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Kapitel 2 Der Flug
ОглавлениеZwei Tage später wartete Markus Müller vor der Dienstlimousine seines Chefs und schaute auf das protzige Hauptgebäude, das von den hochmodernen Kesselhäusern und Abfüllstraßen der Schippchen-Brauerei umschlossen wurde. Der gesamte Bau wirkte sehr modern, fast schon futuristisch. Vier riesige glänzende Kessel rahmten das zehn Stockwerke hohe Hauptgebäude ein. Das Ganze wirkte auf unbefangene Betrachter wie eine Mischung aus den Startrampen von Cape Canaveral und dem stillgelegten Raumschiff Enterprise.
Stefest hatte seine Brauerei zu einem Ereignis gemacht. Täglich kamen Touristengruppen und wurden durch das Biermuseum und die Abfüllanlagen geführt. Stefest schien vom Schicksal auserwählt, Chef zu sein und auch so auszusehen. Folgerichtig baute er auch so. Nun aber holte der akademische Trinkerfreund zum ganz großen Schlag aus, nämlich den ultimativen Erlebnispark für alle Freunde von Hopfen und Malz zu schaffen.
Müller erfuhr von diesem Vorhaben erst nach seiner Einstellung. Die Perspektive, dort leitender Manager zu werden, steigerte seinen Ehrgeiz in bislang nicht gekannter Intensität. Für ihn gab es keine bessere Chance, einen Führungsposten zu erklimmen. »Markus Müller, Head of Beer-Park-Development« würde auf seiner Visitenkarte stehen. Nichts durfte dieses Ziel gefährden, das stand fest.
Während er immer noch wartete, übte er einen kleinen Kartentrick, das einzige Hobby, das selbst von Maybritt geduldet wurde. Markus war seit Jahren Hobby-Zauberer, und das so erfolgreich, dass er als »Samson der Magier« ab und an kleinere Auftritte auf Partys befreundeter Kollegen absolvierte. Seine verblüffenden Zaubertricks begeisterten sogar seinen Chef.
Ernst Stefest kam aufgekratzt und lachend mit zwei großen Koffern die Treppen herunter.
»Morgen, Müller!«
»Guten Morgen, Herr Dr. Stefest.«
Stefest wuchtete sein Gepäck in den Kofferraum. Anschließend stellte Müller seinen Koffer hinein.
»Sie werden sich wahrscheinlich seit vorgestern fragen, warum wir schon drei Stunden vor Abflug losfahren?«
Müller druckste griesgrämig herum. Diese Frage hatte ihn die letzten beiden Nächten am allerwenigsten beschäftigt. Maybritt, seine Lebensabschnittspartnerin mit Niveau, sorgte stattdessen für Albträume. Ihr Zitate-geladener Abgang aus der gemeinsamen Wohnung erfüllte den Anspruch einer abendfüllenden Theaterinszenierung. Müller kannte jetzt ein gutes Dutzend Ansichten aus der Weltliteratur zum Thema Vernachlässigung der Frau bei gleichzeitigem Abgleiten in tiefste Kulturlosigkeit. Auslöser für ihren lautstarken Wutausbruch war Müllers größter und dümmster Fehler: Er erwähnte nur beiläufig den Ort El Arenal.
Maybritt schluckte kurz, wenig später traf ihn ein Strahl schlimmster Verachtung aus ihren Augen, und er hatte vorläufig das Recht verwirkt, an ihre Seite zu leben. Es dauerte nur noch wenige Augenblicke, bis die Türen so fürchterlich ins Schloss knallten, dass sich einige Teile des Stucks gleich mit verabschiedeten. Der sexuelle Notstand war damit erst einmal unbefristet verlängert worden. Und nun kam Stefest mit dieser Frage.
»Sie werden sich was dabei gedacht haben, Chef«, antwortete Müller, noch seinen Gedanken nachhängend. Beide setzten sich in den Fond des Mercedes.
»Sehr richtig. Fahren Sie in die Stadt, Bräsig«, kommandierte Stefest seinen Fahrer.
»Haben Sie jemals in Ihrem Leben ein Hawaii-Hemd getragen, mein lieber Müller?«, fragte Stefest und schaute schon wieder in ungläubige Augen.
»Nein, natürlich nicht!«, entrüstete sich der Gepeinigte.
