielmehr nur die Medien beruhigen? Im letzteren Fall ist Ihr Handeln auf Krisenkommunikationsoptionen ausgerichtet. Sie sehen, wie schnell man sich hier verlaufen kann. Damit zum letzten Punkt.

4. Conclusions:

Jetzt dürfen Sie Ihre Entscheidung treffen. Vielleicht hatten Sie die schon in der Hosentasche. Gut, dann ist sie jetzt immerhin bestmöglich abgesichert. Vielleicht sind Sie aber nach dieser Analyse mit einer ganz anderen Entscheidung unterwegs. Aber Vorsicht meine Damen und Herren – meistens gibt es mehrere Optionen! Listen Sie diese auf und wählen Sie die Entscheidung aus, die Ihre Zielsetzungen, Ihre Objectives, am besten erfüllen. Machen Sie Gewichtungen. Aber behalten Sie immer Ihre Mittel und Möglichkeiten im Auge, bleiben Sie in der Realität.«

Der Oberst zeichnet vier Buchstaben.

»Wir nennen diesen Führungsprozess SAOC«, er zeigt dabei auf die Anfangsbuchstaben von Situation Analysis, Assessment, Objectives und Conclusions.

»Es ist das klassische Führungsinstrument von Streitkräften. Damit wurden Kriege gewonnen oder zumindest vermieden. Viele meiner Kameraden sind heute Kollegen von Ihnen in der Wirtschaft und fahren mit diesem System auch dort bestens. Trimmen Sie Ihren Stab auf diesen Prozess. Und wenn sich die Lage ändert, dann lassen Sie SAOC neu anlaufen.

Last but not least: Vergessen Sie nie die Kontrolle. Fragen? Ich danke Ihnen.«

Danach hätte Rudi eigentlich nach Hause fahren können. Das war doch mal etwas! Es gibt eben Klicks im Leben.

Und manches Mal braucht man dazu einen sympathischen und garantiert authentischen Uniformträger.

Seitdem nistet SAOC in Rudis Großhirn wie die Schaltungen vom ersten zum fünften Gang, wenn er aus dem Spreewald ins Amt fährt. Allerdings hat er es längst aufgegeben, SAOC seinem Leiter des Krisenreaktionszentrums, Ministerialrat Dr. Hartwig Bloedorn, beizubringen. Irgendwie kann er diesen Mann nicht erreichen oder die Chemie zwischen beiden stimmt einfach nicht.

Rudolf schaut auf die Wandtafel. Zwölf Entführungslagen mit verschiedenen, maßgeschneiderten Krisenstäben je nach Land des Geschehens. Er kennt jeden Fall. Jede Dramatik. Jede Person. Jede Familie.

Aber ein Fall ist anders. Ein Entführungsfall, der bereits über zwei Jahre läuft, ohne sichtbare Bewegung. Zwei Männer werden als Schutzschild gegen die permanente militärische Bedrohung missbraucht. Das Bundeskriminalamt hat inzwischen ein Team für die Betreuung der beiden Familien in Deutschland abgestellt. Doch eigentlich brauchen diese Familien vor allem psychologische Betreuung. Rudi hat dafür rund um die Uhr Zugriff auf eine Hotline, die ihm in fast jeder deutschen Stadt ein Kriseninterventionsteam garantiert.

Und seit acht Wochen ist man in Sorge um die beiden deutschen Mitarbeiter eines Unternehmens, Helmut Weier und Josef Fischer, die entgegen der Reisewarnung des Amtes im Nordirak tätig wurden. Immerhin hatten sich beide in ELEFAND, die kostenlose, elektronische Liste der Erfassung von Auslandsdeutschen, eingetragen. Der Bundesnachrichtendienst vermutet sie in den Händen des Islamischen Staates, der schnell wachsenden muslimisch-militanten Terrorgruppe, die längst al-Qaida weltweit den Rang abgelaufen hat. Bisher gab es überhaupt kein Signal von irgendeiner Seite. Der Krisenstab Weier/Fischer, mit dem hausinternen Kürzel WEFI, ist auf Erkenntnisse der Nachrichtendienste angewiesen. Und in der Tat gibt es einen ersten Hinweis von der CIA, dass zwei deutsche Geiseln vermutlich im Nordirak festgehalten werden. In diese Richtung laufen jetzt alle Bemühungen von WEFI.

