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Pumping Icon. Das Leben der Bilder im Gym
ОглавлениеWie hat sich der öffentliche Umgang mit dem Körper durch die digitalen Medien, vor allem durch die Sozialen Netzwerke, in der Fitness- und Bodybuildingkultur des 21. Jahrhunderts verändert? Welche neuen Body-Bilder hat die Digitalisierung geprägt, und wie verhalten sie sich zu älteren Körperbildern? Dieses Buch versucht, Antworten zu geben. Zunächst werde ich die veränderten Bildkulturen in Fitnesscentern und Krafträumen (im Folgenden: Gyms) unter den Bedingungen der Digitalisierung analysieren. Auch Tattoos werden dabei eine Rolle spielen. Anschließend erläutere ich vor dem Hintergrund der Corona-Lockdowns, Massenquarantänen oder Kontaktbeschränkungen 2020, welche Arten von Fitness und damit verbundenen Body-Bildern in den Sozialen Netzwerken populär geworden sind, nicht zuletzt im Hinblick auf Kontinuität und Wandel im Training von Frauen und Männern. Ein weiterer Fokus wird auf den historischen Wegbereitern des nicht nur in den Sozialen Netzwerken boomenden Funktionellen Trainings – kurz gesagt alltags- und sportartrelevanter Bewegungsübungen – liegen. Zudem werfe ich vergleichende Seitenblicke auf den Kunstbetrieb. Den Yoga- und Wellnessboom klammere ich aus Platzgründen aus. Der Schwerpunkt liegt auf YouTube und auf dem Indoor-Bereich. Vorausschicken möchte ich ein paar allgemeine Bemerkungen zu den Bildkulturen in Gyms.
#1 Fototapete im Gym Fitness Point Poznań, 2019
Fotografisch und videografisch erzeugte Bilder sind in Gyms die Normalität. Klein- und großformatige Reproduktionen von Vor-Bildern wie Arnold Schwarzenegger, Jenny Worth oder namenlosen Models schmücken Gym-Wände weltweit, ob in jüngeren Franchises wie MC Shape oder im 1965 gegründeten Gold’s Gym in Venice, Kalifornien. (# 1) zeigt eine Fototapete (2020) im Gym Fitness Point in der polnischen Großstadt Poznań mit einem Porträt Arnold Schwarzeneggers. Obwohl es sich um ein 2014 eröffnetes, zentral gelegenes Mainstream-Studio in einem Einkaufszentrum handelt, sind Fotos aus der sogenannten goldenen Ära des Bodybuildings der Männer in den Siebzigerjahren allgegenwärtig. Bodybuilderinnen hingegen, die ungleich kontroverser diskutiert werden, sind nicht abgebildet, anders als Teilnehmerinnen an einem Schönheitswettbewerb.
Vor allem im Cardio-Bereich sind Bildschirme, auf denen Sportshows, Musikvideos oder Nachrichtensendungen abgespielt werden, seit Jahrzehnten fester Bestandteil in Gyms. In neueren Trainingsgeräten, etwa Crosstrainern, sind individuelle Screens integriert. Oft handelt es sich um Touchscreens mit Audioausgang, über die auch auf das Internet zugegriffen werden kann. In luxuriösen Gyms wie dem Oxygen Gym Kuwait werden Flatscreens für besonderen Enter- und Infotainment-Komfort direkt auf die Bedienkonsolen einzelner Geräte aufgesteckt. Hinzu kommen, in fast allen kommerziellen Gyms, verspiegelte Wände, auf denen die Trainierenden sich selbst und dem Mikrokosmos des Gyms als Bild begegnen. Schließlich arbeiten die meisten Trainierenden daran, mit ihrem Körper ein gutes Bild abzugeben und einem bestimmten Körperbild zu entsprechen.
Wer im Gym trainiert, trainiert folglich als Bildner mit Bildern als Sparringspartnern. Im Gym messen sich die Trainierenden mit Bildern, sie lassen sich von Bildern inspirieren, von Bildern deprimieren oder ablenken. Darin unterscheiden sich Gyms von gewöhnlich bildärmeren Trainingsstätten wie Sportplätzen oder Mehrzwecksporthallen. Schon in den ersten Gyms des 19. Jahrhunderts zierten Bilder oder Büsten von Athleten sowie anatomische Darstellungen die Wände, etwa in Eugen Sandows Sandow Institute in London oder im 1853 gegründeten Sozialistischen Turnverein in Milwaukee, Wisconsin.