»Dann werden Sie sich jetzt, bitte, welche kaufen.«
»Muss das sein?«, protestierte Müller mutig.
»Ja. Drei Stück, und zwar eine Nummer größer, als Sie gewöhnlich Ihre Hemden tragen. Sie werden sehen, ich meine es nur gut mit Ihnen«, lächelte Stefest vielsagend.
Eingekleidet mit bunten und zu großen Hawaii-Hemden, von denen Müller das unauffälligste – es hatte eine Farbe weniger als die anderen – gleich anbehielt, betraten die beiden Dienstreisenden die Abflughalle.
*
»Großer Gott!«, murmelte Müller fassungslos beim Anblick einer Reisegruppe mit dem überdimensionierten Schild »Wir sind vom o.b.-Team. In der Regel immer voll«. Stefest grinste. »Ich wollte Ihnen das T-Shirt ›Saufen, Ficken, Bumsen‹ ersparen. Es würde wahrscheinlich doch nicht ganz Ihrer Vorstellung von einer Dienstreise entsprechen.«
Müller war platt. Dieser Stefest schien mit allen Wassern gewaschen zu sein. Die Reisegruppe bestand zu 90% aus Trägern irgendwelcher Slogans, die allesamt recht eindeutige Aussagen zum Thema »Sex und Alkohol« machten.
»›Saufen, Ficken, Bumsen‹ bringt es eigentlich am besten auf den Punkt«, dachte Markus, nachdem er alle T-Shirts betrachtet hatte, und ertappte sich dabei, wie sein Gesicht rot anlief. Kein Mensch außer mir wird rot bei solchen Gedanken, ärgerte er sich und beschloss, ab sofort etwas in seinem Leben zu ändern. Gleich nach der Dienstreise wollte er damit anfangen. Zunächst mal allein mit einem energischen Auftritt vor dem Spiegel, bekleidet mit so einem merkwürdigen T-Shirt.
Müller schaute kurz zum Rollfeld, als sie die Zollabfertigung durchschritten, und hoffte völlig zu Unrecht: »Irgendwie wird es sich wohl doch in Grenzen halten.«
Die Reisegruppe hinter ihnen war schon bester Laune, denn gerade hatte sich ein dicker Spaßvogel mit Schirmmütze, leuchtend roten Backen und dem T-Shirt »El Arenal – Wir kommen (überall)!« unter dem Gejohle seiner Kegelrunde einen Flachmann aus dem vorderen Teil seiner Hose ziehen lassen. Der Mann vom Zoll grinste notgedrungen, der Rest lachte nicht mehr, sondern brüllte und stand kurz vor einem epileptischen Anfall ob des gelungenen Streichs.
Stefest zog Müller zum Bus, der sie zur Maschine bringen sollte. »Mein lieber Müller, ich glaube, Sie haben jetzt begriffen, was Sie erwartet. Wenn wir erfolgreich sein wollen, müssen Sie sich – wenigstens nach außen hin – etwas gelassener geben. Entschuldigung, aber im Augenblick sehen Sie aus, als ob man Ihnen drei Tage die Windeln nicht gewechselt hätte.«
»Das geht ja noch«, antwortete Müller. »Ich fühle mich so, als ob sie schon seit fünf Tagen voll wären.«
Beide lachten, bevor Stefest noch ein überraschendes Angebot nachschob: »In solchen Gruppen duzen sich alle. Deswegen ist es schlecht, wenn wir uns siezen und Sie mich ständig mit Herr Doktor anreden. Wir sollten – streng dienstlich natürlich – während dieser Reise Du zueinander sagen. Ernst.« Stefest streckte die Hand aus. Müller ließ überrascht seinen Aktenkoffer fallen und schlug ein: »Markus.«
*
Hugo Schnaller testete unterdessen die Gesangskünste seines neuen Königs von Mallorca. Er zog schweren Schrittes mit seinem Jungstar durch die Schinkenstraße. Um diese Zeit war noch nicht viel los, und die Stände um sie herum waren halb leer. Hugo stellte die Gitarre ab, bestellte sich eine Currywurst, verspeiste sie mit wenigen Happen und legte dem Wirt großzügig zehn Euro auf den Tresen.
