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1.Prolog. Eine Selbstbeobachtung
ОглавлениеIm Juni 2019 schaute ich auf YouTube die Musikvideos zu Bruce Springsteens neuem Album Western Stars an. Mich selbst beim Betrachten betrachtend und mir selbst beim Hören zuhörend, stellte ich nach einer Weile fest, dass ich eigentlich keine Klänge hörte und eigentlich keine Bilder betrachtete. Dass sie mich nicht berührten. Meine Aufmerksamkeit hatte sich sofort auf etwas anderes gerichtet: Warum sind in den Videos keine Afroamerikaner zu sehen? Warum tauchen kaum Frauen auf? Warum verharrt die Musik in der Tradition westlicher Rock- und Popmusik? Warum wird nur ein kleiner Ausschnitt der Lebensrealität in den Vereinigten Staaten von Amerika gezeigt? Ist das noch zeitgemäß?
Ähnlich erging es mir, als ich Clips der in Trinidad und Tobago geborenen R&B-Sängerin Nicki Minaj und des norwegischen Black-Metal-Projekts Gaahls Wyrd anschaute. Noch bevor mich ein Beat gepackt, eine Akkordfolge ergriffen oder ein Sound fasziniert hatte, identifizierte ich Hautfarben, Geschlechter, sexuelle Orientierungen, Herkünfte, mögliche politische Einstellungen. Melodien und Rhythmen folgten als Nachhut eines soziologischen Heeres.
Meine Wahrnehmung hatte sich in einen Scanner verwandelt, der minutiös Merkmale erfasste und meinem Hirn wie auf einer Quittung präsentierte. Früher hatte meine Wahrnehmung eher einem Nebelscheinwerfer geglichen, der schemenhafte Gebilde sichtbar machte, wie sie aus ihrer Umgebung auftauchten, wieder in sie eintauchten, ineinander übergingen. Und als ich diese Sätze schrieb, da schaute ich mir selbst über die Schulter und flüsterte mir einen Verdacht ins Ohr: Hast du einen heterosexuellen weißen Amerikaner, eine queere migrantische Frau und einen homosexuellen Skandinavier für den Prolog gewählt, um Diversity zu signalisieren? Bist du vielleicht einer von jenen, die aus Marktkalkül auf Vielfalt setzen? Ein Karrierist, ein Opportunist, ein Trittbrettfahrer, ein „Tokenizer“, der andere als Alibi instrumentalisiert?
Wenn ich Artikel verfasste, war ich in den letzten Jahren immer häufiger versucht, sie mit Verweisen auf meine Lebensgeschichte, mein Geschlecht, meinen Beruf, meinen Wohnort oder mein Alter beginnen zu lassen: „Ich als Mann finde, dass …“, „Für einen Kunsthistoriker wie mich ist es …“, „Wenn man wie ich …“, „Ich bin nun 41 Jahre alt und …“ Etwas in mir mahnte, eine Argumentation sei nur dann legitim, wenn ich, wie bei den Inhaltsstoffen eines Nahrungsmittels, deklarierte, aus welchen biografischen Stoffen sie bestand. Bereits meine Doktorarbeit über Arnold Schwarzenegger (2011) hatte mit dem Satz begonnen: „Indirekt ist diese Dissertation einer Wirbelsäulenschwäche geschuldet“ – ohne den Rat eines Physiotherapeuten, im Fitnesscenter meine Rückenmuskulatur aufzubauen, hätte ich als Teenager vielleicht nie zum Bodybuilding und damit nicht zu einem meiner späteren Forschungsgebiete gefunden. Ist somit nicht schlichtweg alles autobiografisch bedingt?
Mitunter ertappte ich mich dabei, wie ich mir dachte, dass sich meine Biografie und meine Lebensweise ganz gut für mein öffentliches Image instrumentalisieren ließen: „Du führst seit Jahrzehnten eine transnationale Paarbeziehung! Und was, wenn nicht dein Lebensstil zwischen Universität und Fitnesscenter, Heavy Metal und Biedermeier, West- und Osteuropa könnte von ‚Diversity‘ zeugen? In deiner Familie gibt es Geschichten von Flucht und Marginalisierung! Du bist Migrant, wenn auch kein prekärer, wirst gefragt, wo du ‚eigentlich‘ herkommst – mache was draus, exponiere diese Aspekte deines Lebens, du kannst davon nur profitieren!“ Und selbst wenn ich diese Instrumentalisierung ablehnte – hätte ich mich ihrer mit den eben formulierten Sätzen nicht doch schuldig gemacht, nur eben auf indirekte Weise? Gab es überhaupt ein Entkommen aus diesem Zirkel?