In struktureller und funktioneller Hinsicht ähnelt die von den Betreibern kuratierte – nicht zwingend aber die von den Nutzern über individuelle Screens gesteuerte – Bildkultur im Gym der Bildkultur in katholischen Kirchen. Das sakrale Bildprogramm lädt zur Imitatio Christi ein. Die profanen Körper-Bilder des Gyms rufen auf zur Imitatio Arnoldi. In beiden Fällen hat das Bild nicht nur die Funktion eines Vor-Bilds, das zur Verkörperung eines bestimmten Welt-Bildes animiert, sondern auch die eines Mementos. Nicht im Sinne des Memento mortis, wie es im Mittelalter gebräuchlich war, sondern in dem eines modernen biopolitischen Memento vitae: Sei dir deiner Lebendigkeit bewusst! Bedenke, dass du leben sollst, ja leben musst!
Vielsagend in diesem Zusammenhang ist Gottfried Boehms bildphilosophischer Hinweis darauf, dass »Bilder […] Prozesse [sind], Darstellungen, die sich nicht darauf zurückziehen, Gegebenes zu wiederholen, sondern sichtbar zu machen, einen ›Zuwachs an Sein‹ (Gadamer) hervorzubringen. Ihre Existenz orientiert sich am ›Lebendigen‹ (Zoon), das die Griechen, woran Gadamer erinnert, als Name für das Bild gebrauchten.«6 Im Gym kann dieser »Zuwachs an Sein« sowohl auf die Funktionalität des Körpers wie auch auf die ästhetische Transformation als Selbstzweck bezogen sein. Vielleicht wäre die Formulierung »Zuwachs an Dasein« eher angebracht.
Mit der Digitalisierung und der massenhaften Verbreitung von Smartphones ist die Bildkultur im Gym noch lebendiger geworden – im körperlichen Sinne. Attestiert man bildanthropologischen Spekulationen, denen zufolge die Bildproduktion am Körper begonnen und sich dann von ihm gelöst habe, eine gewisse Plausibilität, so findet im Gym seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine doppelte Wiederannäherung der Bilder an die Körper statt:
Zum einen findet Bildproduktion sowohl mit dem als auch am Körper statt, hin zur lebendigen Statue (seit dem 19. Jahrhundert und verstärkt im 20. Jahrhundert).7 Dabei werden nicht nur, wie zuvor, Haut und Haare, sondern auch die darunterliegenden Muskelfasern systematisch geformt. Die bildnerische Körpergestaltung erfolgt von innen nach außen; die Struktur der Tiefe prägt die Ästhetik der Oberfläche.
Zum anderen werden Inszenierung, Reproduktion und Distribution des geb(u)ildeten Körpers im (post-)fotografischen Bild mithilfe von Digital Gadgets, die direkt am Körper getragen werden, vorangetrieben (seit dem 21. Jahrhundert).
Die erste Form der Wiederannäherung der Bilder an die Körper ist typisch für liberale Wohlstandsgesellschaften. Diese begünstigen die ästhetische Formung des Körpers als lebendige Skulptur: Bodybuilder sind Body-Bilder.8 Die Anfänge der westlich-modernen, urban geprägten Gym-Kultur liegen in der zweiten, tendenziell materialistisch orientierten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Fitness-Pioniere wie der preußische Kraftsportler Eugen Sandow – er prägte den Begriff »Body Building« – und der Arzt Gustav Zander mit Maschinen, Geräten sowie freien Gewichten ausgestattete Trainingsinstitute gründeten, auf denen alle heutigen Gyms basieren. Insbesondere dem Schöngeist Sandow ging es nicht nur darum, fit zu werden, sondern auch darum, ein gutes Bild abzugeben, im doppelten Sinne »in Form« zu sein.
Die massenwirksame Demokratisierung der ästhetischen Formung des Körpers durch systematisches Training vollzog sich mit der angloamerikanischen Konsumkultur der Postmoderne. Sie ist Ausdruck der von Warren Susman analysierten Entwicklung von einer in Europa dominierenden »culture of character« hin zu einer US-amerikanisch geprägten »culture of personality« seit Beginn des 20. Jahrhunderts.9 Erstere setzte primär auf Innerlichkeit und Moral, letztere vermehrt auf Öffentlichkeit, Kommunikation, Inszenierung und Selbstvermarktung. In den Sozialen Netzwerken hat die »culture of personality« ihren vorläufigen Kulminationspunkt gefunden.
