Читать книгу Inklusive Sprachförderung in der Grundschule - Jörg Mußmann - Страница 8
Оглавление1 Spezifische Sprachförderung im inklusiven Unterricht
1.1 Förderschwerpunkt Sprache im inklusiven System
Sprache ist Bildung
Sprache ist das Medium der Bildung. Sprache und Bildung ermöglichen Teilhabe an der Gesellschaft (von Humboldt 1965). Die Teilhabe an Bildung ist auch die Teilhabe an sprachlicher Bildung. Sprachliche Bildung und damit auch individuelle Sprach-entwicklung begleiten das ganze Leben. Mit ihren strukturellen Gegebenheiten auf der Laut-, Wort- und Satzebene sowie mit ihren verbalen, non- und paraverbalen Modalitäten und der Schrift ist Sprache ein zentrales Medium schulischen Lernens, emotionalen Erlebenes und sozialen Handelns. Mit ihr können wir uns anderen Menschen verbal, schriftlich, visuell und auch über Bilder von Angesicht zu Angesicht mitteilen und andere verstehen. Mit Sprache können Ideen und Wünsche in Worte gefasst werden. Bedürfnisse nach Akzeptanz und sozialer Regulation äußern sich direkt und indirekt neben dem nonverbalen und melodischen Ausdruck auch über die Wortwahl und den Satzbau; das Erfahren von Selbstwirksamkeit wird so sprachlich vermittelt. Sprachliche und kommunikative Fertigkeiten und Fähigkeiten unterstützen die individuelle Identitätsentwicklung (Hartig-Gönnheimer 1994; Wolf 1998). Sprache erfasst und ordnet das Wollen, aber auch, was nicht gewollt ist. Die Grammatik der Sprache bringt die ausgedrückten Gedanken „auf die Reihe“ und strukturiert gleichzeitig mit Kategorien, mit Ober- und Unterbegriffen die kognitive Entwicklung.
„Die Sprache ist nichts anderes als eine spezialisierte und konventionalisierte Fortführung des gemeinsamen Handelns“ (Braun 2006, 172).
Das besondere am Medium der verbalen Sprache ist, dass es sich zusammensetzt aus einer Menge von Zeichen, die anders als bildhafte Verweise, Mimik oder Gestik, eine ganz besondere Eigenschaft haben. Sie sind symbolische Zeichen, d. h. der Zusammenhang zwischen Zeicheninhalt und Zeichenausdruck ist willkürlich (arbiträr), also nicht naturgegeben und nicht durch sinnliche Wahrnehmung erfahrbar. Der kulturell festgelegte Zusammenhang muss in einer muttersprachlichen Umgebung gelernt werden. Gerade durch diese Willkürlichkeit sind sprachliche Zeichen in den verschiedenen Sprachgemeinschaften konventionalisiert, damit Kommunikation überhaupt möglich werden kann.
angeborene Fähigkeit zur Sprache
Diese symbolische Eigenschaft der Zeichen zu erkennen, also Sprache in der übrigen Geräuschumgebung unterscheiden und diese symbolischen Zeichen regelhaft verwenden und kombinieren zu können, ist eine gattungsspezifische, angeborene Fähigkeit (Pinker 1996; Stromswold 2001). Sie erfordert jedoch kognitive, emotionale und biologische Entwicklungsschritte (→ Kapitel 2.1).
Sprechen als soziokulturelle Fertigkeit
Das Sprechen wird als soziokulturelle Fertigkeit in einer muttersprachlichen Umgebung gelernt. Dies setzt nicht nur die sensomotorische Erfahrung der Artikulationsorte und Artikulationsweisen und die Imitation der muttersprachlichen Lautbildung voraus, sondern auch ein Wissen über die Vielfalt von Zeichenbedeutungen, ein Wissen über die Welt, über die gesprochen wird, sowie einen äußeren, sozialen Anlass und eine innere Motivation. Die Fähigkeit und die Fertigkeiten zu sprachlicher Kommunikation, deren Entwicklung und Förderung in schulischen Kontexten unter erschwerten Bedingungen spezifischer Beeinträchtigungen, steht im Folgenden im Mittelpunkt.