Ich versuchte mich zu erinnern, wie es gewesen war, Menschen und Dinge nicht als Trägermedien von Identitäten zu identifizieren, sondern – ja als was eigentlich? Vielleicht als etwas, das sich dem Zugriff der Identifizierung, Benennung, Klassifizierung auch widersetzt; als etwas, das die Grenzen unserer Sprache und Kategorien markiert; als etwas, das voller Widersprüche und in sich ironisch ist; als etwas, das mehr Potenzial als Istzustand, mehr Emergenz als ein geschlossenes, sich selbst reproduzierendes System ist.
Es ist schwer zu beschreiben, aber während mir immer bewusst war, dass es sich bei dieser oder jener Person um einen Mann oder eine Frau, um eine Schwarze oder einen Weißen, um einen Protestanten oder eine Muslima, um eine Homosexuelle oder einen Heterosexuellen, um eine Konservative oder einen Progressiven handelte, spielte das Wissen um diese Eigenschaften für mich eine geringere Rolle als das Wissen darum, dass Menschen ganz wesentlich das sind, was sie auch sein könnten, auch sein wollen, auch einmal waren; das Wissen darum, dass wir unsere Identitäten sowohl auf fernen Planeten, in ferner Zukunft, als auch auf Friedhöfen von Möglichkeiten, Träumen, Wünschen errichten – Friedhöfen, auf denen die Toten regelmäßig zum Leben erwachen. War ich ein müder Humanist und Universalist gewesen; einer, der in konkreten Einzelnen nur Vertreter einer abstrakten Menschheit gesehen hatte? Ein entrückter Liberaler, der fest daran glaubte, dass Menschen frei sind, sich zu formen? Ein possierlicher Träumer, der harte Realitäten ausblendete? Oder hatte ich im Gegenteil aus guten Gründen davon abgesehen, Menschen zu schubladisieren, die Kanäle offen und die Dinge im Fluss zu halten? Ich wusste es nicht mehr.
In den sozialen Netzwerken fiel mir auf, dass Diskussionen vulgarisiert wurden, indem Teilnehmer auf einen bestimmten Aspekt ihrer Identität reduziert wurden oder mehr noch die Identitäten der Teilnehmer auf ein einziges Merkmal. Meldete sich beispielsweise in einem Twitter-Thread eine Feministin zu Wort, so konnte man damit rechnen, dass ein rechter Troll sie angriff – das, was sie da sagte, sei doch nur Ausdruck einer linksgrünversifft-genderistischen Agenda, die Ordnung unterminiere und zu Chaos führe! Dass Feminismus nicht gleich Feminismus ist, dass es eine große Vielfalt feministischer Haltungen und Theorien gibt, geschenkt. Durch die reflexhafte Identifikation einer Aussage mit einer – angeblich homogenen – Gruppenidentität, so schien es mir, wurden Einzelne ihrer eigenen Stimme beraubt, zu einem Echo sozialer Donnerschläge erklärt. In diesem Zusammenhang beobachtete ich, wie umgekehrt Social-Justice-Aktivisten auf Twitter die Argumente weißer Männer gar nicht erst analysierten, sondern sie rundweg als Verbrämung von Privilegien einstuften. Selbst linke Akademiker, die sich in Lippenbekenntnissen von rechtskonservativen Populisten wie dem dampftwitternden Norbert Bolz distanzieren, verfielen dabei in die Muster ihrer Gegner und behaupteten etwa, Liberalkonservative seien per se bestrebt, ihren unverdienten wirtschaftlichen Erfolg gegen Kritik zu immunisieren. Selbstverständlich fand ich auch Godwin’s Law bestätigt: je länger ein Twitter-Thread, desto wahrscheinlicher Hitler- und Nazi-Vergleiche.
Und wie ich mich da so beobachtete, und mich beim Beobachten meiner Beobachtungen beobachtete, konnte kein Zweifel bestehen: Ich war zum Identitätspolitiker geworden.