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2 Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

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Deutschland als Nationalstaat, wie wir ihn heute kennen, gibt es erst seit 1871. Zuvor waren die einzelnen deutschen Länder jahrhundertelang vereint im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, das nach rund 900-jähriger Existenz 1806 zugrunde ging. Nach dem politisch-militärischen Ende der Herrschaft Napoleons (1769–1821) gründeten die Staatsmänner jener Zeit auf dem Wiener Kongress 1815 den Deutschen Bund. Ein einheitliches Deutschland gab es auch weiterhin nicht; dieser Bund bestand bei Gründung aus 35 souveränen Staaten und den vier Freien Städten (Hamburg, Bremen, Lübeck und Frankfurt). Hinsichtlich Größe, Bevölkerung und Wirtschaftskraft waren die Länder sehr heterogen. Preußen mit rund zehn Millionen Einwohnern verfügte über eine Fläche von 316.000 Quadratkilometern, das Fürstentum Schaumburg-Lippe mit der Hauptstadt Bückeburg dagegen war nur 340 Quadratkilometer groß und hatte Anfang des 19. Jahrhunderts noch nicht einmal 10.000 Einwohner. Auch das Kaiserreich Österreich gehörte dem Deutschen Bund mit einem Teilgebiet an. Dieser Bund, also das damalige Deutschland, war eine völkerrechtliche Gemeinschaft ohne eine gemeinsame Hauptstadt, ohne einheitliche Flagge oder Hymne – im Gegensatz zu Großbritannien oder Frankreich. Gemeinsame Beschlüsse, etwa in der Kriegs-, bald auch der Wirtschaftspolitik, wurden von Delegierten der einzelnen Landesregierungen auf der Bundesversammlung, dem einzigen Bundesorgan, in Frankfurt beschlossen. Die Bewohner des Bundes verstanden sich zunächst als Bayern, Hessen, Westfalen, Badener etc., noch nicht als Deutsche. Ihr Vaterland war der jeweilige Kleinstaat, doch war den Menschen bewusst, dass sie aufgrund der gemeinsamen Sprache und Kultur eine Nation bildeten. Die Übereinstimmung von Staat und Nation entwickelte sich erst allmählich. Beflügelt wurde die »nationale Idee« in den Befreiungskriegen 1813/15, als Preußen mit verbündeten Armeen über Napoleons Truppen siegte; infolge der Vielvölkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813 musste Napoleon Deutschland räumen. Vier Jahre später riefen Studenten in ihren Reden auf dem Wartburgfest (Oktober 1817) zur Einheit und Freiheit Deutschlands auf. Vor wesentlich größerem Publikum wiederholten die Redner des Hambacher Festes (Mai 1832) solche Forderungen. Die Kleinstaaterei sollte endlich überwunden werden, ein freies und geeintes Deutschland mit Bürgerrechten, die uns heute selbstverständlich sind, wie Presse- oder Versammlungsfreiheit, sollte geschaffen werden.

In dieser nationalen und liberalen Stimmung im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden patriotische Lieder, die den Geist der Zeit widerspiegelten. Eines der bekanntesten und häufig zitierten Lieder jener Jahre ist Ernst Moritz Arndts »Des Deutschen Vaterland« (1813). Zunächst über Flugblätter verbreitet, wurde es erstmals anlässlich des Sieges über Napoleon und des Einmarschs preußischer Truppen unter General Gebhard Leberecht von Blücher (1742–1819) in Paris öffentlich 1814 in Berlin dargeboten. Der Autor forderte einen großdeutschen Nationalstaat, dem alle deutschsprachigen Länder angehören sollten. Aus damaliger Sicht selbstverständlich unter Einbeziehung Österreichs und der Deutschschweiz, d. h. Arndt orientierte sich hier im Wesentlichen an dem 1806 untergegangenen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation:

Was ist des Deutschen Vaterland?

Ist’s Preußenland, ist’s Schwabenland?

Ist’s, wo am Rhein die Rebe blüht?

Ist’s, wo am Belt die Möwe zieht?

O nein! nein! nein!

Sein Vaterland muss größer sein!

Was ist des Deutschen Vaterland?

