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Kapitel 3 Die erste Nacht
ОглавлениеDas großräumige, marmorierte Flughafengebäude von Palma glich einem Heerlager versprengter Truppen von Touristen, die entweder auf ihre junge Reiseleiterin warteten, die sie auf dem Weg zum Hotel im Zubringerbus begleitete, oder die zum Taxi strömten, um möglichst schnell ihren Zielort zu erreichen.
Dr. Stefest schritt schnurstracks durch die Massen hindurch zum Zubringerbus. Gewitterwolken verdunkelten den Himmel. Es war schwül; dass die Wolken außer Dunkelheit vielleicht auch Regen bringen könnten, wurde rundum allerdings lautstark bezweifelt. Die Reisegruppe machte sich selber Mut. Nur noch ein Stündchen, und Bier- oder Schinkenstraße, MegaPark und MegArena lockten mit kühlen Bierchen und viel Stimmung. Stefest konnte das Bier schon auf seinen Lippen schmecken, auch wenn es nicht aus seiner eigenen Brauerei kam. Müller rannte bemüht hinter seinem Chef her und schaute sich die Touri-Massen genauer an.
»Alles potentielle Kunden für unseren Erlebnispark, Markus. Wahnsinn, diese Massen! Wie viel die trinken können!«
Müller stimmte zu, fühlte sich aber an einen ganz anderen Vergleich erinnert. Sein Studienfreund Herby pflegte beim Anblick eines Bernhardiners oder ähnlich großer Hunde immer zu sagen: »Schau dir diesen Köter an! Wie viel der wohl frisst und was der wohl für große Haufen scheißt!?«
Da Markus derartige Hinterlassenschaften, gleich welcher Größe und Art, zuwider waren, würde er sich nie einen Hund anschaffen. Aber Herby hatte recht und Dr. Stefest auch: Diese Menschenmassen wollten sich amüsieren, und für einen Großteil von ihnen bestand dieses Vergnügen aus 24-Stunden-Partys. Und wenn nur ein Bruchteil davon später in den Erlebnispark der Schippchen-Brauerei käme, hätte er einen sicheren Job.
Nach einer guten Viertelstunde gelangten auch die letzten Mitglieder der Reisegruppe unter infernalischem Gejohle und einem mit stets frischer Begeisterung vorgetragenem »Zicke Zacke, Zicke Zacke, hoi hoi hoi!!!!!« zum Bus. Die Reiseleiterin hakte die Namen ab und verabschiedete sich »Bis später!«, da sie für eine Kollegin noch eine zweite Reisegruppe betreuen müsse.
Stefest und Müller saßen auf den vordersten Plätzen schräg hinter dem Fahrer. Sie sahen voller Ungeduld, wie die letzten Fahrgäste zustiegen. Stefest sagte nichts, denn er lauschte aufmerksam dem Gespräch der beiden Busfahrer, die sich in ihren schon etwas betagten Bussen die Fuhre teilten. Der Brauereichef hatte lange kein Spanisch mehr gesprochen, aber er verstand trotzdem noch jedes Wort.
Miguel – das musste, wie Stefest herausbekam, ihr Busfahrer sein – schlug seinem Kollegen gerade eine kleine Wette vor. Er wollte mit ihm ein Wettrennen fahren. Es ging aber nicht darum, als Erster am Hotel anzukommen. Stefest traute seinen Ohren nicht. Die beiden Mallorquiner vereinbarten nichts anderes als eine Raserei auf der kurvenreichen Strecke, die nur einen Zweck erfüllen sollte: nämlich die angetrunkenen Touristen zum Kotzen zu bringen! »Wer am Ende in seinem Bus die sichtbarsten Spuren vorweisen kann, hat gewonnen. Der Verlierer muss beide Busse reinigen.« So lautete die Abmachung.
Stefest war baff. Das war unglaublich. Dagegen waren die kleinen Streiche der deutschen Ballermänner eine Erholungskur für Herzkranke. Aber jetzt etwas zu sagen wäre sinnlos gewesen. Außerdem gingen ihm einige Schreihälse aus dem Flugzeug mittlerweile selbst auf den Nerv. Erst singen, dann reihern – haha, schönes Motto, dachte Stefest und beschloss, sich einfach auf die Schussfahrt zu freuen. Und sein Marketingmann sah so aus, als ob auch er mit den Strapazen einer Kurvenraserei zurechtkommen würde. Stefest verschwendete also keinen weiteren Gedanken an seine Fürsorgepflicht als Arbeitgeber.
Als die Bustüren schlossen, drehte sich Markus um. Ganz hinten saß sie! Verdammt! In dem ganzen Trubel hatte er den Rotschopf völlig vergessen. Aber das musste sie sein. Bingo!
Sein Gespür hatte ihn nicht getäuscht. Diese Frau hatte was! Sie unterhielt sich gerade mit einem langen Dürren, dessen Sonnenbrille eine Nummer zu klein geraten war. Markus war beruhigt, der Typ hatte gegen ihn keine Chance. Ehe er sich die Frau noch näher anschauen konnte, warf ihn ein Ruck gegen seinen Chef.
»Was geht denn jetzt ab?«
Stefest grinste: »Halt dich lieber gut fest!«
Der Bus raste mit quietschenden Reifen in eine doppelte S-Kurve. Ein wildes Durcheinander und Poltern hinter den beiden Dienstreisenden von der Schippchen-Brauerei ließ darauf schließen, dass Personen, Gepäckstücke und Flaschen ihre Positionen von einem Moment zum anderen ruckartig veränderten. Miguel und seinen vorausfahrenden Kollegen berührte das anscheinend überhaupt nicht. Hilfeschreie und gestammeltes Touristenspanisch waren die letzten gesprochenen Reaktionen aus dem Passagierraum, die ihren Fahrer motivierten, die Kurven noch rasanter zu nehmen und auf gerader Strecke ein paar Überholmanöver zusätzlich zu riskieren.
Bei den Gästen meldete sich nun der im Flugzeug konsumierte Alkohol. Es begann ein hektisches Fingern nach den griffbereit liegenden Kotztüten. Als endlich die ersten röhrenden Laute zu hören waren, grinste Miguel siegessicher. Er hatte die Wette in seinen Augen offensichtlich schon so gut wie gewonnen.
Müller holte tief Luft. »Ernst, was ist das für eine Scheiße hier?«
»Kein Grund, ordinär zu werden, mein Lieber. Hahaha!«
Stefest lachte aus voller Kehle, während der Rest der Fahrgäste versuchte, seinen Mageninhalt in die viel zu kleinen Papiertüten zu kanalisieren; mindestens die Hälfte der Reisenden scheiterten, weil sie in ihrer Panik fieberhaft an den Tütenöffnungen herumrissen, ohne dass sich die aneinanderklebenden Enden auch nur einen Millimeter bewegten. Stefest überlegte, was er an Miguels Stelle getan hätte, um die Wette zu gewinnen: Genau! Die Kotztüten zukleben!