»So, Ernie. Du gibst jetzt ein Spontankonzert. Ich spiele ›Zwanzig nackte Friseure‹, einer meiner besten Songs der letzten Jahre, und danach geht’s weiter mit einem Medley: ›Schallalla‹, ›Ein Bett im Kornfeld‹, ›Über uns ist nur der Himmel‹ und ›Ich war noch niemals in New York‹. Packst du das? Alles Hits der Woche. Versuch dein Publikum mitzureißen. Der alte König hat auch so angefangen. Da musst du durch.«
Hugo stimmte die Gitarre und legte los. Ernie trällerte wie ein wahrer König, nur blieb er nicht allein. Neben ihm platzierte sich plötzlich ein ziemlich angesoffener junger Mann mit einem Südafrika-WM-Trikot und einem Schland-Hut.
Hugo schwante Böses, er versuchte noch, den ungebetenen Special Guest mit einem beruhigenden Grinsen und verneinenden Kopfbewegungen vom Singen abzuhalten, was ihm jedoch nicht gelang. Der Typ neben ihm sang besser, lauter, kannte den Text exakt, verpasste keinen Einsatz und begeisterte seine feiernden Kumpels.
Da Jubel nun mal Jubel war, ließ Hugo seinem Schützling wenigstens den Beifall als zweite Stimme genießen, bevor er mit Hinweis auf dessen nächsten Auftritt die Darbietung abbrach.
Ein paar Straßen weiter machte er seinem Ärger Luft.
»Mann, Ernie! Da muss man mal ordentlich losbrüllen. Wenn ich dem Typen nicht meine Visitenkarte zugesteckt hätte, würde ich jetzt eins schlechtes Gewissen bekommen. Profi ist Profi, und ich erkenne Talente.«
Als Ernie etwas ernüchtert seinen Manager ansah, lenkte der ein. »Brauchst keine Angst zu haben. Wir haben Vertrag. Ich baue meine Leute immer bis zum Schluss auf.«
Sie trotteten auf der belebten Strandpromenade nebeneinander her.
»Das Gesicht war es, das blöde Gesicht. Der hat kein Stargesicht. Du hast eins«, murmelte Hugo, der insgeheim sehr wohl wusste, dass ihm in den letzten zehn Jahren noch nie ein solches Stimmtalent begegnet war.
»Können wir nicht auch was mit RTL II machen?«, fragte Ernie unvermittelt.
Hugo erregte sich fürchterlich. »Was denn, willste jetzt ein Café aufmachen oder eine Damenboutique? Junge, du sollst singen, schön sein und dummes Zeug erzählen, den Rest übernehme ich. RTL II! Die machen doch auch nur einen auf naive Mucke. Bei der Katzenberger stehen sogar die Eltern in der Küche, weil die Schlunze ihren IQ erst stundenlang aufbauen muss, bevor sie ein Rezept lesen kann. Mann, das Geschäft macht hart. Natürlich ist Dani so, wie ein echter RTL II-Produzent sich seinen Star wünscht. Ich muss mal den Henking anrufen, der macht den Obermotz für die Kochshow. Da könntest du mal deinen dicken Löffel in die Töpfe hängen!«
»Wie meinst du das?«, fragte Ernie entsetzt.
»Du wirst doch noch irgendein blödes Gericht kochen können, das diese dicke Dumpfnudel Calli verschlingt und mit sechs Punkten belohnt. Der frisst sich reich, dieser Zocker. Nicht, dass ich neidisch wäre, aber der wird immer fetter und wird mit Sendungen belohnt. Und ich?«
»Vielleicht sollte ich abnehmen für RTL II«, versuchte Ernie einen echten Alternativvorschlag anzubringen.
Hugo blieb abrupt stehen. »Wer will denn das bitte sehen? Nicht gut, gar nicht gut. Schlagerfans wollen feiern und schlemmen. Umsatz, mein Lieber, Umsatz. Wir müssen ins ›Oberbayern‹.«
Hugo Schnaller tippte die Nummer des Produzenten in sein iPhone ein. Ernie musste in die Kochshow, so viel war für ihn klar. Wenn er dort ganz nebenbei Hugo Schnallers neuste Komposition »Unter der Schürze nackt« singen würde, wäre das schon die halbe Doku-Soap.
*
Ernie Donner öffnete die Apartmenttür und schaute sich um.
»Wo wohnst du?«, fragte er seinen Manager.