Im Fokus sonderpädagogischer Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangebote stehen das sprachliche Handeln des Kindes und dessen individuelle Lern- und Entwicklungsbedingungen. Bei schweren Beeinträchtigungen im rezeptiven und produktiven Sprachgebrauch können störungsspezifische Interventionen notwendig werden, um zunächst die basalen Grundlagen intentionalen, partnerorientierten und symbolischen Handelns zu schaffen. Empfehlungen der deutschen Kultusministerkonferenz für den Förderschwerpunkt Sprache sehen daher vor, „kommunikationsförderliche Erziehungs- und Unterrichtssituationen“ herzustellen (Drave et al. 2000, 230), in denen die Schüler Interesse entwickeln, ihre sprachliche Handlungsfähigkeit zu erproben.
„Dabei können sprachtherapeutische Maßnahmen erforderlich werden, die Einsicht in erwartungsüblichen Sprachgebrauch vermitteln, die […] Erprobung und Übung sprachlichen Handelns sichern“ (Drave et al. 2000, 230).
Definition:
Sprache wird hier definiert als intentionales, partnerorientiertes, verbales und symbolisches Handeln (→ Abbildung 1).
Abb. 1: Definition sprachlicher Kommunikation (Linke et al. 2004, 173)
sprachgenerierende und sprachbegleitende Prozesse
Die Entwicklung sprachgenerierender kognitiver und sprachbegleitender sozial-emotionaler Prozesse in diesen kommunikationsförderlichen Unterrichtssituationen sowie die spezifische Sprachverwendung an sich kann direkt und indirekt pädagogisch unterstützt und gefördert werden. Eine solche sprachspezifische Unterstützung reicht von der Beratung der Bezugspersonen bis zur funktionellen Übung der Artikulation. Zwischen diesen problem-, individuum- und kontextorientierten Herangehensweisen bildete sich bisher das Handlungsfeld des Unterrichts als Hauptprofessionstätigkeit von spezialisierten Sprachpädagogen, so genannten Sprachheillehrern. Der Unterricht als zentrale Aufgabe des Sonderpädagogen unterschied sich zunächst weder bei den unterschiedlichen Förderschwerpunkten noch vom Auftrag anderer Lehrpersonen in Regelschulen.
Das Spezifische des Bildungsauftrages mit dem Förderschwerpunkt Sprache liegt im Fokus auf dem Sprachgebrauch der Schüler als Beobachtungs- und Reflexionsgegenstand.
Unterrichtsplanung
Die Analyse des auffälligen sprachlichen Handelns hat das Ziel, die didaktischen Anforderungen und methodischen Erfordernisse bei der Unterrichtsplanung einzuschätzen (Welling 2007, 955). In spezialisierten Schulen (z. B. Förderschulen) können dann sonderpädagogische Angebote spezifischer Sprachförderung und zusätzlicher Sprachtherapie vorbereitet und durchgeführt werden. Dort, wo Schüler mit Sprachbeeinträchtigungen am Unterricht regulärer Grundschulen teilnehmen und die Verantwortung für die Unterrichtsgestaltung vorübergehend oder vollständig bei den Grundschullehrkräften liegt, verändert sich auch das Aufgabenfeld der Sonderpädagogen mit dem Förderschwerpunkt Sprache.