»Wie weit ist es noch?«, fragte Markus entnervt. Er wollte hier einfach nur noch raus.
»Lange kann’s nicht mehr dauern. In dem Tempo brauchen wir höchstens eine Viertelstunde bis Arenal. Wenn es dich beruhigt, Markus, so was habe ich auch noch nicht erlebt«, antwortete Stefest belustigt, der inzwischen ein neues Beobachtungsobjekt ausfindig gemacht hatte. Auch Müller schaute wie gebannt auf den Touristen, der mit gespielter Ruhe und aschfahlem Gesicht versuchte, das kleine Schiebefenster am oberen Teil des Busfensters – eigentlich mehr ein Luftloch – zu öffnen, um seine Fracht elegant an die frische Luft zu befördern. Er formte seine Lippen zu einem Kussmündchen, so dass ihm das eigentlich Unmögliche tatsächlich gelang. Stefest hätte fast Beifall geklatscht.
Im hinteren Teil des Busses allerdings überwältigte diese Meisterleistung eine bislang noch recht standfeste Frau; denn der Fahrtwind klatschte Kussmündchens geballte Ladung ans Fenster, direkt vor den Augen der Standfesten, die nun auch nicht mehr an sich halten konnte. Markus Müller hätte gern die Augen geschlossen, aber die Faszination des Schauspiels war zu groß.
Lichter … ein Hotel … der Bus bremst … Markus dachte nur noch in Fetzen.
Als der Bus schließlich vor der Bausünde aus den 1970er Jahren, die sich »Hotel Kakadu« nannte, zum Stehen kam, war Dr. Stefests Sportsgeist geweckt. Er wollte unbedingt wissen, ob Miguel als Sieger aus dem Rennen hervorgegangen war. Er musste sich allerdings beeilen, denn der Busfahrer hatte sich schnell verdrückt, um dem Zorn der Passagiere zu entgehen. Die wiederum waren jedoch derart entkräftet und von der Schwerkraft zerzaust, dass ihnen als einzige Bedrohung halbherzige Flüche über die Lippen kamen. Alle schworen sich insgeheim, auf dem Rückweg ein Taxi zum Flughafen zu nehmen. Jetzt wollten sie sich nur schnell erholen, literweise Sangria würde, nach der Logik der Hobby-Trinker, den etwas verstimmten Magen schnell wieder in Stimmung bringen. Schon im Foyer des Hotels stimmte der Kegelclub jedoch, zwar noch etwas gedämpft, aber doch unüberhörbar Schlachtrufe an: »Jetzt geht’s lohoos! Jetzt geht’s lohooos!«
Stefest eilte Miguel nach und bekam gerade noch mit, wie der Portier lachend als Schiedsrichter fungierte. Er hatte die Busse inspiziert und erklärte nun Miguel zum eindeutigen Sieger.
Während Markus Müller kurz darauf seinen Koffer an der Rezeption hinter seinem Chef abstellte, der seltsam beschäftigt tat, schwante ihm, dass dieses Schlitzohr Dr. Ernst Stefest mehr wusste, als er zugab, und offensichtlich sehr gut Spanisch verstand.
»Mich würde mal die ganze Geschichte interessieren«, hakte Markus nach, während beide ihre Zimmerschlüssel in Empfang nahmen. »Später. Das wäre jetzt zu lang«, ließ Stefest Markus abblitzen, »machen wir uns erst mal frisch. Neben Markus rummsten laut zwei Koffer zu Boden.
»Diese beiden Kamikaze-Fahrer sollte man zur Formel 1 schicken!«
Tatsächlich, der Rotschopf sprach zu ihm. Markus grinste verlegen, als er registrierte, zu welchem Reisegast diese Stimme gehörte.
»Dann müssten die aber nach jeder Runde die zerfetzten Strohballen auswechseln«, antwortete Markus, dem auf die Schnelle nichts Besseres einfiel. Aber die Frau lachte, noch dazu herzlich.
»Blauvogel, Nina Blauvogel.« Sie streckte ihm die Hand entgegen.
»Freut mich, Markus Müller«, sagte Markus und hielt die Hand des Rotschopfs etwas zu lange fest.
Sie lächelte ihn an, griff nach ihren Koffern und verabschiedete sich: »Wir sehen uns, okay?«
»Ganz bestimmt«, versuchte Markus möglichst cool zu wirken. Was ihm natürlich nicht gelang. Die Blauvogel verschwand im Lift.
*
Eine knappe halbe Stunde später klopfte es an seiner Zimmertür. Markus erhob sich vom Bett, auf dem er erst vor wenigen Minuten eingenickt sein musste. Dr. Stefest sah seine verschlafenen Augen, als er näher trat.
»Jetzt nur nicht den Fehler machen und länger als fünf Minuten schlafen, mein Lieber! Kurzschlaf bringt Kraft, nur Kurzschlaf«, dozierte er und testete mit einer Hand aus, ob Müllers Bett federte. Markus sah ihm interessiert dabei zu.
»Mein Vorteil Ihnen … entschuldige, dir gegenüber ist mein Bett. Das quietscht so penetrant, dass ich wohl Mühe haben werde, überhaupt einen Kurzschlaf hinzukriegen«, erklärte der Chef sein Tun und machte sich auf den Weg zur Dusche, um die sanitären Einrichtungen zu begutachten.
»Die Dusche ist ein Rinnsal«, kommentierte Markus, immer noch ein wenig träge, die Untersuchungen seines Chefs, »beim Duschen eben bin ich mir vorgekommen wie der Schlangenmensch von Kalkutta.«
Dr. Stefest verließ mit ernster Miene das Bad und setzte noch einen drauf: »Aus meiner Dusche kommt nicht nur wenig Wasser, sondern es kommt auch noch abwechselnd aus dem linken oder dem rechten Teil des Brausekopfes. Das muss man sich mal vorstellen! Übrigens, Markus, unsere Zimmer sind laut Hotelprospekt mit Fernsehanschluss.«
Markus schaute auf die Anschlussdose, die völlig kabellos in die Wand eingefügt war. »Na ja, von einem Fernsehgerät war ja auch nicht die Rede«, bemerkte er trocken.
*
Wenig später verließen Müller und Stefest gemeinsam das Hotel »Kakadu«. Die Strandpromenade war belebt wie am helllichten Tag. Auf der einen Seite rauschte das Meer, und zwischen den aufgestapelten Sonnenliegen und den Bastsonnenschirmen verloren sich noch ein paar Verliebte und Betrunkene. Die andere Seite der Promenade war hell erleuchtet von Läden, die bis Mitternacht geöffnet hatten, und natürlich von einer endlosen Reihe von Kneipen und Restaurants unterschiedlicher Aufmachung, die von einfachen Holzstehtischen bis zu gediegenen Sitzgelegenheiten mit rotem Teppich reichten.
