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2.Anliegen des Essays: Wut zur Differenzierung

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In der Medienöffentlichkeit, vor allem in Meinungsbeiträgen, Kommentarspalten und Posts in den sozialen Netzwerken, ist Identitätspolitik ein Reizthema, ein Feld voller strategischer Missverständnisse. Aktivistische und analytische Ansätze werden munter vermischt oder es werden aufmerksamkeitsökonomische Debatten inszeniert, in denen viel geklickt wird und es wenig Klick macht. Die einen werfen den anderen vor, die Menschheit vor lauter Identitäten nicht mehr zu sehen; die anderen den einen, sie sähen die Identitäten vor lauter Menschheit nicht. Für Humanisten gibt Identitätspolitik das Verbindende der Menschheit preis, für die Verfechter postmoderner Identitätspolitik besteht dieses Verbindende traditionell aus luftigen Ideen statt belastbarem Klebstoff. Rechte werfen Linken Identitätspolitik vor, Linke werfen Rechten Identitätspolitik vor. Beide haben recht, dass die jeweils andere Seite Identitätspolitik betreibt, und verstehen doch jeweils etwas anderes unter dem Reizwort. Für Rechte ist das eigene Volk die unterdrückte, gefährdete Minderheit, für Linke unterdrückt ebenjenes Volk Minderheiten diesseits und jenseits der Landesgrenzen. Aber auch innerhalb der beiden Lager besteht Dissens. Materialistische Linke sehen in Identitätspolitik eine Schrulle postmoderner Kulturlinker – anstatt mit angeblichen Marginalisierten Opferolympiaden zu veranstalten, solle man sich besser auf die breite ökonomische Basis besinnen! Postmoderne Kulturlinke hingegen werfen materialistischen Linken ein einseitiges Weltbild vor: Materielle Ungleichheit kann durch die kulturelle Abwertung von Identitäten verursacht werden! Neue Rechte verspotten derweil traditionalistische Rechtskonservative für ihre angeblich biederen Identitätsvorstellungen, traditionalistische Rechtskonservative wiederum können mit den aggressiven popkulturellen Inszenierungen der Neuen Rechten wenig anfangen. Konsumkritiker erkennen in Identitätspolitik ein Werkzeug des Neoliberalismus, der an einer Pluralisierung von Konsumentengruppen interessiert ist und frohlockt, wenn wieder mal eine neue Gender-Kategorie auftaucht. Konsumapologeten sehen in Identitätspolitik eine Möglichkeit, endlich maßgeschneiderte Angebote für die „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz) machen zu können – als Antidot zum Universalismus des Henry Ford zugeschriebenen Werbeslogans für Autolackierungen: „You can have any color you like, as long as it’s black.“

In diesen Schaukämpfen geht es selten darum, Stärken und Schwächen von Identitätspolitik nüchtern und verantwortungsvoll zu analysieren, sondern darum, Identitätspolitik im Sinne der eigenen, nun ja: Identität zu instrumentalisieren. Es ist durchaus amüsant, dass fast jede Art der Ablehnung von Identitätspolitik wiederum die Identitätspolitik bestätigt: Die Gründe, diese oder jene Form von Identitätspolitik abzulehnen, speisen sich jeweils aus einer bestimmten Identitätsvorstellung, die – oft unausgesprochen – gegen eine andere Identitätsvorstellung verteidigt wird. In der Lebenswelt aber ist dieses Spiel nicht amüsant, sondern zynisch. Wird etwa eine weiße Deutsche Opfer eines Gewaltverbrechens, lechzen weiße deutsche Rassisten nach der Meldung: Der Täter ist ein Ausländer, besser noch ein Flüchtling! Wird ein eingewanderter Imam in Deutschland Opfer eines Gewaltverbrechens, wie es 2020 im württembergischen Ebersbach der Fall war, gehen Kritiker angeblicher Islamfeindlichkeit davon aus, dass „Islamophobie“ das Motiv war.4 So wunderte sich die Journalistin Ferda Ataman kurz nach Bekanntwerden des Verbrechens, „dass das kein @tagesschau-Thema sein soll …“5 Zu diesem Zeitpunkt liefen die Ermittlungen noch und es wäre fahrlässig gewesen, den Fall zu einem Politikum zu machen. Wenig später standen der Bruder und die Lebensgefährtin des Getöteten unter schwerem Tatverdacht.