Inklusion
Die Bildungssysteme in vielen europäischen Ländern stehen weiterhin vor der Aufgabe mit einer vorrangig inklusiv ausgerichteten Schulorganisation das Ziel Teilhabe an Bildung auch für Schüler mit Beeinträchtigungen zu erreichen. Die „Convention on the Rights of Persons with Disabilities (CRPD)“, die 2008 in Kraft trat, stellt dabei keine neuen Spezialrechte für Menschen mit Beeinträchtigungen dar, sondern konkretisiert die bestehenden Menschenrechte. In Deutschland wird häufig der Begriff der Behindertenrechtskonvention (BRK) verwendet. Die Behin-dertenrechtskonvention konkretisiert und erweitert die bestehenden Menschenrechte, es werden keine neuen Spezialrechte formuliert. Sie zielt auf die Schaffung von Gleichberechtigung und Selbstbestimmung ab, statt auf fremdbestimmte Fürsorge durch die Gruppe von Menschen ohne Beeinträchtigungen. Das Ziel der sozialen Inklusion bezieht sich auf die gesamte Gesellschaft, das Ziel der schulischen Inklusion auf das gesamte Bildungssystem.
Gleichberechtigung und Kindeswohl
Als zentrales inhaltliches Ziel der BRK ist erstens die Gleichberechtigung hervorzuheben. Zweitens steht das Kindeswohl im Mittelpunkt: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder mit Behinderungen betreffen, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist“ (Art. 7, Abs. 2).
Unterstützungsmaßnahmen
Das inklusive Bildungssystem soll zudem „[…] wirksame individuell angepasste Unterstützungsmaßnahmen in einem Umfeld [vorhalten], das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet“, bei Erhaltung des Ziels „vollständiger [sozialer] Integration“ (Art. 7, Abs. 2e). Aus diesen Artikeln lässt sich schlussfolgern, dass Bildung möglichst in einer Schule für alle organisiert sein soll bei umfänglicher (sonderpädagogischer) Unterstützung für beeinträchtigte Kinder. Von dieser Praxis sind Schulen in vielen Bundesländern in Österreich und Deutschland noch weit entfernt.
exklusive Maßnahmen
Sonderpädagogische Bildungsangebote durch zusätzliche, vorübergehend exklusive (nicht exkludierende) Maßnahmen innerhalb der Schule für alle (z. B. Kleinklassen) oder Angebote an Beratungs- und Förderzentren sind möglich, wenn sie dem Wohl des Kindes dienen und die „vollständige (soziale) Integration“ zum Ziel haben. Kindern mit Beeinträchtigungen und deren Eltern wird die Möglichkeit zur Wahl alternativer bzw. paralleler Angebote wie z. B. Förderschulen nicht verweigert, sofern sie als allgemeinbildende Schulen, die auch langfristig den Zugang in die Arbeitswelt ermöglichen, von den Schulsystemen der Länder angeboten werden. Exklusive sonderpädagogische Bildungsangebote bleiben nach den Empfehlungen der deutschen Kultusministerkonferenz (2011, 16) aber „zeitlich befristete“ Maßnahmen. Gleichzeitig wird den Förderschulen die Möglichkeit offen gehalten „sich […] für Kinder und Jugendliche ohne Behinderungen zu öffnen, um dort gemeinsames Lernen zu ermöglichen.“ Spezialisierte Schulen zur Sprachentwicklungsförderung (Sprachheilschulen) können sich weiterentwickeln zu einer allgemeinbildenden Grundschule mit einem profilierenden Programm zur sprachlichen Bildung, Unterstützung und Förderung aller Schüler (Glück/Mußmann 2009).
Perspektivenwechsel in der Sonderpädagogik
Mit dem inklusiven Schulsystem geht ein Perspektivenwechsel vom Individuum und seinen individuellen Einschränkungen hin zur behindernden physikalischen, institutionellen und personellen Umwelt einher. Für Schüler mit erschwerten Lern- und Entwicklungsbedingungen in der Sprache und Kommunikationsfähigkeit soll Chancengleichheit erreicht werden. Kinder mit z. B. Spracherwerbsstörungen, Aussprachestörungen oder Kinder die stottern, können in ihrer schulischen Bildung spezifische Barrieren erfahren. Auch sie haben daher in Regelgrundschulen einen spezifischen pädagogischen Unterstützungsbedarf.