Befand sich in den Kneipen der Alkohol- und Stimmungspegel um diese Zeit bereits auf höchstem Niveau, so wurden die gediegeneren Restaurants von Gästen besucht, die noch Gespräche miteinander führen konnten.
Es war kurz vor 22 Uhr, die Gewitterwolken hatten sich verzogen, der Himmel war sternenklar. Eine lauwarme, aber erfrischende Brise zog beiden Dienstreisenden in die Nasen. Die Uhren tickten hier anders, die Leute waren relaxt oder besoffen oder beides. Markus kamen in dieser Atmosphäre die ersten versöhnlichen Gedanken zu seinem Hawaii-Hemd.
Auf der Strandpromenade schaute sich sein Chef in den Verkaufsständen der fliegenden Händler um und dachte: Diesen Kitsch kann man mit Sicherheit nur nachts verkaufen, tagsüber würde man die Händler dafür verhaften! Als absoluten Höhepunkt seiner Inspektion empfand er das in deutscher Sprache abgefasste Werbeschild eines Mokkatässchenverkäufers: »Echte deutsche Porzellan von Ville, Roy und Bloch«.
Markus versuchte nach etwa 300 Metern verzweifelt, gut drei Dutzend Handzettel wieder loszuwerden. Junge, dynamische Leute sprachen ihn an: »Heute Abend Bernhard Brink und Nicki im ›Oberbayern‹, kostenloser Eintritt und T-Shirt!« Und um den Attraktionswert noch zu steigern, rief ein spanischer Kollege fünf Meter entfernt: »Heute Abend im ›Oberbayern‹: Nicki … Lauda.«
*
An den beiden Marktforschern lief irgendwann auch Ernie, jeden Flyer ablehnend, vorbei. Er suchte nach dieser tollen Frau, die sein Manager vorhin so rüde vertrieben hatte. Er ärgerte sich gewaltig. Denn ihm war klar, dass er unbedingt der nächste Lover dieser wunderbaren Tussi werden musste.
Wenige Schritte hinter ihm folgte allerdings jemand, der das um jeden Preis verhindern wollte. Hugo Schnaller schwante Übles. Was er jetzt überhaupt nicht gebrauchen konnte, waren dumme Kommentare und Zickereien einer Frau, die ihm irgendwie bekannt vorkam.
»Wenn das so weitergeht, muss ich noch einen Security-Mann organisieren, um diesen Schwachkopf unter Kontrolle zu halten«, murmelte er vor sich hin.
Plötzlich packte ihn eine Hand. »Wohnen Sie im ›Kakadu‹?«
»Nein, im ›Hilton‹«, antwortete Hugo genervt.
»Hugo? Hugo Schnaller, Mensch, du hier?«
Hugo blickte in ein Gesicht, an das er sich auf gar keinen Fall erinnern wollte.
»Boy Rack, das perfekte Double von Roy Black … Kannst du dich etwa nicht mehr an mich erinnern?«
»Das muss schon sehr lange her sein«, antwortete Hugo kühl und konnte sich nur zu gut erinnern.
»Du Sau schuldest mir noch zehntausend Mark.«
»Ich sage doch, schon sehr lange her.«
»Hugo Schnaller, die ganze Veranstaltung war ein Riesenerfolg. Der Geburtstag von Roy Black. Zweitausend Leute. Eintritt 30 Mark. Ich habe ein gutes Gedächtnis. Bist du eigentlich damals mit dem Hubschrauber abgehauen?«
Hugo nahm die Hand des Doubles von seiner Schulter. »Ich bin nicht abgehauen. Ich musste damals Vicky Leandros hinterherdüsen … die hatte einen Tobsuchtsanfall, weil irgendein Idiot von ihr verlangt hatte, ›Komm, Roy, wir fahr’n nach Lodz‹ zu singen.«
»Du lügst, Vicky war nicht da. Ich kann sie fragen. Ich habe die Nummer in meinem Handy.«
Hugo trat einen Schritt zurück. »Die gibt auch jedem ihre Nummer. Okay, Boy, lass uns ein anderes Mal weiter reden. Ich suche gerade jemand.«
»Genau wie ich. Aber ich habe dich gefunden«, beharrte Boy auf seinem Erfolg. »Und ich weiß jetzt auch, wo du wohnst. Also, sagen wir mal so: Ich bekomme bis morgen Mittag meine Kohle in Euro. Und sag jetzt bloß nicht, dass du keine hast. Im ›Hilton‹ wohnt man nicht umsonst. Und außerdem kannst du jederzeit deine Kreditkarte in Bewegung setzen. Denn ich werde pünktlich da sein. Und glaub nur nicht, ich weiche dir noch mal von der Seite.« Boy zeigte mit zwei gespreizten Fingern auf Hugos Augen. »Also, morgen Mittag.«
Hugo lief angewidert weiter. »Geldgieriger Sack«, murmelte er. Jetzt hatte er zwei Probleme zu viel. Er zückte sein iPhone und wählte eine Nummer.
»Ja, Hugo hier. Hier läuft was Lästiges rum. Ich bräuchte mal deine diskrete Hilfe. Wie viel? Ich löse mal meinen freien Gefallen ein. Schlagerhäschen Noonu. Ja, die sehe ich wieder, ich habe sogar ihre Handynummer. Die hoppelt auch ganz schnell für mich mal auf dem roten Hotelteppich. Also dann beweg dich. Morgen Mittag. Hilton.«
Hugo steckte das iPhone in seine Jackettasche. Er hatte die Schnauze voll, aber mit einer gewissen Unterstützung würde er ganz schnell schon wieder klare Verhältnisse herstellen. Zuerst war mal sein Ernie dran, der sich nicht an Probezeiten hielt.
Um Hugo herum floss das Bier in Strömen, und die Döner- und Hamburger-Buden verströmten das fettige Aroma, mit dem sie die ewig Hungrigen anlockten.
*
Von allen Seiten drückten nett lächelnde Jugendliche Markus laufend Ankündigungen von Disco-Nights, Striptease-Shows und Miss-Pobacke-Wahlen gleich drei- und vierfach in die Hand.
Stefest lehnte ebenso oft energisch ab und setzte seinen finstersten Blick auf, wenn auch nur ein Verteiler in seine Nähe kam.
»Schmeiß das Zeug in den nächsten Papierkorb«, riet er Müller professionell. Der sah weit und breit keinen Papierkorb und maulte: »Ich wette, hier gibt’s mehr Verteiler als Schmeißfliegen.« Stefest blickte auf Müllers Handzettel: »Ich wäre vorsichtig mit solchen Vergleichen. Du weißt doch, tausend Schmeißfliegen können nicht irren.« Müller ging mit festem Schritt auf einen offensichtlich Besoffenen los, drückte dem bis zum Scheitel Abgefüllten seine gesammelten Werbezettel in die Hand und sagte: »Ich komme in zwei Minuten zurück und hole mir alle wieder ab. Also aufpassen, nicht dass einer fehlt, nachher!«
»Aber …«, versuchte das im mittleren Alter vor sich hin trinkende Zufallsopfer einen Einwand zu formulieren.
