Читать книгу Inklusive Sprachförderung in der Grundschule - Jörg Mußmann - Страница 7
ОглавлениеVorwort zur 2. Auflage
Zum Zeitpunkt der ersten Auflage dieses Buches befand sich die so genannte Sprachheilpädagogik auf einem Höhepunkt der Diskussion zur schulischen Inklusion. Die anhaltenden pathologisierenden Perspektiven mancher medizinischen und sprachtherapeutischen Ansätze wurden zunehmend kritisch diskutiert. Bildungstheoretische Fragen nach den Folgen von Sprachbeeinträchtigungen für schulische Lern- und Entwicklungsprozesse rückten immer mehr in den Mittelpunkt. Im Diskurs der inklusiven Pädagogik wurden neue Handlungsfelder und Handlungsformen der Lehrkräfte beleuchtet, die sich in neuen Studiengängen auf den Unterricht mit Schülerinnen und Schülern mit entwicklungsbedingten oder erworbenen Sprach-, Sprech-, Stimm-, Rede- und Kommunikationsstörungen spezialisierten. Netzwerkbasierte Unterstützungsangebote, in denen Kooperation zwischen unterschiedlich fachdidaktisch und sonderpädagogisch spezialisierten Lehrkräften und deren Beratung im Mittelpunkt stehen, wurden entwickelt. Die Vermeidung von Barrieren und die Adaption der Lernangebote im Unterricht gehört nun auch zunehmend zu den Aufgaben der auf Sprachentwicklung und Sprachförderung spezialisierten Lehrkräfte. Die professionstheoretische Diskussion der Sprachheilpädagogik um das „doppelte Joch“ (Hansen 1929), also die Frage, wie Sprachtherapie und Unterricht verbunden werden können, die das Fachgebiet über 100 Jahre umtrieb, wurde leise und unbemerkt beendet. Man kehrte gleichermaßen an einen historischen Ausgangspunkt zurück, den Gründungsväter wie Hermann Gutzmann sen. (1904: „Die soziale Bedeutung der Sprachstörungen“) in Deutschland oder Emil Fröschels in Österreich vielleicht im Sinn hatten und der im Vorwort der ersten Auflage dieses Buches wie folgt zum Ausdruck gebracht worden ist: „Handlungsformen und Zielsetzungen der Sprachheilpädagogik bleiben auch im inklusiven System die, die sie immer waren: pädagogische“.
Diese Entwicklung führte in der Praxis der Schulen, Bildungspolitik und Hochschulen zu Veränderungen von Bezeichnungen und Benennungen, die als Ausdruck eines veränderten professionellen Selbstverständnisses verstanden werden können. Das spezialisierte Lehr- und Forschungsgebiet bezeichnet sich an fast allen Studienstätten als Pädagogik bei Sprachbeeinträchtigungen, in Deutschland und Österreich als Teil einer inklusiven Pädagogik. Exklusive Berufsbezeichnungen wie „Sprachheillehrkraft“ gehören zumindest im schulverwaltungstechnischen Sprachgebrauch der Geschichte an. In Österreich kam der Start der reformierten Studiengänge im Wintersemester 2015/16 der finalen Etappe im Entwicklungsmodell der Inklusion nach Sander sehr nahe: dem Aufgehen sonderpädagogischer Fragestellung in einer allgemeinen Pädagogik. Studierende aller Lehramtsstudiengänge werden obligatorisch sensibilisiert für die kindliche Sprachentwicklung und für spezifische Fragen bei Sprachbeeinträchtigungen und deren Bedeutung für die inklusive Unterrichtsplanung, -durchführung und -evaluation in Kooperation und durch kollegiale Fallberatung mit Lehrkräften, die auf spezifische Unterstützungsangebote in diesen Bereichen spezialisiert werden.
Der Stand der Hochschullehre und Forschung sowie die Entwicklung von Unterrichtsmethoden und -konzepten ist dafür in den vergangenen zehn Jahren erstaunlich vorangeschritten. Mittlerweile laufen sogar bereits Forschungsarbeiten zur Wissensgeschichte im Fachgebiet und dessen geschichtlicher Entwicklung im Diskurs der schulischen Inklusion. Die Zahl der Lehrbücher zur Sprachförderung im inklusiven Unterricht im deutschsprachigen Raum verliert allerdings zunehmend an Übersicht und Unterscheidbarkeit. Man kann mittlerweile fast von einer Sättigung sprechen, wodurch es auch diesem Buch schwerfällt, Inhalte anzubieten, die in Teilen nicht auch in nachfolgenden Publikationen zu finden sind. Den Studierenden der inklusiven Pädagogik, die einen Einblick in dieses Spezialisierungsgebiet gewinnen wollen, kann dies beruhigen, denn es zeigt sich, dass die Pädagogik bei Sprachbeeinträchtigungen sich erfolgreich dem Diskurs zur inklusiven Pädagogik anschließen konnte und mit einem breiten und etablierten Entwicklungsstand in allen Lehramtsstudiengängen ein brauchbares Angebot machen kann.
Dieses Buch richtet sich daher an alle Lehramtsstudierende und Lehrkräfte für den Primarstufenbereich. Jenen, die sich zu inklusiv- und sonderpädagogischen Fragestellungen bei Sprachbeeinträchtigungen spezialisieren, zeigt es Möglichkeiten der Förderung, Beratung und Kooperation auf. Allen anderen bietet es Einblicke in dieses Spezialisierungsgebiet als Voraussetzung für kollegiale Beratungssituationen und den inklusiven Unterricht.
Mitterstroheim/Österreich, im Juli 2020,
Jörg Mußmann