Medien suggerieren mit klickbeuterischen Überschriften und überdrehten Leads, man müsse sich entscheiden: Ist Identitätspolitik gut oder schlecht? Sollte man sich ihren Befürwortern anschließen oder ihren Gegnern? Der Lead zu einer Polemik des Schriftstellers Maxim Biller stellt fest: „Linke Identitätspolitik begreift Menschen nur als Mitglieder von Opfergruppen.“6 Die Migrationsforscherin Sandra Kostner meint, „es“ gehe darum, „der Gesellschaft ein identitäres Weltbild aufzuzwingen“7. In der Neuen Zürcher Zeitung prangt über einem Artikel des Politikwissenschaftlers Mark Lilla die Überschrift „Identitätspolitik ist keine Politik“.8 In der Washington Post hingegen will der Philosoph Kwame Anthony Appiah herausgefunden haben, dass „alle Politik Identitätspolitik“ sei – zumindest behauptet das der Lead.9 Wenn aber alle Politik Identitätspolitik ist, dann ist der Begriff redundant. Auch der Lead zu einer teils fundierten Kritik des (klassisch) linken Regisseurs Bernd Stegemann an Identitätspolitik im Spiegel hält klipp und klar fest: „Identitätspolitik ist für die Linke ein Irrweg.“10

Typisch für derlei pauschale Feststellungen und empörungsfixierte Framings sind Kollektivsingulare, bei denen nie klar ist, wer eigentlich gemeint ist – „die“ Menschen, „die“ Identitätspolitik, „die“ Gesellschaft, „die“ Linken, „die“ Rechten, „die“ Frauen, „die“ Schwarzen, „die“ Weißen. Auch beziehen sich die Autoren meist nicht auf Primärquellen, sondern auf Aussagen über Aussagen über Aussagen. Anstelle präziser Analyse und Empirie tritt Raunen – ein Raunen, das Einwände erschweren soll, da es nie gänzlich abwegig und nie gänzlich zutreffend ist. Etwas wird schon dran sein! Ganz falsch werden sie schon nicht liegen! Wo Rauch ist, ist auch Feuer! Doch Feuer können auch von Brandstiftern stammen.

Die zitierten Überschriften und Leads sind wie Ohrfeigen, die man Menschen als freundliche Aufforderung verpasst, ein vernünftiges Gespräch zu führen. In der Netzöffentlichkeit kommentiert und diskutiert werden genau diese Zuspitzungen – und das wissen die verantwortlichen Verlage und Redaktionen sehr genau. Die oft viel differenzierteren Texte unter den Überschriften und Leads degenerieren zu Nebenschauplätzen.

Aktivisten wiederum pflegen aus nachvollziehbaren Gründen keine sachliche, nüchterne, abwägende, sondern eine instrumentelle Sicht der Dinge. So schrieb der Antirassismus-Aktivist Stephan Anpalagan 2020 auf Twitter, „es“ gehe „immer“ nur darum, „den islamistischen Terror allen Muslimen dieser Welt zuzuschreiben …“ Muslime würden „pauschal für ihre Religion“ diskriminiert.11 Sachlich ist das falsch, ein strategisches Missverständnis – so differenzierte etwa Emmanuel Macron in seiner Separatismus-Rede 2020 eindeutig zwischen Muslimen und Islamisten, mehr noch, er führte die Spannungen in Frankreich auch auf das „Versagen der Republik“ zurück.12 Im Grunde können die Aussagen Anpalagans noch nicht einmal verifiziert werden, da der Autor nicht angab, wer gemeint ist. Er betrieb Identitätspolitik der raunenden Sorte, wie man sie auch im gegnerischen Lager, etwa beim jungliberalen Twitter-Rambo Ben Brechtken, findet: Die Welt wird in zwei diffuse Gruppen aufgeteilt und eine davon ist böse. Zeitangaben wie „immer“ und Kollektivsingulare, verpackt in Formulierungen à la „es geht nur darum“, verunmöglichen ein sinnvolles Gespräch. Ihre Funktion ist es, die eigenen Behauptungen gegen Einwände zu imprägnieren. Unabhängig von der jeweiligen politischen Haltung operiert eine solche instrumentelle Redeweise mit „Provokation und Allusion“, um ein „Double-Bind“ zu erschaffen: „… eine Situation, in der jede Handlung mit einer negativen Sanktion verbunden ist. Egal, was man tut, man kann nur verlieren. Oder zumindest lässt es der Double-Bind so aussehen. So wird der populistische Denker in jedem Fall bestätigt.“13

Ziel dieses Essays ist es, die Debatten über Identitätspolitik auf eine nüchterne Basis zu stellen. Er vernünftelt bisweilen, ist von einem unheroischen Hang zum Kompromisslerischen durchzogen, gibt sich, selbst wenn er polemisch wird, versöhnlich – Konterrevolutionsverdacht! Die Polemik gilt dabei spezifischen Formen der Identitätspolitik, nicht dem Phantasma einer homogenen Identitätspolitik als solcher.

Keine steilen Thesen, stattdessen Suche nach Konsens. Keine klientelistische Zuspitzung, stattdessen Abwägung. Keine ideologische Projektion, sondern möglichst genaues Hinschauen. Kein kulturkämpferisches Bashing von linker Political Correctness oder, umgekehrt, von rechtem Konservatismus, stattdessen Differenzierung und kritischer Pragmatismus. Und doch ist auch dieser Text von einer starken Emotion getragen, nämlich von Wut – von Wut auf Vulgarisierung, Ideologisierung, Polarisierung, Scheuklappendenken in unserer hybriden Medienlandschaft. Allein, es ist eine Wut zur Differenzierung.