Markus schnitt ihm scharf das Wort ab: »Kein Blatt darf verlorengehen, verstanden?!«
Das Opfer salutierte mit der freien Hand und wiederholte lallend: »Alllles klllllaar Schefff. Keinnnnn Blatt daffff velllloren gehhn. Vestannnnen.«
Markus eilte davon und verschwand im Promenadengewühl. Mit beachtlichem Tempo eilte Stefest in Richtung Bierstraße. Er hatte Durst. Müller holte ihn erst nach einer knappen Minute atemlos ein.
»Du hast ja einen Schritt am Leib …«
»Traut man so einem kleinen Dicken wie mir nicht zu, was? Ich hab’ einen Brand, das glaubst du gar nicht! Und wenn ich nicht bald was zum Löschen bekomme, artet das in einen Flächenbrand aus.«
»Das da vorn scheint diese Bierstraße zu sein«, bemühte sich Müller eilfertig um den Durst seines Chefs.
»Stell dir mal vor, du kommst jetzt an den Tresen, willst zwei Bier bestellen und dir versagt die Stimme«, merkte Stefest an und lachte dabei ein wenig hysterisch, während sie in die mit Leuchtreklame zweier deutscher Brauereien illuminierte Bierstraße einbogen. Ein Lichtermeer voller verheißungsvoller Angebote zum grenzenlosen Verzehr von Speisen und Getränken eröffnete sich ihren gierigen Blicken. Hier schien auf ein paar hundert Metern Straße die Leuchtreklame einer mittleren Kleinstadt montiert zu sein. Tresen an Tresen präsentierte sich jede Kneipe mindestens doppelt so groß wie zuhause in Deutschland. Ein Straßenzug als riesengroßer stimmungsvoller Ausschank. Dazwischen brutzelten Würste, Steaks und alle erdenklichen Fleischgerichte. Hier konnte man sich für Stunden oder Tage ins Schlaraffenland einkaufen. Wie in ganz Arenal war alles auf deutsche Besucher eingerichtet: Man sprach deutsch, man schrieb deutsch und man trank deutsches Bier.
Stefest suchte sofort Kontakt zum erstbesten Bierzapfer und öffnete die Hand, um sicherheitshalber gleich mal fünf Bier zu bestellen. Markus kam ihm lautstark zuvor. Stefest sah sich irritiert um.
»Nur für den Fall, dass dir die Stimme versagt – ich wollte nicht, dass du stammeln musst, Ernst«, versuchte sich Müller zu entschuldigen. Stefest grinste. »Na, ein bisschen müssen wir doch noch warten. In sieben Minuten wird das Pils gezapft.«
Am Nebentisch nahm man die eilige Bestellung aufmerksam zur Kenntnis. Ein stämmiger Junge aus dem Kohlenpott versuchte sie mit lauter Stimme zu provozieren: »Die sind ja am Verdursten. Ihr kommt wohl direkt aus der Wüste, was? Aus welcher Karawane seid ihr denn ausgebrochen?«
»Welches Kamel will das denn wissen?« Stefest fragte das fast beiläufig, während er sich den Schweiß von der Stirn wischte. Das Kamel hieß Georg und verstand Spaß. Als die beiden Neuen ihr Pils in einem Zug hinunterschütteten und Stefest nochmal das Gleiche und eine Runde für den Tisch der »Wüstenkamele« bestellte, gingen Markus’ sämtliche Berührungsängste im Gelächter unter. Er selbst wäre nie in der Lage gewesen, eine dermaßen schnoddrige Antwort einfach so einem unbekannten Angetrunkenen an den Kopf zu schmeißen. Das Risiko einer gewalttätigen Auseinandersetzung war ihm immer zu groß. Rhetorisch war Müller zwar fit, aber seine Muskelmasse hätte nie ausgereicht, um in einer Schlägerei Akzente zu setzen. An so etwas hatte er nur einmal in seinem Leben teilgenommen und dabei die Bekanntschaft mit einem mehrfach vorgetragenen klassischen Leberhaken gemacht. Danach mied er Volksfeste oder sonstige Feierlichkeiten, auf denen sich Zahnärzte bereits die Patienten der nächsten Woche ansehen konnten. Stefest nutzte eine Atempause, um festzustellen: »Du hast hoffentlich deine erste Lektion gelernt?«
Markus nickte: »Nimm nie Werbezettel entgegen, bestelle jedes Bier doppelt und bleibe keinem eine Antwort schuldig.«
Stefest hob sein Glas: »Junge, mit diesem Motto kommt hier unten jeder Vertreter durch.« Die »Wüstensöhne«, wie Stefest nach dem fünften Bier nun versöhnlich die fröhliche Runde aus Bottrop nannte, stimmten zwischendurch mal einen kleinen Gesang an. Dabei schwangen sie ihre Mützen, die mit phantasiereichen Sprüchen zum Thema Alkohol bestickt waren. Stefest und Müller staunten nicht schlecht, als aus den Trinkerkehlen in sauberem Ton »Veronika, der Lenz ist da …« in der Version der Comedian Harmonists erklang. Nachdem Stefest die ganze Runde nach Lieblingsgetränken, Lieblingskneipen und Lieblingsfrauen abgefragt hatte, verließen die beiden Dienstreisenden die Stehtische inmitten der Bierstraße.
»Eins kapiere ich nicht: Was haben die Lieblingsfrauen mit den Lieblingskneipen zu tun?«, wollte Markus auf dem Heimweg wissen.
»Niemand wird gern ausgefragt. Damit wiege ich sie alle in Sicherheit. Frage immer mehr, als du wissen willst, damit weckst du kein Misstrauen«, antwortete Stefest.
»Aha.« Markus beließ es dabei und wehrte stattdessen den mittlerweile dritten Handzettelverteiler erfolgreich ab.
Sie kamen auch an dem alkoholisierten Papierkorb vom Hinweg vorbei. Markus ging vorsichtshalber etwas schneller. Gefahr war aber nicht im Verzuge, denn der gehorsame Trinker schlief im Sitzen vor einem Baum. Er hatte tatsächlich keinen einzigen Handzettel fallen lassen. Stefest schüttelte den Kopf und dachte: »Das arme Schwein ist bestimmt im öffentlichen Dienst.«
*
Zur gleichen Zeit sah sich Bertram Mollenhauer, von Statur klein und hager und irgendwie einem Windhund nicht ganz unähnlich, in seinem Lokal um. Er tat das nicht ganz freiwillig, denn für morgen früh hatte sich wieder ein Beamter von der Baupolizei angekündigt. Ein geplatztes Wasserrohr war vor drei Wochen zum Albtraum geworden. Seine Kneipe »Volles Rohr« – nomen est omen – war fast in jedem Raum schwer von den Wasserschäden gezeichnet. In den Räumen roch es nach Moder. Selbst nach einer Abfüllung mit billigstem Sangria waren die Touris nicht davon zu überzeugen, dass es sich um den edlen Duft andalusischen Weines handelte, der bereits seit 86 Jahren im Hause lagerte und auf den seit Jahren Sotheby’s spekulierte. Was Mollenhauer gerettet hätte, denn eigentlich stand er vor dem Ruin. Er nahm seine dicke Hornbrille ab und putzte die Fettschlieren weg. Nächste Woche würde er doch zum Friseur gehen müssen, um seine geliebte und lang gezüchtete Haartolle etwas kürzen zu lassen.