Im Folgenden soll deutlich gemacht werden, dass auch für diese Schüler in der inklusiven Schule die Adaption des Unterrichts im Mittelpunkt steht und dass diese Differenzierung der Lernangebote im Unterricht jedoch nur mit einem individualisierten Blick auf die sprachlichen und kommunikativen Möglichkeiten der Schüler möglich ist.
1.2 Das Problem inklusiver Pädagogik und exklusiver Sprachförderung
Diskussion um Inklusion
Viele Beiträge erziehungswissenschaftlicher Vertreter in der Diskussion um eine inklusive Umstrukturierung des Bildungssystems beschränken sich häufig auf schulstrukturelle und institutionelle Aspekte (Hinz 2009). In der Sprachheilpädagogik führte diese Orientierung zu Positionen und Diskursen, die sich Vorwürfen der institutionellen Bestandswahrungen und der disziplinären Strukturerhaltung ausgesetzt sahen (vgl. Motsch 2008). Lütje-Klose (1997, 17) stellte daher früh fest, dass sich die integrative Pädagogik „seit Mitte der 70er Jahre weitgehend ohne Beteiligung der Sprachbehindertenpädagogik [entwickelte].“ Ein integrativer Anspruch in der Fachrichtung reduzierte sich auf die Integration von exklusiven Techniken in den allgemeinbildenden Unterricht (vgl. Braun 1991, 211). Zwar stellte Orthmann bereits 1969 die Nachrangigkeit des Förderorts heraus, reduzierte die Entwicklung integrativer Konzepte aber auf die therapiedidaktische Frage nach den „Verbindungsstrukturen“ (Werner 1995, 111). Lütje-Klose (1997, 19) forderte daher Konzepte und individualisierte Methoden der Sprach- und Kommunikationsförderung, die „die Gemeinsamkeit aller in der Klasse – Kinder, LehrerIn und SprachpädagogIn – unterstützt statt sie zu stören.“ Diese Konzepte haben sich mittlerweile etabliert (vgl. Reber/Schönauer-Schneider 2017; Lüdtke/Stitzinger 2017; Mahlau 2018).
Unterricht und Sprachtherapie
Das Verhältnis der Handlungskategorien des Unterrichts, der individualisierten Förderung und der rehabilitativen Sprachtherapie steht seit der Konstitution der Fachrichtung im Mittelpunkt der Diskussion um das Selbstverständnis der Sprachheilpädagogik (Werner 2001; Baumgartner 2006; Mußmann 2011).
cross-kategorale Perspektiven
Dezidiert integrative und förderschwerpunktübergreifende bzw. sogenannte cross-kategoriale Perspektiven aus dem angloamerikanischen Bereich blieben aber in der Sprachheilpädagogik mit Ausnahme weniger Autoren (z. B. Romonath/Prüser 1995; Bindel 2007) weitgehend unberücksichtigt. Ansätze wie der Life-Related und der Life Participation Approach der angolamerikanischen Speech and Language Pathology griffen jedoch den Begriff der Inclusion für die Konzeptionierung einer Communication Therapy sehr früh auf (insbesondere Calculator/Jorgensen 1994; indirekt auch McLean/Snyder-McLean 1978; Nelson 1995; Duchan 2000). Sie konzeptionierten spezifische Methoden, die sich an den individuellen Entwicklungsbedingungen, Problemlagen und der subjektiv empfundenen Lebensqualität der Menschen mit Sprachbeeinträchtigungen orientierten. Solche Methoden sind mit Bezug auf die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der World Health Organisation (WHO 2005), im deutschsprachigen Raum erst seit einigen Jahren zu finden (z. B. Rapp 2007; Neumann/Romonath 2008; Grötzbach/Iven 2009; Kolonko/Hunziker 2013) und beschränken sich entweder auf den außerschulischen Bereich der Logopädie oder blieben in der Pädagogik bei Sprachbeeinträchtigung gerade mit Blick auf schulische Kontexte lange Zeit unbeachtet (vgl. Lüdtke/Bahr 2002).