»Nebenan.«
»Wo nebenan?«
»Im Hilton Resort.«
Ernie schaute ihn mit großen Augen an. »Und warum wohne ich nicht auch dort, sondern in dieser Bruchbude?«
»Weil deine Fans in solchen Bruchbuden wohnen. Du musst ein Gefühl für deine Fans entwickeln. Verstehst du.«
»Nein, verstehe ich nicht. Ich bin doch der Star.«
Der dicke Hugo schnaufte. Allmählich ging ihm dieses Möchtegern-Sternchen aber gehörig auf die Brieftasche.
»Ernie, ich habe dich entdeckt. Ich bin der Macher. Ich habe die größten Schlagerstars betreut.«
»Tony Marschall während des Entzugs, Bata Illic beim Deutschkurs, Roberto Blanco beim Einbürgerungstest?«, fragte Ernie zurück.
»Ernie, wer schreibt dir die Gags? Ich will mal was klarstellen: Man sieht gleich, dass du keine Ahnung hast. Tony Marschall würde jede Art von Entzug ablehnen, weil er sonst selbst nicht mehr wüsste, wer er ist. Bata muss mit Akzent singen, weil ihn sonst keiner mehr erkennen würde. Roberto kann nicht zum Einbürgerungstest, weil die bei der Behörde anschließend nicht gern Schwangerschaftsvertretungen suchen. Ich bin der Manager, und wir haben Vertrag, wie der gute Poldi sagen würde. Wenn ich im Hilton wohne, hat das auch etwas mit meinen Netzwerken zu tun.«
»Meinst du die Croupiers oder die Nutten?«
»Okay, Ernie …« Hugo atmete tief durch. »Du lernst jetzt erst mal die Texte meiner zwei neuen Mega-Songs auswendig.
›Ich war noch niemals in Marbella‹ und ›Es fährt ein Taxi nach Calla de Major‹.«
»Diese Titel kommen mir verdammt bekannt vor«, schwante Ernie nichts Gutes.
Aber Hugo zuckte nur mit den Schultern. Er wusste, dass sein kleines talentiertes Sternchen ohnehin keine Wahl hatte, aber das musste er ihm ja nicht gleich auf die Nase binden.
»Ernie, ich will dich trällern hören, wenn ich nachher wieder vorbeikomme. Wenn alles gutgeht, buche ich uns heute für einen wunderbaren Auftritt in der MegArena ein. Dann lässt du es krachen. Von da aus werden wir alles aufrollen.«
Ernie packte lustlos seinen Koffer aus und summte die neuen Songs. Der misslungene kleine Auftritt hatte ihn doch getroffen. Hugo wollte auch nicht die Adresse von Drews rausrücken. Wenigstens beobachten wollte er ihn mal heimlich, bevor er den alten König von Mallorca auf der Bühne treffen würde.
Nach dem Auspacken schaute er sich »Sturm der Liebe«, »Hanna« und »Marienhof« an. Danach empfing Ernie seinen Manager mit derart echter Schmalzigkeit, dass auch Hugo überzeugt war, Ernie habe nun den richtigen emotionalen Kontakt zu seiner Zielgruppe gefunden.
»Junge, das klingt so, wie es klingen muss, um die kleinen Muschis an die Downloads und CDs zu treiben. Nur wenn du richtig ankommst, wirst du der neue König von Mallorca. Und im Hilton wohnt es sich beschissen, glaub mir, ich wäre auch lieber in deiner Nähe. Aber was nimmt man nicht alles auf sich. Und jetzt der Knaller, wir treten noch nicht auf, aber beim nächsten Mal.«
»Was ist daran ein Knaller?«, fragte Ernie.
Hugo zeigte sich vorbereitet. »Wir bekommen beim nächsten Mal den dritten Auftritt. Nach uns Onkel Jürgen. Diesmal müssten wir anfangen. Danach Möhre und Mickie Krause. Nicht gut, die Masse ist noch nicht so gut drauf für dich. Old School. Alles zum richtigen Zeitpunkt.«
»Okay, dann warten wir eben noch die zwei Tage.«
Es klopfte an der Tür. Ohne dass die beiden etwas sagten, schob sich die Tür langsam auf. Ein junges Mädchen, mit Zöpfen, engen hippen Klamotten, sich üppig durch das T-Shirt wölbenden Brüsten und einem netten Lächeln erregten Ernies Interesse aufs Äußerste.