»Dein Geiz bringt uns nochmal um!«, rief seine Frau Margarita aus der Herrentoilette, wohin sie zuvor schimpfend mit einer Malerleiter verschwunden war. Dieser Vorwurf traf auf noch viel schlimmere Art und Weise zu, als sie es sich hätte vorstellen können. Mollenhauer war Händler aus Berufung. Feilschen konnte er wie kein Zweiter, was aber über die Jahre dazu führte, dass er schon fast krankhaft knickrig wurde, weil er eigentlich jede Ausgabe scheute. Freunde konnte er nicht verlieren, denn er hatte aus Kostengründen keine. Nun klebte ihm auch noch das Pech an den Hacken. Schlimm war der Rückzug seiner Gäste, die sich selbst im volltrunkenen Zustand in seinem »Vollen Rohr« nicht wohlfühlten. Zumal Mollenhauers Programm als Alleinunterhalter hauptsächlich aus mühsam gekrähten Schlagern bestand, die er als Kellner zum Besten gab. Techno und Pop-Schlager waren ihm komplett entgangen, und um so etwas wie Nostalgie zu vermitteln, fehlte ihm einfach die besondere Note, wie er gern seine Verspieler bezeichnete, wenn er auf der Pianotastatur danebengriff. Dadurch hielten sich Ausgaben und Einnahmen die Waage. Es blieb nichts übrig. Ein Zustand, den Mollenhauer hasste, insbesondere, weil er ihn selbst betraf. Noch viel schlimmer fielen allerdings zwei Tatsachen ins Gewicht, von denen Mollenhauers Frau überhaupt nichts ahnte. In seinem Geiz hatte er, obwohl er es seiner Margarita gegenüber behauptet hatte, für sein Lokal keine Versicherung abgeschlossen, die Schäden wässriger Art abdeckte. Und als wäre das nicht genug, kämpfte er auch noch mit den Folgen eines verhängnisvollen Abends.
Mollenhauer war beim Zocken in schlechte Gesellschaft geraten. Bis zu diesem Zeitpunkt verdiente er sich beim Pokern regelmäßig ein paar hundert Euro dazu. Sein Pokerface funktionierte beim Spielen so lange erfolgreich, wie er keine größeren Summen setzen musste. Bis vor zwei Wochen – jenem unheimlichen Abend, an dem drei Figuren das Hinterzimmer betraten und viel Geld auf den Tisch legten. Mollenhauer wurde das Opfer seiner Geldgier und seiner Angst, Geld zu verlieren. Er hätte natürlich nie mit diesen Typen spielen dürfen. Die Angst, womöglich seinen Einsatz zu verlieren, hatte ihn mental blockiert und zu verräterischen körperlichen Signalen geführt: Sein Deo hatte versagt, und er hatte geschwitzt bei einem schlechten Blatt. Das war sein Untergang. Nun stand er in der Schuld des »Kleinen Paten«, dessen Einfluss auf der Insel aber gar nicht klein war. Dieser ausgesprochene Verehrer italienischer Vorbilder sprach stets mit italienischem Akzent. Mollenhauer wusste, dass er diesem Mann nicht entkam. Morgen sollte er ihm 50 000 Euro zurückzahlen, die er nicht hatte und von denen er auch nicht wusste, woher er sie außer durch einen Banküberfall – bei dem ihn der Kassierer kurz vor der Geldübergabe garantiert nach seinem Namen gefragt hätte – bekommen sollte. Aus der Geschäftskasse bezahlte seine Frau den laufenden Betrieb, die vorhandenen Ersparnisse waren für die Rente fest angelegt und unerreichbar. Die Versicherung würde nie zahlen, weil es sie nicht gab, und der Spanier mit italienischem Akzent hörte sich zwar spaßig an, war aber auch schuld an einem schmerzhaften blauen kleinen Finger. Er hatte es »Warmklopfen, bevor es richtig losgeht« genannt.
Davon wusste seine resolute Gattin natürlich nichts. Margarita versuchte seit Stunden schon, mit Unmengen von Farbe und Geschick wenigstens einige ganz schlimme Ecken optisch herzurichten. Gerade als Mollenhauer auf die Toilette gehen wollte, kam ihm Margarita mit Farbtopf und Pinsel entgegen.
»Pinkel ja nicht die frische Farbe an, das gibt Blasen«, zeterte sie.
»Danke, mir ist es soeben vergangen.«
»Prostata, auch das noch«, dachte Margarita.
»Deine Pinselkünste werden nichts nützen«, gab Mollenhauer trotzig zurück. Mit seiner hageren Statur und den dicken Brillengläsern machte er nicht gerade eine respektable Figur neben seiner kräftig gebauten Gattin.
»Das Beste wäre immer noch ein schneller, guter Verkauf«, versuchte Mollenhauer die ihm bisher einzig denkbare Alternative ins Gespräch zu bringen, die ihn vor einem grausamen Tod oder einer Seebestattung in Zementschuhen retten konnte.
»Untersteh dich«, zischte Margarita, »dann steck’ ich dir diesen Pinsel abwechselnd zweitausendmal in die Nase und in die Ohren!«
Mollenhauer war froh, dass sich Margarita in ihren Gewaltphantasien auf seinen Kopf beschränkte, winkte ab und verließ das Lokal. Als er ins Freie trat, beschäftigte ihn nur noch ein Gedanke: »Wo treibe ich einen Käufer für mein Lokal auf, der gleichzeitig blind, taub und gutgläubig ist, nichts riecht und bereit ist, gut zu zahlen, weil er die Kohle nachts zum Vergnügen in seinem Keller von einem Haufen auf den anderen schaufelt?«
Solche Leute waren auch auf Mallorca dünn gesät und heiß begehrt.
*
Hugo Schnaller hatte seinen Schützling nicht aus den Augen verloren. Ernie folgte den SMS, die minütlich eintrafen und ihn ins »Lost Paradise« führten, ein modern designtes Hotel, das wohl hauptsächlich das Disco-Publikum anzog.
Ernie betrat die grellbunt beleuchtete Hotellobby, und seine Blicke irrten zwischen den aufgebrezelten Blondinen herum, die sich für die Nacht fertig gemacht hatten.
Gucci-Imitate, iPhones und Piercings schienen die Standardausrüstung für die spitzen Blondies zu sein.
Plötzlich hielt jemand Ernie von hinten die Augen zu.