Ist’s Bayerland, ist’s Steierland?

Ist’s, wo des Marsen Rind sich streckt?

Ist’s, wo der Märker Eisen reckt?

O nein! nein! nein!

Sein Vaterland muss größer sein!

Was ist des Deutschen Vaterland?

Ist’s Pommerland, Westfalenland?

Ist’s, wo der Sand der Dünen weht?

Ist’s, wo die Donau brausend geht?

O nein! nein! nein!

Sein Vaterland muss größer sein!

Was ist des Deutschen Vaterland?

So nenne mir das große Land.

Ist’s Land der Schweizer, ist’s Tirol?

Das Land und Volk gefiel mir wohl

doch nein! nein! nein!

Sein Vaterland muss größer sein!

Was ist des Deutschen Vaterland?

So nenne mir das große Land.

Gewiss, es ist das Österreich

an Ehren und an Siegen reich?

O nein! nein! nein!

Sein Vaterland muss größer sein!

Was ist des Deutschen Vaterland?

So nenne endlich mir das Land!

So weit die deutsche Zunge klingt

und Gott im Himmel Lieder singt,

das soll es sein!

das, wackrer Deutscher, nenne dein!

das nenne dein!

Das ist des Deutschen Vaterland

wo Eide schwört der Druck der Hand,

wo Treue hell vom Auge blitzt

und Liebe warm im Herzen sitzt.

das soll es sein!

das, wackrer Deutscher, nenne dein!

das nenne dein!

Was ist des Deutschen Vaterland

wo Zorn vertilgt den welschen Tand

wo jeder Frevler heißet Feind

wo jeder Edle heißet Freund

Das soll es sein, das soll es sein

das ganze Deutschland soll es sein

Das ganze Deutschland soll es sein!

O Gott vom Himmel, sieh darein!

Und gib uns rechten deutschen Mut

dass wir es lieben treu und gut!

Das soll es sein!

Das soll es sein!

Das ganze Deutschland soll es sein!

1769 auf Rügen geboren und 1860 in Bonn verstorben, war Arndt Professor für Geschichte in Greifswald und Bonn, 1848 war er zudem Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung. Im 19. Jahrhundert


Abb. 1: Ernst Moritz Arndt (1769–1860), Verfasser des Lieds »Des Deutschen Vaterland«, Postkarte um 1935.

war der Freiheitskämpfer deutschlandweit so bekannt wie Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) und Friedrich Schiller (1759–1805). Mit seinen Gedichten und Schriften wandte er sich gegen die Besetzung Deutschlands durch Napoleon. Einst als Patriot verehrt, verurteilen ihn heute einige Kritiker als Nationalisten. Jahrelange Debatten führten in Greifswald sogar dazu, dass die Ernst-Moritz-Arndt-Universität ihren traditionsreichen Namen 2018 in Universität Greifswald änderte. Immerhin tragen noch immer rund 330 Straßen in Deutschland Arndts Namen (2021). Seinen neun Strophen wurden mehrere Melodien unterlegt, durchgesetzt hat sich die 1826 erstmals veröffentlichte Komposition von Gustav Reichardt (1797–1884), jahrzehntelang waren Gesangsrunden oder Konzerte von Burschenschaftlern und Männergesangsvereinen undenkbar ohne dieses »Vaterlandslied«.

Ebenso populär wurde das Lied »Ich hab’ mich ergeben« von Hans Ferdinand Maßmann. Wie auch Arndt war der 1797 in Berlin geborene und 1874 in Muskau verstorbene Maßmann Germanistik-Professor an der Münchener Universität, geprägt vom Kampf gegen die napoleonische Fremdherrschaft. Als Student hatte er am Wartburgfest 1817 teilgenommen. Sein bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein bekanntes Lied verfasste er 1820. Die Melodie stammt von August Daniel von Binzer (1793–1868), Urburschenschaftler und ebenfalls einer der rund 500 Teilnehmer des Wartburgfestes. Die Melodie hatte Binzer zunächst seinem 1819 getexteten Burschenschaftslied »Wir hatten gebauet ein stattliches Haus« (1819) unterlegt. In späteren Zeiten wurde, außerhalb evangelischer Studentenverbindungen, die dritte Strophe wegen des konfessionellen Bekenntnisses zu Martin Luther (1483–1546) ausgelassen:

Ich hab’ mich ergeben

mit Herz und mit Hand

dir, Land voll Lieb’ und Leben,

mein deutsches Vaterland.