»Autogramme erst nach dem Auftritt«, versuchte Hugo möglichst clever zu reagieren, da er nicht wusste, wer die Fremde war und was sie wollte. Was er aber sofort begriff: Es drohte Gefahr, dass er schon bald nicht mehr die alleinige Herrschaft über Ernie besitzen würde; denn in der Tür stand etwas Besonderes.
*
Markus Müller und Dr. Ernst Stefest lernten inzwischen die Sitten der Ballermänner besser kennen. Kaum war der Touristenbomber in der Luft, kreisten die ersten Flaschen an Bord. Irgendjemand hatte die blonde Stewardess nach ihrem Vornamen gefragt, und die verriet unglücklicherweise auch noch, dass sie Uschi hieß. Das sollte ihr schon bald leidtun.
Die Stewardessen versuchten mit zwei Durchsagen, den vom Bordverpflegungsplan abweichenden Alkoholkonsum zu unterbinden, und wurden prompt mit Sprechchören auf ihre eigentliche Verpflichtungen verwiesen. Dreimal intonierte ein Grüppchen aus Oberhausen den Klassiker aller Kindergeburtstage: »Wir haben Hunger, Hunger, Hunger und gaaaaanz viel Durst, Durst, Durst …«, woraufhin der Rest der Passagiere sich lauthals einklinkte und die Stewardessen in tätige Resignation trieb.
Besonders Uschi hatte unter immer einfallsreicheren Rufen der Passagiere zu leiden: »Was trägt die Uschi unterm Rock? Das weiß nur der schärfste Bock!« zählte da noch zu den harmloseren Einfällen.
Unterdessen zerrte Uschis Kollegin gedemütigt ihren Getränkewagen in den Gang und zischte: »Nächsten Monat mach’ ich Schluss hier, Uschi. Mallorca ist ein Strafkommando. Ich fliege nicht acht Jahre um die Welt, um hier als Anheizerin im fliegenden Barbetrieb zu landen. Dann kann ich auch gleich in einer richtigen Nachtbar anfangen.«
»Übertreib nicht. Wir wollten ihnen das Trinken verbieten, und wir haben verloren, basta.«
»Die Worte einer weisen Blondine von Welt. Hauptsache, dir gefällt’s, Uschi, Muschi … Möchten Sie ein Getränk …?«
Stefest blätterte in seinen Unterlagen, während Müller leicht irritiert das Treiben an Bord beobachtete. Er bewunderte die Gelassenheit, mit der die Stewardessen trotz aller Obszönitäten der Passagiere ihren Job verrichteten. Gleichzeitig fiel sein Blick auf einen offensichtlich weiblichen Hinterkopf, der sich die ganze Zeit noch nicht bewegt hatte – als einziger. Die anderen bemühten sich nach Kräften, mit irgendjemandem auf Teufel komm raus in Kontakt zu kommen. Es sah beinahe so aus, als hätten sie panische Angst, nicht rechtzeitig den richtigen Trink oder Kopulationspartner zu erwischen.
Müller wollte herausfinden, wie die Frau aussah, die inmitten dieses Lärms völlig ungerührt dasaß. Aus reiner Neugierde wollte er am liebsten gleich nach vorn auf die Toilette gehen, um auf dem Rückweg das Gesicht dieser Frau zu sehen, aber vor der Klotür warteten bereits sieben Trinkfeste und sangen voller Inbrunst alte Seemannslieder: »… deine Heimat ist das Meer, deine Freunde sind die Steeerne …«
Stefest kommentierte diesen Auftritt belustigt: »Jetzt müsste sich der Kapitän mit einer Schiffsglocke melden, das wäre perfekte Animation.«
Müller dachte eher an ein Nebelhorn. Inzwischen grölte die Meute »Ein Leben laaaaaaaanngg«, als wäre die komplette Schalker Südkurve in diesem Flieger unterwegs.
»Ich stell’ mich ja ganz schön dusslig an!«, warf sich Müller im Stillen selbst vor. Wäre er Jupp aus der Kegelrunde, würde er einfach zu ihr hingehen und sagen: »Hi, ich bin das Double vom Brad Pitt.« Aber er konnte nicht aus seiner Haut – und Zeit, um vor dem Spiegel zu üben, war jetzt auch nicht mehr. Sollten die anderen ruhig ihre Anmache zelebrieren. Er war sicher, dass ihn der Feuerkopf interessierte – schließlich musste ja auch er etwas für seinen Hormonhaushalt tun –, und eine Rothaarige könnte ihn schon reizen. Vielleicht erst mal rein platonisch, obwohl es in dieser Gesellschaft kaum auffallen würde, wenn sich auch ein sexuelles Interesse ergäbe. Müller beschloss also, sein Interesse vorerst vom Kopf in den Bauch zu verlagern.