»Rat mal, wer ich bin?«
»Wärst du ich, hättest du jetzt deine Hände auf meiner Brust«, antwortete Ernie.
Die Hände ließen ihn los.
»Dann mach doch!«
Ernie sah sich verdutzt um.
»Na los!«
Seine neue Bekanntschaft drehte sich provokativ um. Ernie fackelte nicht lange. Er griff zu.
»Erkennst du mich?«, fragte sie.
»Ja deutlich. Ich glaube, du bist Mopsi.«
»Wie romantisch. Die anderen nennen mich immer Hupi.«
»Lässt du dich von vielen Männern erkennen?«
»Bist du verrückt? Natürlich nicht. Nur ab und zu mal, wenn wieder Verkehrskontrolle angesagt ist.«
Ernie fasste sich ans Ohr, als würde ihm gerade etwas durchgesagt.
»Ich höre gerade, dass auf deinem Zimmer eine Verkehrskontrolle angemeldet wurde.«
»Mit Alkoholkontrolle?« Ernie schaute sie ratlos an.
»Ja, wahrscheinlich.«
»Dachte ich mir’s doch. Ohne Blasen geht’s nicht.« Bei Ernie klickte es im Gehirn.
»Nein, auf keinen Fall. Das muss vorsichtshalber am Anfang geklärt werden.«
Sie zog Ernie in Richtung Fahrstuhl.
*
Inzwischen preschte Hugo Schnaller mit offenem Hemd in die Lobby.
»Wo ist dieser kleine geile Bastard?«, fragte er sich etwas zu laut und bemerkte die irritierten Blicke einiger Teenies.
»Was ist los? Ich meine nicht euch Luschen.«
An der Lobbybar hing eine Traube als Blue Men Kostümierter, die dabei war, den Inhalt ihres Kopfes in dieselbe Farbe zu trinken.
Nach ein paar Minuten sinnlosen Suchens wedelte Hugo mit einem 20 Euro-Schein vor dem Gesicht eines Jünglings herum, der ihn die ganze Zeit seelenruhig beobachtet hatte.
»Das Scheinchen, wenn du mir sagst, wo ein Mädchen mit Zöpfen und ein Junge, der hier reinspaziert ist, hin sind.«
»Die mit den Mordsmöpsen?«
»Ja, genau die, mein Junge. Wohin?«
»Zweiter Stock. Zimmer 36.«
Hugo gab ihm den Schein. Riss ihn dem Jungen aber gleich wieder aus den Händen.
»Nicht so eilig. Woher weißt du das so genau?«
»Ich bin Spanner.«
Hugo schaute ihn angewidert an.
»In dem Alter schon? Mein Gott, grauenhaft.«
»Geht so.«
»Hier hast du dein Geld.« Hugo gab ihm den Schein.
»Andererseits kannst du noch eine große Karriere vor dir haben. Aber wechsle die Branche. Werde Detektiv.«
»Nö, Verräter bringt mehr.«
Hugo dachte sich: »Verdammt, ist der clever. Wer will schon als Verräter Karriere machen. Echte Marktlücke.«
Dann fragte er interessiert: Gibt’s denn hier so viel zu verraten?«
»Man fängt klein an. Mehr verrate ich nicht, das kostet.« Hugo zückte noch einen Zwanziger.
»Hör mal, ehe du irgendwann neben der Bundeskanzlerin stehst und ich mich ärgere: Ich nehm dich unter Vertrag. Ich bin Agent, und ich baue ich auf.«
»Haben Sie Erfahrung im Verrat?«
»Junge, ich habe schon Leute verraten, die haben Geschichte geschrieben. Schlagergeschichte.«
»Okay, Promierfahrung ist gut. Wir kommen ins Geschäft. Ich bin Sascha, 16 Jahre alt.«
Hugo drückte ihm die Hand.
»Da du jetzt bei mir unter Vertrag stehst, kannst du gleich mal anfangen. Ich möchte, dass du mir jeden Tag etwas über diese Zopfschnepfe verrätst.«
Der hagere Sascha nickte.
»Wie lange bis du noch hier?«
»Eine Woche. Mein Bruder ist ständig mit anderen Freundinnen unterwegs. Der ist froh, wenn ich mein Ding für mich mache. Ich trinke übrigens nicht.«
Hugo hätte vor Entzücken einen Veitstanz aufführen können.
»Ich wünschte, dieser dusslige Ernie hätte auch nur einen Hauch deiner Intelligenz. Du bist ein Riesentalent, ich erkenne so was. Und nenn dich nie wieder Spanner, du bist ab sofort ein Scout. Klingt geiler, immer ans Marketing denken!« Sascha nickte erneut.
»Gut, ich muss jetzt ins Zimmer 36.«
»An der Schlüsselbar hängen die Ersatzschlüssel unter dem Tresen. Einfach reingehen, wegnehmen, wenn die Bedienung gerade ans Telefon muss.«
Hugo grinste, überreichte noch einen Zwanziger und schnappte sich wie empfohlen den Schlüssel. Dann eilte er zu Zimmer 36.
In selbigen trieb Ernie es inzwischen wie ein Weltmeister, der einen Freistoß nach dem anderen versenkte. Vorsichtig schloss Hugo die Tür auf und tappte in das Zimmer. Doch Ernie und seine neue Freundin ließen sich nicht stören.
Hugo schaute zunächst entspannt, dann zunehmend begeistert zu.
»Wenn der Kerl dabei singen könnte, würde ich ihn in die höchsten Kreise bringen«, dachte er.
Dann platzte ihm der Kragen.
»Hey Ernie! Bevor du kommst, lässt du mich ran. Wir wollen doch nicht schwanger werden!«
Augenblicklich hielten beide inne.
Die zopfige Mopsi raffte das Bettlacken zusammen und forderte: »Schmeiß ihn raus!«
»Mann Hugo, ich darf doch wohl mal eine Muschi klarmachen.«
Jetzt staunte seine Freundin nicht schlecht.
»Was willst du hier machen?«
Hugo schwieg, er wollte erst hören, was die Stimme der Emanzipation zu sagen hatte.
»Hier ist keine Muschi klargemacht worden. Oder behaupte ich etwa, dass hier eine Nudel vernascht wurde?«
»Sagt man so«, blieb Ernie stur.
Hugo warf seinem Schützling die Klamotten zu, die er schon mal vom Boden aufgelesen hatte.
»Sagt man eben nicht so. Ist geklaut. Ben Stiller. Hollywood-Zitate kommen immer gut, aber nicht wenn man dabei kommen will, merke dir das. Weiß jeder Profi«, sagte Hugo.
»Na was nun, schmeißt du ihn raus? Das ist mein Zimmer?«, versuchte Mopsi noch einen draufzusetzen.
Ernie zuckte mit den Schultern. Hugo wartete im Türrahmen.
Doch kam die neue Konkurrentin mitsamt dem Lacken auf ihn zu.