Mein Herz ist entglommen,

dir treu zugewandt,

du Land der Frei’n und Frommen,

du herrlich Hermannsland!

Du Land, reich an Ruhme,

wo Luther erstand,

für deines Volkes Tume

reich ich mein Herz und Hand.

Will halten und glauben

an Gott fromm und frei,

will, Vaterland, dir bleiben

auf ewig fest und treu.

Ach Gott, tu erheben

mein jung Herzensblut

zu frischem freud’gen Leben,

zu freiem frommen Mut.

Lass Kraft mich erwerben

in Herz und in Hand,

zu leben und zu sterben

fürs heil’ge Vaterland!

Frankreichs Ziel, mit dem Rhein eine natürliche Staatsgrenze im Osten zu haben, war infolge des Pfälzischen Erbfolgekriegs (1688–1697) unter Ludwig XIV. (1638–1715) nur bedingt und unter Napoleon um 1800 nur vorübergehend erreicht worden; zumindest was den Rheinverlauf ab Karlsruhe rheinabwärts anbelangt, hatte der Wiener Kongress diesem Ansinnen ein Ende bereitet. Doch 1840 gab es erneut in Frankreich unter der Regierung von Adolphe Thiers (1797–1877) Bestrebungen, das Territorium bis an den Rhein auszuweiten, den französischen Einfluss Richtung Osten, aber auch im Mittelmeer zu verstärken.

Als Reaktion auf die als »Rheinkrise« bezeichneten deutsch-französischen Spannungen entstanden deutscherseits nationalistisch-patriotische Lieder wie das »Rheinlied« (»Sie sollen ihn nicht haben, den freien, deutschen Rhein, bis seine Flut begraben des letzten Manns Gebein«) von Nikolaus Becker (1809–1845) und »Die Wacht am Rhein«, 1840 von Max Schneckenburger (1819–1849) getextet:

Es braust ein Ruf wie Donnerhall,

Wie Schwertgeklirr und Wogenprall:

Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!

Wer will des Stromes Hüter sein?

Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein,

Fest steht und treu die Wacht am Rhein!

Durch Hunderttausend zuckt es schnell,

Und Aller Augen blitzen hell,

Der deutsche Jüngling, fromm und stark

Beschirmt die heilge Landesmark.

Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein,

Fest steht und treu die Wacht am Rhein!

Er blickt hinauf in Himmelsaun,

Wo Heldengeister niederschaun,

Und schwört mit stolzer Kampfeslust:

»Du Rhein bleibst deutsch wie meine Brust.«

Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein,

Fest steht und treu die Wacht am Rhein!

»Und ob mein Herz im Tode bricht,

Wirst du doch drum ein Welscher nicht;

Reich wie an Wasser deine Flut

Ist Deutschland ja an Heldenblut.«

Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein,

Fest steht und treu die Wacht am Rhein!

»So lang ein Tropfen Blut noch glüht,

Noch eine Faust den Degen zieht,

Und noch ein Arm die Büchse spannt,

Betritt kein Feind hier deinen Strand.«

Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein,

Fest steht und treu die Wacht am Rhein!

Der Schwur erschallt, die Woge rinnt,

Die Fahnen flattern hoch im Wind:

Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!

Wir Alle wollen Hüter sein!

Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein,

Fest steht und treu die Wacht am Rhein!

Dieser Text provozierte Erwiderungen: 1840 dichtete Alfred de Musset (1810–1857) »Le Rhin allemand«:

Wir haben ihn gehabt, den deutschen Rhein.

In unserm Glas sahn wir ihn funkeln.

[…]

Lasst friedlich fließen euern deutschen Rhein.

Es spiegele sich geruhsam wider

Der Dome gotisches Gestein.

Doch hütet euch, durch trunkne Lieder

Von ihrem blutgen Schlaf die Toten zu befrein.