Stefest blickte, mit diversen Arbeitspapieren raschelnd, auf: »Mein lieber Markus, welches Produkt würdest du hier an Bord verkaufen, wenn du mit einem Bauchladen durch die Gänge ziehen …?«
Müller fiel ihm schon ins letzte Wort: »Alkohol, Buttons und Gummi-Gimmicks, die etwas mit Sex und Suff zu tun haben.« Stefest hielt anerkennend inne: »Alkohol in welcher Form?«
»Schnaps in kleinen Flaschen«, erklärte Müller nach kurzem Überlegen, »die die Form einer Palme haben, deren Wedel man abdrehen müsste, um an den Schluck ranzukommen. Und ab fünf Flaschen hat der Kunde genug Wedel, um sich einen kleinen Affen leisten zu können. Den bekommt er gratis. Natürlich gibt es viele verschiedene Affen zum Sammeln.«
Stefest nickte: »Das 101-Dalmatiner-Prinzip.«
»Ja, du entschuldigst mich kurz …« Markus wollte flüchten, er hatte keine Lust, auf dem Flug auch noch Prüfungen seines Verkaufstalents ablegen zu müssen. Und außerdem wollte er endlich herausfinden, wem diese rote Mähne gehörte.
Die WC-Schlange der Trinkerblasen hatte sich gerade auf zwei reduziert, als Markus sich dazustellte. Er blieb kurz stehen, sah um sich herum die in laute Gespräche vertieften Strohhüte eines Kegel-Klubs und entging einer bevorstehenden Kontaktaufnahme durch den dicken Spaßvogel vom Zoll nur mit einer radikalen Kehrtwende.
»Einfach zurückgehen, und ich kann ihr in die Augen sehen«, dachte Markus und hörte noch ein kräftiges »Eyyy« des stehen gelassenen Witzbolds, der in einem schwierigen Erinnerungsprozess gerade einen Blondinenwitz aus seinem Kurzzeitgedächtnis kramte und ihn jetzt nicht loswurde, nur weil dieser Typ einfach wieder umdrehte.
Markus kam dem rothaarigen Geheimnis näher und verlangsamte drastisch seine Schritte. Nein, es war aber auch wie verhext! Rotköpfchen kniete nun auf dem Sitz und unterhielt sich mit seinem Hintermann. Als Markus vorbeitippelte, drehte sie sich, mit dem Rücken zu Markus gekehrt, wieder nach vorne. Er setzte sich geplättet zu Stefest. Die ganze Zeit rührt sich die Frau nicht, und ausgerechnet jetzt musste sie sich umdrehen.
»Du musst einen Joker-Schnaps verkaufen«, knüpfte Stefest unvermittelt an seine Überlegungen von eben an. »Unter all den kleinen Flachmännern befindet sich immer ein Joker. Wer ihn durch Zufall erwischt, bekommt drei Fläschchen gratis.«
»Gute Idee«, erwiderte Markus matt. Sein Chef hakte nach: »Nerve ich dich?«
»Nein. So kann man das nicht sagen«, versuchte sich Markus herauszuwinden.
»Daran wirst du dich gewöhnen müssen. Ich bezahle dich auch dafür, dass du dich von mir nerven lässt. Mich wiederum nerven die Banker. Jeder von uns wird von irgendjemandem genervt. Und außerdem: Ein gutes Pils wird in sieben Minuten gezapft.«
Müller stöhnte innerlich. »In sieben Minuten wird ein Pils gezapft« war für seinen Chef die Grundweisheit aller professionellen Pilstrinker. Stefest hatte aus dem Pilszapfen einen Schöpfungsakt gemacht.
Die Maschine setzte zur Landung an. Markus Müller hoffte inständig, dass die beiden hinter ihm sitzenden und vor sich hingluckernden Sonnenbrillenträger, die während des gesamten Fluges kein Wort gesprochen hatten, die Landung ebenfalls mit geschlossener Ladeluke absolvieren würden.