»Er hätte es wenigstens versuchen können, meinst du nicht auch, Hugo? Ich heiße übrigens Wanda Hesch, und ich kann singen.«
Sie ließ das Lacken fallen und reichte ihm die Hand.
Hugo war beeindruckt von so viel Unverfrorenheit und einem absolut überzeugenden Body.
»Sie wissen, dass mich allenfalls Ihre Gesangskünste begeistern können?«, antwortete Hugo.
»Naja, der Rest kann ja nicht schaden«, sagte Wanda und hob das Lacken auf, nicht ohne mit einer raffinierten Drehung ihren eindrucksvollen Hintern zu präsentieren.
Hugo war nun vollends überzeugt, dass er gegen diese Konkurrenz absolut machtlos war, wenn er nicht zu allen Skrupellosigkeiten bereit war, die ihm gerade einfielen. Ernie hatte sich angezogen und wollte gehen.
»Wanda, vielleicht sollten Sie mal zum Vorsingen kommen.«
»Sie wissen ja, wo Sie mich finden.«
»Gern.«
Ernie gab ihr einen Kuss.
»Vielleicht in meinem Backgroundchor.«
Hugo biss sich auf die Lippen und wünschte sich, dass Wanda jetzt ebenfalls mit einer Beleidigung antworten würde. Doch leider tat sie es nicht. Dazu war sie zu raffiniert. Und das beeindruckte Hugo nun wirklich.
*
Müller und Stefest betraten das ›Kakadu‹ und warteten an der Rezeption auf die Rückkehr des Portiers, um ihre Schlüssel in Empfang zu nehmen. Eine dicke Rheinländerin mit rotem Gesicht, blond gefärbt und von bunten Leggins entstellt, machte sich rhythmisch an der Tischklingel zu schaffen. Als Müller und Stefest sich stumm neben sie stellten und ihr Tun beobachteten, erläuterte sie ungefragt: »Frechheit, meine Dusche geht nicht. Kein Tropfen! Wozu stelle ich mich wohl unter die Dusche?«
Müller bedauerte jeden Wassertropfen einzeln, der sich an diesen Fettmassen entlangkämpfen musste, um den rettenden Abfluss zu erreichen. Stefest ließ solcherlei Gedanken gar nicht erst aufkommen und stimmte der Matrone zu: »Wer Dusche bezahlt, soll auch Dusche haben!«
In ihrer Meinung bestätigt, malträtierte die Dicke mit ihren mächtigen Patschhänden die Tischklingel nun noch heftiger.
»Es ist erst Mitternacht, keiner geht ans Telefon, niemand ist an der Rezeption. So kann man doch einen Deutschen nicht behandeln! Sie sind Zeugen!«
Stefest ahnte Schlimmes. Noch zwei Minuten, und dieser klingelnde Pfannekuchen würde ein Protokoll zücken, um Müller und ihn als Zeugen die Mängelliste unterschreiben zu lassen. In solchen juristischen Tricksereien kannte er sich aus. »Nee nee, so nich!«, dachte er und holte kurzerhand die Schlüssel vom Brett. Beide verabschiedeten sich, verließen fluchtartig die Rezeption. Die Dicke war jetzt weniger freundlich: »Das ist aber auch keine Art!«, war ihr letzter Kommentar, bevor die beiden Dienstreisenden im Fahrstuhl verschwanden und die Tischklingel in ihre Einzelteile zerflog.
Müller musste als Erster aus dem Lift aussteigen. Sein Zimmer lag im dritten Stock. Stefest würzte seinen Gute-Nacht-Gruß noch mit dem ausdrücklichen Wunsch nach einem pünktlichen Erscheinen zum Frühstück. »Punkt acht Uhr möchte ich dich mit fröhlichem Gesicht vor mir und meinem Frühstücksei sehen. Wenigstens einer muss am Frühstückstisch gute Laune haben. Und ich weiß nicht, wie mein Frühstücksei drauf ist.«
Markus gönnte seinem Chef das letzte Wort und ein schelmisches Grinsen. Er war müde. Stefest fuhr in den fünften Stock, wo ein komfortables Doppelzimmer mit quietschendem Bett und Fernsehanschluss, aber ohne Fernseher auf ihn wartete.
Müller sank erschöpft auf sein Laken. An das darunter befindliche Bettgestell mochte er in diesem Moment gar nicht denken. Die Matratze war durchgelegen, was ihn nur mäßig beeindruckte. Fast schmerzlich vermisste er aber die sonst in Hotelbetten übliche Kuhle, die er diesmal als Rettung empfunden hätte. Müllers Rücken stand vor einer schweren Belastungsprobe. Über die gesamte Matratzenlänge zogen sich zwei Querwülste im Schulterblatt- und im Oberschenkelbereich. Keines der Zwischenteile war groß genug, dass er sich entspannt hätte hineinlegen können. Zwei gemeine Hügel in der Nierengegend taten ein Übriges zur peinigenden Wirkung. Müller lag und hoffte, dass er vor Übermüdung einschlafen würde. Die Matratze wollte er morgen auswechseln lassen. Aus dem Zimmer nebenan kamen eindeutige Geräusche. Unverkennbar handelte es sich um eine ausgelassene Nummer eines urlaubsgestimmten Pärchens. Müller grinste vor sich hin und dachte an seinen eigenen sexuellen Notstand, den er möglichst schnell beenden wollte. In diesem Zusammenhang kam ihm das rothaarige Blauvögelchen in den Sinn, aber sie war zu weit weg. Er wusste noch nicht einmal ihre Zimmernummer. Plötzlich beunruhigte ihn ein dumpfes Rumpeln, mit dem ein schleifendes Geräusch einherging. Aus der Entfernung anschwellende Stimmen riefen Markus ins Gedächtnis, dass sich der Fahrstuhl ganz in der Nähe befand. »Warum schalten die dieses Ding nachts eigentlich nicht ab?«, sprach er halblaut in Richtung Wand, die wie ein Sexfunk-Dauerprogramm ganz andere Geräusche wiedergab. Müller hörte eine Weile interessiert zu. »Zuhause müsste ich dafür eine teure Sex-Hotline anrufen, hier bekomme ich das gratis«, stellte er zufrieden fest. »Wenn schon all-inclusive, dann richtig.« Er hielt sein Ohr an die Wand. Die artistischen Einlagen im Appartement nebenan interessierten ihn nun doch etwas genauer. Auf das übliche Bettwippen folgte ab und an eine kleine Pause und ein gemeinsames lautes »Ooooohhhpps«, wonach ein kräftiger Aufprall zu hören war. Markus versuchte sich vorzustellen, wie die beiden jeweils die Positionen von unten nach oben in einem Schwung wechselten. Er wurde abgelenkt, denn über den Flur marschierte eine grölende Truppe junger Schalke-Fans. »Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin«, klang aus ihren Kehlen. Müller kannte sich im Fußball nicht so aus, sonst hätte er das Gehörte mit dem Endspiel um den DFB-Pokal in Verbindung bringen können. So zuckte er nur mit den Schultern und widmete sich wieder den inzwischen regelmäßigen Rufen nach »Mehr« im Nebenzimmer. Die johlende Clique stapfte nun die Treppe hoch ins nächste Stockwerk und hatte sich nach wenigen Minuten auf ihre Zimmer getrollt. Markus schaute auf die Uhr: »Eins.« Er drehte sich um, im Nebenzimmer bekam jemand »Mehr«, und er wollte schlafen.