sprachtherapeutischer Unterricht als integratives Konzept
Die lange Phase der Stagnation der Fachrichtung verwundert, da es in der Vergangenheit verschiedene empirische und theoretisch-konzeptionelle Versuche gab, substanzielle Beiträge zur Integrationsdiskussion der vergangenen Jahrzehnte zu leisten. Nicht zuletzt das Kernstück sprachheilpädagogischen Handlungswissens, das Konzept des „sprachtherapeutischen Unterrichts“, wurde von Braun implizit als integratives Konzept definiert:
„Grundsätzlich ist sprachtherapeutischer Unterricht nicht an die Schule für Sprachbehinderte gebunden, er kann auch in anderen sprachheilpädagogischen Organisationsformen praktiziert werden. Das Konzept ist institutions- bzw. lernortunabhängig“ (Braun, 2004, 50).
Vereinbarkeit von Bildungsauftrag und Therapieanspruch
Das didaktische Dilemma, Bildungs- und Heilauftrag in einer Handlungskategorie und in einer Organisationsform des Bildungssystems zu vereinen, stellte die professionstheoretische Entwicklung der Sprachheilpädagogik vor eine ressourcenaufwendige Herausforderung. Statt das störungsspezifische Reflexions- und Handlungswissen zur Identifikation der relationalen Qualität von Sprachbehinderung zu nutzen, um angepasste Bildungsangebote zu entwickeln, wurden Interventionsformen zur Eliminierung und Kompensation dieser Sprachstörungen abgeleitet, deren immanenter Bildungsanspruch nur mittelbar zu erschließen war.
integrierte Selektion
Reiser sieht in einem solchen Verständnis sonderpädagogischer Arbeit eine „Serviceleistung“, die „allzu oft in die ‚integrierte Selektion’ mündet, statt in die Unterstützung der regelpädagogischen Lehrkräfte bei der Einbeziehung der Kinder. […] Unter dem Druck der selektiven Tendenzen des deutschen Bildungssystems“ fand eine „qualitative Deformierung“ des integrativen Anspruches statt:
„Sonderpädagogen arbeiten z. B. in Grundschulen mit etikettierten Kindern in besonderen Gruppen, das heißt äußere Differenzierung als versteckte Selektion unter Firmierung Integration“ (Reiser 2003, 306).
„Ressourcen-Förderungs-Dilemma“
Damit entstand eine „Exklusivität der Disziplin Sonderpädagogik, die [die] Inklusion der Personen, die sie als ihr Klientel betrachtet, [verhindert]“ (Reiser 2003, 311). In diesem Zusammenhang diagnostizierte Hinz (2004, 245) „eine paradoxale Tendenz: Mit immer mehr Integration nehmen die Special Education Needs – in Deutschland der sonderpädagogische Förderbedarf – immer weiter (…) zu.“ Dies wurde von Füssel/Kretschmann (1993) als das so genannte „Ressourcen-Förderungs-Dilemma“ beschrieben.
pauschale Ressourcenzuweisung im inklusiven System
Um dieses Dilemma zu lösen, sollen sonderpädagogische Ressourcen für einen inklusiven Unterricht nicht mehr nach festgestelltem sonderpädagogischen Förderbedarf verteilt werden, sondern sie sollen pauschal den Schulen, gebunden an die Anzahl schulpflichtiger Kinder, zugewiesen werden. Die administrative Leitung und Organisation der Regelschule und sonderpädagogischen Unterstützung sollen in einer verantwortlichen Hand liegen; in Abhängigkeit der Gesamtschülerzahl einer Regelschule unabhängig spezifisch ermittelter Unterstützungsbedarfe „werden basale Stellenvolumen für Sonderpädagogik vorgehalten, vor allem in den Bereichen Lernen, Verhalten und Sprache“ (Preuss-Lausitz 2008, 460).
Internationale Entwicklung?