Rudolf weiß, dass die vergleichsweise komfortablen Zeiten vorbei sind, als es bei Entführungen nur um Lösegeld ging. Seitdem Deutschland sich zunehmend im Kampf gegen den internationalen Terror engagiert, nehmen die politischen Erpressungen zu und die Chancen für die Geiseln dramatisch ab.

Während er auf dem Weg zum Lagezentrum ist, stürzt Dr. Bloedorn hektisch auf ihn zu.

»Herr Dr. Kürten, gut, dass Sie da sind! Wir haben gerade über YouTube eine Videodrohung vom Islamischen Staat mit Ultimatum bekommen. Die Geiseln Weier und Fischer sollen am 25. Dezember enthauptet werden, wenn Deutschland sich nicht aus den Unterstützungsaktivitäten im Kampf gegen den IS heraushält!«

Rudolf vergisst einen Moment, dass er diesen aalglatten Bloedorn nicht mag. Der Mann kann geschlagene zwanzig Minuten bedeutungsvoll reden, ohne etwas zu sagen. Hohe Diplomatenschule. Hier im Krisenkeller hat das Amt ihn eigentlich auch nur geparkt. In Krisensituationen hyperventiliert er geradezu in so einer Art Krisenorgasmus. Leider ausschließlich um des blinden Aktionismus willen, weniger aus echter Sorge um die betroffenen Menschen.

Und an die denkt Rudolf jetzt, als sein Blick die Computer, Faxgeräte und Chiffriermaschinen im Lagezentrum streift, und dann wie so oft an den neun, leise im Gleichtakt tickenden Bahnhofsuhren hängen bleibt. Im Nordirak ist es bereits zwei Stunden weiter.

Wann soll enthauptet werden? 25. Dezember, also in neun Tagen! Das gibt wenigstens etwas Luft. Jede Stunde ist jetzt wertvoll. Sie müssen auf Vollgas-Modus umschalten.

»Herr Bloedorn, Krisenstab WEFI für 16:00 Uhr lokal einberufen! Leitungsebene informieren!«

Rudi eilt in sein Büro, das unbarmherzige Ticken der Uhren noch im Ohr.

»Sandra, ruf‘ Silberlocke zu mir und bitte meinen Blazer!«

Seine Sekretärin Sandra weiß, wenn die Harley-Jacke gegen den Blazer getauscht wird, ist der Ernstfall eingetreten. Und sie weiß natürlich auch, dass BKA-Direktor Harry Busch, genannt Silberlocke, der beste Kenner der islamistischen Terrorszene ist und ein ausgebuffter Verhandlungsfuchs dazu.

»Ich wollte Ihnen noch sagen, dass die Ehefrauen von Herrn Weier und Herrn Fischer eben angerufen haben. Chef, die sind am Ende ihrer Kräfte!«

»Haben wir die Erreichbarkeit?«

»Haben wir!«

»Sagen Sie beiden, ich rufe sie nach der Sitzung an.«

Er weiß, wie entsetzlich es für die Familien ist, die Enthauptungsdrohungen in den Nachrichten und die Enthauptungen selbst später wohlmöglich im Internet zu sehen.

Dann vertieft er sich in den Lagevortrag. Was wissen wir? Wie wird die Bewertung sein?

Doch schon jetzt ist ihm klar, es könnte die erste Enthauptung von Deutschen in diesem Jahr sein. Irgendwie war die RAF kalkulierbarer, geht es ihm durch den Kopf, da kannte man seinen Feind …

»Ich denke, Sandra, wir bekommen heute noch hohen Besuch.«

»Meinen Sie wirklich? Sie war in den zwei Jahren doch bisher nur ein einziges Mal hier, und das war zu ihrem Antrittsbesuch.«

Drei Brüder

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