Versöhnlicher klang das Ende seines Gedichts »Marsaillaise de la paix«, das Alphonse de Lamartine (1790–1869) 1841 vorlegte (»Fließe frei und erhaben zwischen deinen weiten Ufern, Rhein, du Nil des Westens und Trinkschale der Nationen! Und nimm mit dir fort Trotz und Ehrgeiz der Völker, die an deinen Ufern lagern und aus deinen lebendigen Wassern schöpfen.«).

Die Haltung Victor Hugos (1802–1885) dagegen war zwiespältiger. Der heutzutage auch in Deutschland vielzitierte und verehrte französische Dichter war ein Fürsprecher der politischen Forderung. Seine Feststellung lautete lapidar: »Wir befinden uns auf dem linken Rheinufer, d. h. in Frankreich, so wie man auf dem rechten Ufer in Deutschland ist.« Und im Schlussteil seiner 1842 erschienenen Rheinreise, steht:1

»Die Lösung besteht darin, jeden Anlass für Hass zwischen den beiden Völkern abzuschaffen, die Wunde zu schließen, die uns 1815 an unserer Flanke zugefügt wurde, die Spuren einer heftigen Reaktion auszulöschen, Frankreich zurückzugeben, was Gott ihm geschenkt hat: das linke Rheinufer.«

Erst mit der schwungvollen, marschähnlichen Melodie von Carl Wilhelm (1815–1873), Dirigent der Krefelder Liedertafel, und damit erst nach dem Tode des Dichters, erhielt »Die Wacht« eine größere Aufmerksamkeit. Die Komposition entstand 1854 anlässlich der Silberhochzeit von Prinz Wilhelm von Preußen (1797–1888), dem späteren Kaiser Wilhelm I., und Prinzessin Augusta (1811–1890). Im Kaiserreich häufig bei offiziellen Anlässen gespielt, war die »Wacht am Rhein« gleichsam eine Hymne, die in Konkurrenz zu »Heil dir im Siegerkranz« stand. Doch so populär ihre Zeilen waren, so fehlte in ihnen jeglicher Hinweis auf die Hohenzollern, als offizielle Nationalhymne konnte sie daher nicht in Betracht kommen. Der Liedtitel entspricht einem Programm und einem symbolträchtigen Motto in der militärischen Auseinandersetzung mit Frankreich, er kündet von Deutschlands Macht und Stärke. Fünf der sechs Strophen dieses martialischen Vaterlandliedes finden sich auf einem Relief auf der Südseite des 1883 eingeweihten Niederwalddenkmals (Germania) bei Rüdesheim. So wundert es nicht, wenn in den folgenden Jahren rechts des Rheins Reiseandenken, später auch Postkarten oder Löffel vermarktet wurden, auf denen zu lesen war: »Der Rhein – Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze.«


Abb. 2: »Die Wacht am Rhein«, Relief am Niederwald-Denkmal (Germania), Postkarte um 1900.

Nur wenige Monate nach der Reichseinigung wurde dem Komponisten Carl Wilhelm am Ende seines Lebens eine besondere Ehre zuteil. Aufgrund der Bitte bzw. eines Appells des Deutschen Sängerbundes an den Reichskanzler Otto von Bismarck (1815–1898) vom 26. Mai 1871 sollte der Verfasser der »Wacht am Rhein« eine »Ehrenschuld des Gesamtvaterlandes« erhalten (»Das Vaterland darf aber den Tonsetzer eines eminent-nationalen Gesanges, der ganz Deutschland zu der großartigsten Erhebung, zu den herrlichsten Siegen mitentflammt, nicht darben, nicht in Sorgen den kurzen Lebensabend verkümmern lassen.«). Einen Monat später erhielt der Komponist ein Schreiben Bismarcks:2