Der Sonderpädagoge mit einem Förderschwerpunkt Sprache ist in diesem Modell Mitglied des Kollegiums der Regelgrundschule und nicht mehr primär unterrichtender „Sprachheillehrer“, sondern Berater und Kooperationspartner im Regelschulteam. „Damit findet eine Annäherung der Berufsrolle an die internationale Entwicklung statt“ (Grohnfeldt/Romonath 2005, 271). Diese Entwicklung wird mit dem Einwand der De-Professionalisierung kritisch diskutiert (Motsch 2008).
1.3 Grenzen der Inklusion im Bildungssystem
Inklusiver Unterricht, der Chancengleichheit für Schüler mit Beeinträchtigungen ermöglichen will, muss sich mit den Fähigkeitseinschränkungen durch die individuellen Beeinträchtigungen der Schüler auseinandersetzen, die zu Behinderungen an der Teilhabe im Unterricht führen können. Diese diagnostische Auseinandersetzung mit den Dimensionen einer Behinderung, also den möglichen körperstrukturellen und -funktionellen Schädigungen, den personenbezogenen Aktivitätsbeschränkungen und Teilhabeeinschränkungen, zeigt die Grenzen des inklusiven Unterrichts im Bildungssystem auf.
ICF
Als Grundlage für die Beschreibung dieser Dimensionen dient die „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Sie soll eine länder- und disziplinübergreifende, einheitliche Sprache zur Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der sozialen Dimension der Behinderung, der individuellen Beeinträchtigungen und der behindernden Umgebungsfaktoren einer Person gewährleisten. In der Sprachheilpädagogik wurde bereits 2003 von Lüdtke/Bahr die ICF zur Beschreibung der Wechselwirkung von individuellen Funktionseinschränkungen und behinderten Entwicklungsbedingungen herangezogen (Lüdtke/Bahr 2002). Mit diesem Klassifikationssystem wird deutlich, welche pädagogisch relevanten Variablen in der Unterrichtsgestaltung berücksichtigt werden können und welche nicht (→ Abbildung 2).
Abb. 2: Dimensionen einer Sprachbehinderung
ICF und Sprachbehinderung
Das Klassifikationssystem beschreibt fünf unterschiedliche Komponenten, die die Dimensionen einer Behinderung darstellen. So können einer Sprachbehinderung geschädigte Körperstrukturen (Anatomie der Sprechwerkzeuge oder Hirnschädigungen) oder körperliche Dysfunktionen (Sprechmuskulatur) zugrunde liegen. Aufgrund organischer Bedingungen, aber ebenso durch nicht-organische, entwicklungshemmende Faktoren der Umwelt (Vernachlässigung, Lernmodelle) können die individuellen Möglichkeiten zur sprachlichen Aktivität (z. B. Aussprache, Wortschatz, Gesprächsfähigkeit) eingeschränkt sein. Dies kann Beschränkungen in der Teilhabe in einzelnen Lebensbereichen, Alltags- oder Unterrichtssituationen mit sich führen.
Sprachbehinderung und Benachteiligung
Ob diese Benachteiligung in der Teilhabe an einzelnen Kommunikationssituationen zu einer Behinderung des Kindes führt, hängt maßgeblich von den Umweltfaktoren ab, also den Erwartungen und Anforderungen der Kommunikationspartner, aber auch von den gesellschaftlichen Normen vom Sprachgebrauch und der -beherrschung sowie der Einstellung der betroffenen Person zu sich selbst und zu seiner Einschränkung.