Mit aufgerissenen Augen schnellte Markus hoch und starrte auf die Uhr: Zehn nach zwei! Es trommelte gegen seine Tür: »Auauaaufwachen, ihr Penner, heute wird gefeiert!«
Müller wünschte sich eine Maschinenpistole. Der Trommler ging konsequent von Tür zu Tür und wiederholte die Parole. Müller sank ins Kopfkissen. Leider schien auch kein anderer Gast eine Maschinenpistole zu haben. Markus kam zu dem Schluss, dass wahrscheinlich außer ihm noch niemand um diese Zeit schlief. Der Wahnsinnige drohte nun zum Schluss nochmal lautstark: »Ich komme wiiieder!«
Müller griff zum Telefon und versuchte, den Portier zu erreichen. Wie erwartet meldete sich niemand. Er legte auf und hörte, wie sich der Fahrstuhl auf den Weg in seine Etage hochquälte. Was auch immer mit dieser Fuhre kam, er konnte es nicht mehr hören, denn wie auf Kommando startete eine Spülorgie wohl sämtlicher über ihm liegender Toiletten. Ganz Schalke war geschlossen auf dem Klo. Müller war unwohl, er blickte instinktiv zu den Fallrohren in den Zimmerecken verliefen, ob nicht womöglich die ganze Brühe hier bei ihm herauslief. Mühsam schraubte er sich aus dem Bett und nahm einen Schluck aus der Wasserflasche. »Irgendwann muss doch mal Ruhe sein«, nahm er an. Er irrte sich.
Die beiden nebenan begannen anscheinend mit leicht wippenden Bettbewegungen einen weiteren Versuch, »Mehr« zu bekommen. Der Wandfunk verdoppelte sein Programmangebot, als auf der anderen Seite seines Zimmers die Tür krachte. »Der wird doch nicht einfach so schlafen wollen?«, fragte sich Müller sarkastisch. Es dauerte ein paar Schritte und das Poltern eines heruntergefallenen Aschenbechers, bis ein quäkender Fernseher die Antwort gab. Markus legte sich wieder hin. Die Geräusche schienen auf ein Fußballspiel hinzudeuten. Der überlaute, leicht verzerrte Tons ließ ihn erkennen, dass dieses Spiel im Spanischen Fernsehen lief. Der geplagte Dienstreisende ergab sich in sein Schicksal. Ein »Gooooooaaaal«-Schrei unterbrach mal kurz gegen drei Uhr vierzig seinen angestrengten Erschöpfungsschlaf. Erst das Kratzen an seiner Zimmertür ließ ihn dann richtig wach werden. Da näherte sich der kleine Zeiger seines Weckers gerade der Sechs. Müller bewaffnete sich mit einer Vase und öffnete die Tür. Mit einer Scheckkarte versuchte ein feister, kahlköpfiger Trinker seine Tür zu öffnen. »Was mmmachen S’n meim Zimm…?«, lallte der derangierte Suffkopp, dann verstummte er angesichts der sehr bedrohlich wackelnden Vase und suchte, vor sich hin brabbelnd, den Fahrstuhl.
Auf dem hinteren Teil des Flures fiel in dem Moment eine Tür ins Schloss. Markus drehte sich um, und seine Miene erhellte sich. Nina Blauvogel kam ihm im kurzen Sprinterhöschen, einem knappen Sportshirt und Laufschuhen entgegen: »Können Sie auch nicht schlafen?«
Müller ordnete sein Outfit und strich sich verlegen mit der Hand durchs Haar: »Ich versuche es seit fünf Stunden.«
»Wenn man in die Irrenanstalt geht, darf man sich nicht über die Irren wundern«, stellte Nina in herzerfrischendem Ton fest.
»Ich laufe mir jetzt meinen Frust von der Seele.«
»Tun Sie das, ich versuch’s ein letztes Mal mit Schlafen«, sagte Müller und winkte seiner Angebeteten hinterher. Er vergaß natürlich nicht, noch einen längeren Blick auf das zu werfen, was er in sexueller Hochstimmung als »Knackarsch« bezeichnet hätte. Als er die Tür hinter sich schloss, stand für ihn unumstößlich fest: Das Blauvögelchen musste er schnellstens näher kennenlernen. Erfreulich fand er, dass Nina, aus welchen Gründen auch immer, diese exzessive Trinkergegend auch nicht normal fand.
»Aber warum ist sie dann hier?«, fragte sich Markus, als er sich wieder ins Bett hineinarbeitete.
Der Fahrstuhl rumpelte schon mindestens das zehnte Mal nach oben. »Die besoffene Scheckkarte«, ging es Markus durch den Kopf, bevor er vor Erschöpfung zum letzten Mal in dieser Nacht einschlief.
*
Hugo hatte Ernie im Hotel abgesetzt, nachdem er ihn durch mehrere Karaoke-Bars gehetzt hatte, in denen er ihn gegen die Konkurrenz seines Publikums direkt antreten ließ. Ernie schleppte ich völlig erschöpft auf sein Zimmer.
»Vergiss nicht, dass ich den ganzen Aufenthalt hier trage. Was glaubst du, was das heißt? Du hast Vertrag, das heißt auch, rumvögeln is nicht, solange kein Erfolg. Ganz einfache Formel.«
»Und was ist mit der Scheißmotivation?«, wollte Ernie missgelaunt wissen.
»Man kann nicht als Goldkehlchen auf die Bühne tanzen, wenn man sich vorher als Eichhörnchen die Nüsse hat klauen lassen. Das klappt nicht. Also entweder Eichhörnchen oder Goldkehlchen. In deinem Vertrag steht Goldkehlchen. Und genau das wollen deine weiblichen Fans sehen. Die merken doch sofort, wenn dich eine andere ausgelutscht hat.«
Ernie legte sich aufs Bett.
»Mann, dieses Showleben ist verdammt anstrengend.« Hugo deckte ihn zu.
»Junge, wenn du einen Namen hast, geht’s erst richtig los. Also, nie wieder solche Sprüche und nie wieder ohne mein Wissen mit Wanda vögeln.«
»Versprochen …«
»Versprochen, das höre ich gern.« Ernie blinzelte mit einem Auge.
»Nee, du hast dich wohl versprochen? Wanda, das muss sein, dafür übe ich noch intensiver.«
Hugo schluckte. Es waren kaum acht Stunden vergangen. Nun hatte sein Problem einen Namen.