»Sie haben durch die Komposition von Max Schneckenburgers Gedicht ›Die Wacht am Rhein‹ dem deutschen Volke ein Lied gegeben, welches mit der Geschichte des eben beendeten, großen Krieges untrennbar verwachsen ist. Entstanden zu einer Zeit, wo die deutschen Rheinlande in ähnlicher Weise wie vor einem Jahre von Frankreich bedroht schienen, hat ›Die Wacht am Rhein‹ ein Menschenalter später, als die Drohung sich verwirklichte, in der begeisterten Entschlossenheit, mit welcher unser Volk den ihm aufgedrungenen Kampf aufgenommen und bestanden hat, ihren vollen Anklang gefunden. Ihr Verdienst, Herr Musikdirektor, ist es, unserer letzten großen Erhebung die Volksweise gefunden zu haben, welche daheim, wie im Felde dem nationalen Gemeingefühle zum Ausdruck gedient hat. Ich folge mit Vergnügen einer mir von dem Geschäftsführenden Ausschuss des Deutschen Sängerbundes gewordenen Anregung, indem ich der Anerkennung, welche Ihnen von allen Seiten zu Teil geworden ist, auch dadurch Ausdruck gebe, dass ich Sie bitte, die Summe von Eintausend Talern aus dem Dispositionsfonds des Reichskanzleramtes anzunehmen. Ich hoffe, dass es mir möglich sein wird, Ihnen alljährlich den gleichen Betrag anbieten zu können. Die Reichshauptkasse ist angewiesen, Ihnen die für das laufende Jahr bestimmte Summe alsbald gegen Quittung auszuzahlen.

Der Reichskanzler – Bismarck«

Den geschichtlichen Hintergrund – die »Rheinkrise« von 1840 zwischen Frankreich und dem Deutschen Bund, hier nur kurz angerissen – muss man kennen, um die Bedeutung dieser Lieder zu verstehen. In demselben Kontext nämlich entstand das »Lied der Deutschen« von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798–1874).

Verbreitung fanden diese nationalistisch-patriotischen Lieder zunächst vor allem über Kommersliederbücher der Burschen-, Studenten- und Turnerschaften, schon bald gehörten sie zum Repertoire von Männerchören. Nicht immer war der Originaltext abgedruckt, die Bearbeiter und Komponisten erlaubten sich gelegentlich Variationen. »Die Wacht am Rhein« war Gegenstand des Musik- und Deutschunterrichts, an altsprachlichen Gymnasien wurde sie sogar ins Lateinische, Altgriechische und Hebräische übersetzt.3 Das Lied war allgegenwärtig, im häuslichen Umfeld und in Kneipen und bei vielen anderen Anlässen wurde es gesungen, es erklang aus Spieldosen und Musikautomaten und bei Volksfesten aus der Drehorgel. Sogar Wirtshäuser und Hotels gaben sich diesen Namen. Das Lied wurde so oft geträllert und geleiert, dass es manchmal schon nicht mehr zu hören war. Der Widerwille gegenüber der Omnipräsenz äußerte sich auch in parodistischen Umdichtungen, z. B.:4

Die Wacht am Rhein,

das ist der Titel des Liedes,

das im Schwange geht.

Es ist ein ganz probates Mittel

für einen, der sonst nichts versteht.

Darum, bei Mond und Sonnenschein

sing ich nur stets die Wacht am Rhein,

die Wi-Wa-Wacht am Rhein, die Wacht am Rhein.

Eine weitere Neuschöpfung in drei Strophen erschien unter dem Titel »Die Freiheitswacht«:5

Es geht durchs Land ein Schrei der Not:

Des Volkes Freiheit ist bedroht.

Viel dunkle Raben fliegen schon

und krächzen laut: Reaktion!

D’rum deutsches Volk, sei auf der Hut,

schirm’ fest und treu dein höchstes Gut,

d’rum deutsches Volk, mein Volk, sei auf der Hut,

schirm’ fest und treu, ja treu dein höchstes Gut …

Lieder dienen der Identifikation, der Verständigung, der Gemeinschaftsbildung, mit ihnen grenzt man sich von anderen ab. Diese Funktion übernahmen im Ersten Weltkrieg das »Lied der Deutschen«, ebenso die »Wacht am Rhein«, wie folgende Aussagen belegen. Danach allerdings, mit dem Ende des Kaiserreichs, hatte die »Wacht« weitgehend ausgedient.