Abb. 3: Relationale Qualität einer Sprachbehinderung
relationale Qualität der Sprachbehinderung
Es zeigen sich die relationale Qualität einer Sprachbehinderung (→ Abbildung 3) und die Möglichkeiten der Ansatzpunkte sonderpädagogischer Unterstützungsangebote. Die „Sprachbehinderung“ ist eine Behinderung der gemeinsamen Kommunikation und ergibt sich aus dem individuellen „Können“, dem „Lassen“ der Kommunikationspartner und ihren Erwartungen und Anforderungen („Sollen”) sowie dem „Wollen“ des Schülers mit Sprachbeeinträchtigungen und seinen Erwartungen an sich und seinem Vertrauen in sich selbst. An allen drei Punkten kann sonderpädagogische Unterstützung ansetzen:
•durch Förderung, um zum „Wollen“ zu motivieren,
•durch Beratung, um andere zum „Lassen“ zu motivieren und um das „Sollen“ zu reflektieren und
•durch spezifische Sprachförderung, um zum „Können“ zu verhelfen.
Es hängt von den didaktischen Konzepten der Schulen und den methodisch geschaffenen Freiräumen ab, ob und in welchem Umfang im Unterrichtverlauf einer inklusiven Schule personenbezogene und kontextbezogenen Interventionen möglich sind. Beziehen sich sonderpädagogische Bildungsangebote jedoch ausschließlich auf die Adaption der Lernangebote und Entwicklungsbedingungen, können Grenzen inklusiven Unterrichts auch für Schüler mit spezifischen Sprachbeeinträchtigungen erreicht werden.
„mittendrin“ reicht nicht aus
Denn inklusiver Unterricht für heterogene Lerngruppen ermöglicht Teilhabe am Unterricht in heterogenen Lerngruppen, mehr nicht. Das „Mittendrin“ kann aber nicht die einzige Maxime eines inklusiven Unterrichts sein. Bei der Frage, wie sich Unterricht hinsichtlich seiner Zieldifferenzierung und Anforderungen an die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Schüler mit Beeinträchtigungen anpassen muss, muss geklärt werden, welche Lernbedingungen überhaupt zu Barrieren und damit zur Behin-derung des Schülers mit individuellen Beeinträchtigungen führen können.
Analyse Kind – Umfeld
Sonderpädagogische Diagnostik hat Umwelt, Kind und Problem gleichermaßen im Auge. Sie soll die relationale Qualität der Sprachbehinderung klären, also wie sich durch nicht erfüllte Erwartungen und Anforderungen der personellen Umwelt an sprachliches Handeln die Behinderungen an der Teilhabe ergeben. Sonderpädagogische Unterstützungsangebote fokussieren auf dieser Grundlage durch Beratung und Unterrichtsdidaktik diese Umweltfaktoren als hemmende Entwicklungsbedingungen und, sofern methodisch und didaktisch möglich und inhaltlich sinnvoll, mit spezifischen Interventionen und Hilfen die eingeschränkten sprachlichen Fähigkeiten des Schülers. Inklusiver Unterricht und die inklusive Schule stoßen hier an ihre Grenzen, wenn der Anspruch erhoben wird, dass eben diese personenbezogenen Interventionstechniken langfristige sprachrehabilitative Funktion haben sollen. Unterricht, der barrierefreie Bildungsangebote für alle Schüler bereithalten soll, muss im Bedarfsfall exklusive Individualangebote reservieren, wenn adaptiver Unterricht dem individuellen Bedarf eines Schülers mit Sprachbeeinträchtigungen nicht mehr gerecht wird und integrierte oder ggf. additive sprachtherapeutische Hilfen notwendig werden. Es ist fragwürdig, wenn beispielsweise massive grammatische und Aussprachestörungen, die zur Behinderung der Unterrichtskommunikation führen und keine Verständigung ermöglichen, „als Teil der Vielfalt menschlichen Lebens“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2009) wahrgenommen werden sollen.