Auf YouTube, Instagram, TikTok und Co. lässt sich die zweite Form der Wiederannäherung der Bilder an die Körper mitverfolgen. Dort sind die im gleichen Zuge produzierenden wie konsumierenden Subjekte, in den Worten des Soziologen Andreas Reckwitz, Teilnehmer am »umfassenden sozialen Attraktivitätsmarkt, auf dem ein Kampf um Sichtbarkeit ausgetragen wird, die nur das ungewöhnlich Erscheinende verspricht. Die Spätmoderne erweist sich so als eine Kultur des Authentischen, die zugleich eine Kultur des Attraktiven ist.«10 Dieser Kampf ist zwar nicht neu. Verändert haben sich aber die quantitative Dimension, die Intensität und die technologisch-medial-soziale Umwelt, in dem er stattfindet. »Attraktiv«, also anziehend, sind im Sichtbarkeitskampf auch Menschen wie Rühl, die gezielt ein Freak-Image aufbauen und vermarkten. Als »ungewöhnlich« wiederum dürfen paradoxerweise auch diejenigen Körper gelten, die der Schönheitsnorm entsprechen, da normalerweise wenige Menschen normkonform sind. Norm ist nicht Normalität.
Eine entscheidende bildkulturelle Neuerung der Digitalisierung besteht darin, dass die immer kleineren, immer leichteren Bildapparate ständig unmittelbar am zu b(u)ildenden Körper getragen werden. Bildproduktion und Körperproduktion gehen im Gym – aber nicht nur dort – eine immer engere Liaison ein. Vielleicht wird die Kamera dereinst im buchstäblichen Sinne zur Handkamera werden; wird das Foto-Equipment in unser Fleisch implementiert wie heute schon Chipkarten, mit denen sich Türen öffnen und Produkte bezahlen lassen. Das ist die »Nature of Technology«, die W. Brian Arthur in seinem gleichnamigen Buch analysiert hat: Technologien werden immer »biologischer«, das heißt, sie lernen, passen sich unterschiedlichen Situationen an und reparieren sich selbst. Die Grenzen zwischen Natur und Technologie verschwimmen.11
Kehrte mit dem Wohlstand, der Liberalisierung und der Demokratisierung in der westlichen Moderne zuerst die Selbstinszenierung auf die Leinwand des Fleisches zurück, so folgen nun die Bildapparate. Marshall McLuhans Diktum, Medien seien Extensionen des Körpers und seiner Funktionen, erfährt hier eine konkrete Bestätigung. Der Body-B(u)il-der mit Smartphone mag kein »Prothesengott« (Sigmund Freud) sein (Göttinnen und Builderinnen sind mitgemeint). Aber vielleicht ist er ja ein moderner Prothesenprometheus. In jedem Fall ist er ein Teilzeit-Cyborg.
In prädigitalen Zeiten klaffte ein zeitlicher und oft auch räumlicher Riss zwischen der Produktion des fotogenen Körpers durch Training und Reproduktion dieses Körpers durch Bilder. Fotografierten oder filmten sich Trainierende vor dem Aufkommen handlicher Digitalkameras und Smartphones nach dem Workout oder, unter hohem Aufwand, punktuell während des Workouts, so kann heute der gesamte Trainingsprozess ohne große Mühe und ohne fremde Hilfe in Echtzeit dokumentiert, am selben Ort ausgewertet, bearbeitet und sofort mit anderen, räumlich weit entfernten Menschen über das Internet geteilt werden (# 2). Mit Felix Stalder gesprochen: »Der raumzeitliche Horizont der digitalen Kommunikation ist eine globale, das heißt ortlose Dauergegenwart. Die technische Vision der digitalen Kommunikation ist immer das Hier und Jetzt.«12 Auch Peter Sloterdijks Begriff der »Synchronwelt«, mit dem er das jüngste, primär (informations-) technologisch geprägte Stadium der Globalisierung charakterisiert, bietet sich in diesem Zusammenhang an.13
Das Addictive Design von Smartphones und Sozialen Netzwerken erhöht im Gym das Tempo der Synchronisierung von bildnerischer Arbeit am eigenen Körper und Kommunikation ebendieser Arbeit. Grundlage dessen ist ein Aspekt, der auch einen der Hauptgründe für die Attraktivität des Trainings im Gym darstellt: die im Vergleich zu anderen sportlichen Betätigungen hohe positive Verstärkung (Positive reinforcement) des individuellen Tuns. Aus verhaltensbiologischer und -psychologischer Sicht ermöglicht es das Training im Gym, Stolz auf eine genuine Eigenleistung zu entwickeln. Im Gym lassen sich erbrachte Leistungen personalisieren: Ich habe diese Hantel gehoben, dadurch ist mein Bizeps gewachsen. Darin unterscheidet sich die Gym-Kultur nicht nur von der arbeitsteiligen Erwerbswelt, sondern auch von der Welt des Teamsports, in welcher Erfolg und Misserfolg vom Zusammenspiel aller Beteiligten abhängen.