Aus dem Vorwort zum Liederbuch »Unsere Feldgrauen. Marsch- und Lagerlieder«, 1914:6

»Mit dem ersten Tag der Mobilmachung war ›Die Wacht am Rhein‹ wieder mit einem Male in aller Munde. Unter ihren trotzigen, siegesgewissen Klängen sind unsere Krieger blumengeschmückt aus der Heimat ins Feld gezogen; in dröhnendem Takte sind sie mit diesem stolzen Sang in die feindlichen Städte eingezogen […]. Wie sich unsere Feldgrauen da draußen mit einem munteren Sang über die harten Anstrengungen der Märsche hinweghalfen, sich die kurzen Stunden der Rast am Lagerfeuer verschönern, so wollen auch wir daheim nicht stumm bleiben und in den Gesang unserer Lieben im Felde froh und zuversichtlich miteinstimmen.«

Auch Adolf Hitler (1889–1945) erinnerte sich rückblickend an die »Wacht am Rhein«, als er im Herbst 1914 mit dem Truppenzug auf dem Weg zum »beginnenden Heldenkampf« an der Westfront durch Bingen kam und die »Germania« erblickte:7

»Und so kam endlich der Tag, an dem wir München verließen, um anzutreten zur Erfüllung unserer Pflicht. Zum ersten Male sah ich so den Rhein, als wir an seinen stillen Wellen entlang dem Westen entgegenfuhren, um ihn, den deutschen Strom der Ströme zu schirmen vor der Habgier des alten Feindes. Als durch den zarten Schleier des Frühnebels die milden Strahlen der ersten Sonne das Niederwalddenkmal auf uns herabschimmern ließen, da brauste aus dem endlos langen Transportzuge die alte Wacht am Rhein in den Morgenhimmel hinaus, und mir wollte die Brust zu eng werden.«

Rund 25 Jahre später, zu Beginn des Westfeldzugs (Mai 1940), leitete der Großdeutsche Rundfunk die Sondermeldungen über die militärischen Erfolge der Wehrmacht in Frankreich mit der charakteristischen »Frankreichfanfare« ein; die ersten acht Töne entsprachen der »Wacht am Rhein«. Ein Jahr später trat an ihre Stelle die »Russlandfanfare«. Doch ganz ausgedient hatte der bekannte Titel nicht; im Dezember 1944 verwendete die Wehrmacht die vier eingängigen Wörter als Decknamen für die Ardennenoffensive.

Sogar in dem US-amerikanischen Filmklassiker »Casablanca« (1942) mit Humphrey Bogart (1899–1957) und Ingrid Bergman (1915–1982) ist das Lied zu hören: Nachdem die deutschen Offiziere in »Ricks Bar« die »Wacht am Rhein« angestimmt haben, animiert der Protagonist die Kapelle dazu, die Marseillaise zu spielen. Die anderen Gäste stimmen ein und übertönen die »Wacht am Rhein« voller Enthusiasmus. Bei dieser direkten Gegenüberstellung merkt man, wie sich beide marschartigen Melodien ähneln. Auch in anderen Literaturverfilmungen, die im Kaiserreich angesiedelt sind, ist das Lied auszugsweise zu vernehmen, etwa in »Im Westen nichts Neues« (1930, 1979) nach dem Roman von Erich Maria Remarque (1898–1970) oder in der Serie »Berlin Alexanderplatz« (1980) von Rainer Werner Fassbinder (1945–1982). Ferner gehört es zur bemerkenswerten musikalischen Untermalung der Schlussszene des Films »Der Untertan« (DDR, 1951): Bei Enthüllung des Kaiser-Wilhelm-Denkmals im Sturm und Gewitterregen erklingen Melodiefetzen der »Wacht am Rhein«, des »Horst-Wessel-Liedes« und der Sondermeldungsfanfare des Großdeutschen Rundfunks; damit blickt die Szenerie – im Gegensatz zur Romanvorlage von Heinrich Mann (1871–1950) – auch auf den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg.