Bagatellisierung
Oftmals werden Sprachauffälligkeiten bagatellisiert („Das wächst sich raus!“). Menschen mit nicht deutlich wahrnehmbaren Beeinträchtigungen wird eine „projektive Empathie“ (Benecken 2004, 624) entgegengebracht und der Auffälligkeit wird eine einfache Selbst- und Fremdbewältigung unterstellt, die keiner professionellen Unterstützung bedarf (Bleidick/Hagemeister 1998; Vernooij 2000). Nicht zuletzt können Schüler mit Verhaltens- und Sprachauffälligkeiten Spott oder Abneigung erzeugen, wie z. B. Untersuchungen von Huber (2009) zeigen.
soziale Integration
Es ist naheliegend, welche Anforderung an Lehrkräfte einer inklusiven Schule hinsichtlich Klassenklima, Akzeptanz und Wertschätzung gestellt werden, wenn z. B. sprachauffällige Drittklässler auf Äußerungen eines stotternden Mitschülers wie z. B. „Po-po-polizei“, „Pi-pi-pistole“ oder „A-a-aber“ reagieren (Benecken/Spindler 2004). Eine Untersuchung zur psychosozialen Situation stotternder Schulkinder in Allgemeinschulen von Benecken/Spindler (2004) zeigt diese Schwierigkeiten der sozialen Integration in Schulklassen auf. Zwar ist die Häufigkeit stotternder Schulkinder mit ca. 4 % relativ gering, dennoch sind die Befunde zu berücksichtigen. Mit einer Fragebogenerhebung zu subjektiv als Mobbing empfundenen schulischen Erlebnissen (n=100, Kontrollgruppe n=100) kamen die Autoren zu dem Ergebnis, dass nach Angaben der Befragten 75 % in ihrer Schulzeit gemobbt worden sind. Am häufigsten wurde diese Erfahrung im Alter zwischen 11 bis 13 Jahren gemacht. Etwas mehr als 10 % gaben an, auch im Grundschulalter solche negativen Erfahrungen gemacht zu haben. In einer Untersuchung kommen Gerbig et al. (2018) zu dem Ergebnis, dass sich 39 % der Kinder im Alter zwischen vier und zwölf Jahren (n=12) mit Sprachentwicklungsstörung in der Selbstwahrnehmung als Opfer von Mobbing-Prozessen erleben. Pädagogische Fachkräfte beschreiben aus ihrer Perspektive, dass sie 51 % dieser Kinder Mobbing-Prozessen ausgesetzt sehen. Diese Ergebnisse korrespondieren mit einer Untersuchung zu Schülern mit festgestelltem sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich des Lernens, die in allgemeinen Schulen unterrichtet werden und in erheblichem Umfang soziale Ausgrenzung erfahren (Huber 2009).
Akzeptanz und Toleranz durch Beratung
Diese Beispiele und Befunde zeigen auf, welche übergeordneten und langfristigen Ziele in der Beratung und Kooperation mit Regelschullehrkräften, die inklusiven Unterricht gestalten, durch Sonderpädagogen erreicht werden müssen, um sprachliche und kommunikative Barrieren und behindernde Bedingungen im Unterricht zu vermeiden.
Die Veränderung der Erwartungshaltung der Lehrkräfte und die Schaffung von Akzeptanz und Wertschätzung sprachlicher und sprecherischer Vielfalt in der Lerngruppe sind Ziele der Beratung in der Kooperation von Regelschullehrkräften und Sonderpädagogen. Sie können Lernbedingungen für sprachbeeinträchtigte Schüler darstellen, unter denen eine sprachtherapeutische Intervention in der Schule nachrangig wird.
Toleranz ändert nicht die Beeinträchtigung
Ein geeignetes Klassenklima kann ein Kind mit kaum verständlicher Lautsprache zur Äußerung ermutigen, ändert aber nichts an der konkreten Einschränkung seiner sprachlichen Handlungsfähigkeit. Ist die sprachliche Handlungsfähigkeit in einem Ausmaß beeinträchtigt, dass die Teilhabe an einzelnen Unterrichts- und Kommunikationssituationen nicht mehr möglich ist, sind exklusive (nicht exkludierende) individualisierte Maßnahmen der Unterstützung notwendig. Dann gerät der inklusive Unterricht personell, konzeptionell und didaktisch an seine Grenzen.