Читать книгу Body-Bilder - Jörg Scheller - Страница 5
Prolog
ОглавлениеIm Jahr 2015 hatte Markus Rühl genug. In einer Reihe von YouTube-Videos nahm sich der frühere Profi-Bodybuilder »Fitness-Hipster auf YouTube« zur Brust.1 Was diese auf ihren Kanälen über Muskelaufbau, Ernährung, Trainingsprinzipien zu sagen hätten – »alles Bullshit«.2 Seitdem hat Rühl, der als einer der extremsten Bodybuilder (»Massemonster«) aller Zeiten gilt, seine Kritik in diversen Rants, wie sie die Sozialen Netzwerke lieben, wiederholt. So sagte er 2018 auf YouTube: »Das Schlimmste ist, wenn ich irgendwelche YouTuber sehe, die pausenlos irgendwelche verblödeten Vlogs raushauen, irgendwelche Tutorials, meine Top-3-XY-Zutaten, Mahlzeiten, Supplements. […] Dagegen verwehre ich mich, ich will Content bringen, ich will Dinge zeigen, die euch interessieren, und ich glaube, manchmal ist weniger mehr. […] Das ist wichtiger, als permanent kleine Videos hochladen, um mit aller Gewalt noch 10 000 Klicks zu generieren, damit vielleicht noch einmal 3,50 Euro aufs Konto überwiesen werden.«3
Aus Rühls Sicht sind die Sozialen Netzwerke mit ihren User Generated Contents für die Bodybuilding- und Fitness-Kultur insofern schädlich, als sie zu Schnelllebigkeit, Oberflächlichkeit, Eitelkeit und Substanzlosigkeit führen. Rühls Motto, das er auch auf T-Shirts drucken lässt, lautet »stabil«. Seine Invektiven folgen den Mustern der konservativen Kulturkritik, die durch Technologie- und Medieninnovationen hervorgerufene Übergangsperioden als Verfallsphasen einstuft. So kontrastiert Rühl die für ihn problematische Körperkultur in der Ära der Sozialen Netzwerke mit dem Goldenen Zeitalter des Old-School-Bodybuildings, als man einfach so viele Kilo wie möglich auf der Bank drückte, dazu AC/DC hörte und Thunfisch direkt aus der Dose futterte. Bodybuilding ist für ihn nicht nur eine Form der Körperoptimierung, sondern auch ein Lebensstil, den es zu wahren gilt.
Vielsagend ist, dass Rühl seine Kritik wiederum in den Sozialen Netzwerken äußert. Wie konservative Kulturkritiker einst die moderne Technologie der Schreibmaschine nutzten, um mit der Moderne abzurechnen, nutzt auch er die neuesten Produktionsmittel. Der Darmstädter ist nicht nur auf YouTube, sondern auch auf Instagram und Facebook aktiv. Auf allen diesen Plattformen hat er jeweils mehrere hunderttausend Follower und Abonnenten (Stand August 2020). Der 1972 geborene geschickte Selbstvermarkter ist somit alles andere als eine Randfigur jener digitalen Fitness- und Bodybuilding-Szene. Rühls Kritik ist Teil dessen, was sie kritisiert. Während der Bodybuilder Fitness-Influencer angreift, empfiehlt er auf seiner Internetseite unter »mein persönlicher YouTube-Tipp«, der Athletin Anna Maier »im Web, auf YouTube, Instagram und Facebook« zu folgen.4 Allerdings mit dem Hinweis: »Garantiert kein Fitness-Hipster!« Nicht das »Was« der neuen medialen Umwelt, sondern das »Wie« steht also im Zentrum seiner Kritik.
Man könnte Rühl in Anlehnung an den durch den Irakkrieg des Jahres 2003 zu trauriger Berühmtheit gelangten »Embedded Journalist« als »Embedded Critic« bezeichnen. Durch Zuspitzung generiert seine Kritik am Umgang mit den Sozialen Netzwerken zuverlässig Follower, Likes und Kommentare in den Sozialen Netzwerken. Aus der vordigitalen Ära des Bodybuildings stammend, nutzt Rühl seine Erfahrungen in selbiger, um in der nach Authentizität strebenden Online-Ära eine Unique Selling Proposition zu entwickeln: Ich habe schon im analogen Zeitalter gepumpt, das macht mich noch authentischer als heutige Influencer! Entsprechend gehören kommentierte, nostalgisch angehauchte YouTube-Rückblicke auf seine frühen, auf VHS-Kassetten veröffentlichten Trainingsvideos zum Programm. Damit exemplifiziert Rühls Auftreten in den Sozialen Netzwerken die Dialektik eines jeden Medienwandels, wie sie Marshall McLuhan umrissen hat: »Kein Medium hat Sinn und Sein aus sich allein […], sondern nur aus der ständigen Wechselwirkung mit anderen Medien«.5