Im Rückblick von 150 Jahren interpretierte der Autor Jörg von Uthmann (geb. 1936) die »Wacht am Rhein« auf seine Art:8

»Wie sich die Zeiten ändern! Wenn heute vom Rhein die Rede ist, denkt jeder sofort an Chlorbenzol und tote Fische. Vor hundertfünfzig Jahren sang das deutsche Volk mit dem Bonner Geschichtsschreiber Nikolaus Becker ›Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein!‹ Sie – das war nicht die chemische Industrie, das waren die Franzosen. Auf dem Wiener Kongress hatte Frankreich seine linksrheinischen Eroberungen herausgeben müssen. Wirklich abgefunden mit dem Verlust hatte es sich jedoch nicht. 1840, nach einer schweren diplomatischen Schlappe im Nahen Osten, suchte Premierminister Thiers die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit abzulenken. Er verlangte die Rheingrenze und war bereit, dafür in den Krieg zu ziehen. Zwar blitzte er bei seinem friedfertigen König Louis Philippe ab und musste zurücktreten. Aber das Unglück war geschehen: Die alte Wunde begann wieder zu bluten.

Während die Pariser Presse in schrillen Tönen nach einer Revision des schmachvollen Friedens schrie, machten sich in Deutschland die Dichter ans Werk. Eine unvorstellbare Massenproduktion vaterländischer Lyrik setzte ein. Beckers Rheinlied war nur das bekannteste; es wurde nicht weniger als hundertmal in Musik gesetzt. Der Germanistik-Professor Hoffmann von Fallersleben unterlegte der alten Kaiserhymne einen neuen Text – das Deutschlandlied. Derweil beschloss man in Köln, am Dom – dem Symbol der unvollendeten deutschen Einheit – die im Mittelalter unterbrochenen Bauarbeiten wiederaufzunehmen. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. legte den Grundstein und hielt dabei eine antifranzösische Rede.

In diesem überhitzten Klima wollte auch der schwäbische Hütteningenieur Max Schneckenburger nicht zurückstehen. In einer Eisengießerei im fernen Bern küsste ihn die patriotische Muse. Er griff zur Feder und brachte ›Die Wacht am Rhein‹ zu Papier […].

Im Krieg 1870/71 stieg ›Die Wacht am Rhein‹ zur inoffiziellen deutschen Nationalhymne auf und blieb es bis zum Ende des Kaiserreichs. Sie zur offiziellen deutschen Nationalhymne zu erheben, zögerte der Berliner Hof, da – wie ›Meyers Großes Konversationslexikon‹ von 1908 feinsinnig anmerkt – ›dieselbe wegen ihrer antifranzösischen Spitze nicht bedingungslos für die internationale Repräsentation geeignet‹ schien. Mit dem amtlichen Liedgut hatten die Deutschen, wie man sieht, schon damals ihre Not […]«.

1 S. Victor Hugo: Rheinreise, Frankfurt/M. 1982, S. 301 f. (Nachwort von Friedrich Wolfzettel). Heutige, gekürzte Ausgaben der »Rheinreise« verzichten i. d. R. auf die Veröffentlichung derartiger Äußerungen Hugos.

2 Zit. nach Franz Josef Ewens (Hg.): Das Deutsche Sängerbuch. Wesen und Wirken des Deutschen Sängerbundes in Vergangenheit und Gegenwart, Dortmund 1930, S. 28 f.

3 S. Georg Scherer/Franz Lipperheide (Hg.): Die Wacht am Rhein. Das deutsche Volks- und Soldatenlied des Jahres 1870, Berlin 1871.

4 Abgedruckt in: Max Kegel (Hg.): Sozialdemokratisches Liederbuch, 5. Auflage, Stuttgart 1896, S. 41.

5 Kommission des Demokratischen Vereins in München (Hg.): Demokratisches Liederbuch zum Gebrauch der Volksvereine, Stuttgart 1898, S. 15.

6 Unsere Feldgrauen. Marsch- und Lagerlieder, Leipzig 1914, (Geleitwort) o. S.

7 Adolf Hitler: Mein Kampf, München 1933, S. 180.

8 Jörg von Uthmann: Poetische Frucht einer Nahostkrise in: Marcel Reich-Ranicki (Hg.): 1000 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen, Frankfurt 1994, Bd. 4, S. 381 f.

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