#2 Fitness-Influencerin Nicole von Schwiler (rechts) im Gym, 2016
Aus dem mit der Eigenleistung einhergehenden positiven Empfinden des Stolzes, kombiniert mit gleichzeitigem Defizitbewusstsein (the sky is the limit), erwächst ein Anreiz, immer intensiver zu trainieren. Kommt das Smartphone als Bildproduktions- und Distributionsmaschine, die wiederum individuell bedient wird, im Verbund mit den Sozialen Netzwerken hinzu, so wird die intrinsische Motivation der Trainierenden, das sogenannte Seeking System, zusätzlich stimuliert. Likes, Retweets und Kommentare erhöhen die Spannung, versprechen einen nie versiegenden Strom von Neuem und Zufälligem, der den berechenbaren, repetitiv-rituellen Charakter des Individualtrainings im Gym dialektisch ergänzt: »In den Sozialen Medien jagen Nutzer dem Dopamin-Kick hinterher, den sie verspüren, wenn jemand ihre Äußerungen ›liket‹, und diese ›Likes‹ verstärken dieses expressive Verhalten, das zum Teufelskreis des Weitermachens [engagement] führt.«14 Die Folge ist ein immer schneller getaktetes Wechselspiel von Körper- und Bildproduktion sowie (Körper-)Bildkommunikation bis hin zur annähernden Gleichzeitigkeit im Extrem-, also Suchtfall. Pumpen, Posieren, Posten, Pumpen, Posieren, Posten, Pumpen, Posieren, Posten …
Smartphones, aber auch handliche Digitalkameras oder GoPro-Kameras mit Bluetooth-Schnittstelle kitten den zeitlichen Riss zwischen Körperproduktion und Bildproduktion, wie in der Medizin oder im Enhancement Implantate den räumlichen Riss zwischen Fleisch und Technologie kitten. Darüber hinaus kombinieren die digitalen Bildmaschinen die Flüchtigkeit des Spiegelbildes – die Frontkamera kann zur Selbstbetrachtung genutzt werden, Live-Streaming-Apps ›spiegeln‹ das Geschehen annähernd zeitgleich in andere Räume – durch ihre Speicherfunktion mit dem traditionellen So-ist-es-gewesen des fotografischen Bildes. Wie eingangs erwähnt, sind Spiegel Standardelemente aller Gym-Architekturen. Sie wirken dahingehend kongenial mit dem »Leben«, dessen Kräfte im Gym gesteigert werden sollen, als Spiegelbilder zum einen an die physische Präsenz des Körpers gebunden sind, zum anderen als Nachfahren natürlicher, vom »Leben selbst« produzierter Bilder gelten können; man denke etwa an Spiegelungen auf Wasseroberflächen: »Der Spiegel ist ein statisches Objekt, in dem sich dennoch die Bewegung der Welt abbildet.«15
Spiegelbilder haben aus Sicht der Trainierenden jedoch klare Defizite. Sie sind so flüchtig wie das Leben selbst. Und das Flüchtige, so die platonisch gefärbte Annahme, ist nicht wahr. Als ich im September 2019 den dreimaligen Mr.-Olympia-Gewinner Frank Zane in seinem Haus in La Mesa bei San Diego besuchte, betonte der Bodybuilder die herausragende Rolle fotografischer Bilder für die Entwicklung seiner legendären Körperästhetik (# 3). Dabei argumentierte der 78-Jährige, wohl unwissentlich, wie Henry Fox Talbot. Für Talbot war die Fotografie ein verlässlicher »Pencil of Nature«. Der Blick in den Spiegel hingegen sei trügerisch, ebenso die Einschätzungen der Mitmenschen, sagte Zane. Erst durch Fotografien seiner selbst habe er einen unbestechlichen Blick auf sein Körper-Bild werfen, dieses mit zeitlichem Abstand kontrollieren und optimieren können. Für Zane objektiviert die Fotografie das fotografierte Subjekt und macht die Körper-Bilder kommensurabel.
Die digital generierten Bilder der Smartphone-Kamera oder der GoPro knüpfen zwar an diese Wirkung der Analogfotografie an. Im Privaten dienen sie als Tools objektivierender Dokumentation des Wirklichen, der Kontrolle, der Observanz, des Vergleichs. Das alte Wahrheitsversprechen der Fotografie wird tendenziell erfüllt. Doch in der Medienöffentlichkeit, im Verbund mit Software, tragen diese Bilder auch zum Misstrauen gegenüber dem Wahrheitsgehalt der Digitalfotografie bei: War es wirklich so gewesen? Oder handelt es sich um ein Deep Fake, wurde mit Photoshop nachgeholfen, kamen Instagram-Filter zum Einsatz? Claus Pias hat recht, wenn er sagt: »Das digitale Bild gibt es nicht.«16 Es gibt nur analoge Aufführungen digitaler Daten, deren Manipulation weniger aufwändig ist als die eines Negativs in der Analogfotografie.
#3 Der Autor mit Frank Zane in dessen Heimstudio, La Mesa, San Diego County, 2019