Ich möchte einen liberalen Zugang zur Identitätspolitik skizzieren; einen Zugang, der sich zwischen die Fronten begibt, anstatt sich in die Schützengräben zu ducken. Wenn es heute, neben materieller Ungleichheit, asymmetrischen Machtverhältnissen und kulturellen Hegemonien, eine echte Gefahr für die offene Gesellschaft gibt, dann ist es, wie der Journalist Rafael Behr richtig diagnostiziert, das „Verschwinden eines gemeinsamen öffentlichen Bezugssystems, in dem Ideen auf vernünftige Weise diskutiert werden können“14. Voraussetzung für ein solches Bezugssystem ist es, Identitäten nicht als geschlossene Systeme zu begreifen und Aussagen von Menschen nicht vorschnell auf unterstellte Identitätsinteressen zu reduzieren. Stattdessen sollte man auch nach Verbindendem und nach doppelten Böden suchen. Die Frage „Was unterscheidet die Erfahrungen eines prekär lebenden, schwarzen alten Mannes in Deutschland von den Erfahrungen einer reichen, weißen jungen Frau in Deutschland?“ ist zwar wichtig. Aber ebenso wichtig ist die Frage, was die beiden – und sei es nur potenziell – verbindet. Von einem bin ich überzeugt: Menschen tauschen sich nicht in einer prästabilierten „gemeinsamen Welt“ aus. Die gemeinsame Welt entsteht vielmehr erst durch Austausch.

Menschen sind keine heiligen Texte, vermittels derer eine transzendente Macht eine unmissverständliche, nicht interpretationsbedürftige Botschaft sendet. Wenn man einen echten Zugang zu echten Menschen finden möchte, sollte man keinem Offenbarungsglauben anhängen. Vielmehr ist es ratsam, sich der historisch-kritischen Methode zu bedienen – so wird man, von Extremisten einmal abgesehen, unweigerlich auf Vielschichtigkeiten, Ambivalenzen, Widersprüche und damit auf Verbindungspunkte zwischen unterschiedlichen Haltungen und Lebenswegen stoßen. Der Literaturkritiker Ijoma Mangold bemerkte dazu 2018 in einer Fernsehsendung: „Es ist sehr schwer, über einen Menschen den Stab zu brechen, von dem Sie etwas wissen. So wie der Mensch anonym oder kollektiviert ist, können wir die härtesten Urteile über ihn aussprechen. Haben wir einmal mit ihm ein Bier getrunken, ist das schon sehr sehr viel schwieriger.“15 In der Gruppenidentität als Fremdzuschreibung, aber teils auch in der Selbstzuschreibung, passiert genau das: Ein Individuum wird kollektiviert und anonymisiert, es verschwindet hinter einem Begriff.

Wer nun, von latenter Endgegnersehnsucht getrieben, einwendet: „Aber Hitler! Stalin! RAF! NSU! Rote Brigaden! Breivik! Wie könnte man da ambivalent bleiben! Da hilft doch wohl kein ‚Bier trinken‘!“, dem sei zweierlei entgegnet. Erstens gilt mit einer rechtswissenschaftlichen Maxime: „hard cases make bad law“. Gegen das ultimativ Böse zu sein, ist die leichteste Übung und dient primär der Selbstbeweihräucherung. In den Worten des Politologen Andreas Püttmann gilt für die ungleich herausforderndere Praxis: „1. Prävention bei Gefährdeten. 2. Bei ‚Angefixten‘ im Frühstadium: diskutieren, um jede Seele kämpfen. 3. Bei gefestigt Verhetzten: Trennen, Ausgrenzen.“16 Zweitens waren es gerade von monumentalen Ideen besoffene Menschen wie Hitler und Stalin, die Vielschichtigkeiten, Ambivalenzen, Widersprüche mit ihren mörderischen, kollektivistischen Identitätspolitiken zerstören wollten. Kein liberaler, menschenfreundlicher Geist sollte sich ihnen anverwandeln.

Während ich dies schreibe, muss ich an Fritz Bauer denken, diesen wunderbar eigensinnigen, vom Geist der Liberalität – nicht des Liberalismus! – durchdrungenen Generalstaatsanwalt, der im Deutschland der Nachkriegszeit maßgeblich zur Festnahme Adolf Eichmanns und zur Durchführung der Auschwitz-Prozesse beitrug. Bauer hatte ein feines Gespür dafür, wer an konstruktiven Lösungen interessiert war und wer Zwietracht säen wollte, um selbst an die Macht zu kommen. So blickte er in seinem Vortrag Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns (1960) auf die Weimarer Republik zurück und stellte fest: „Die Parteien auf der äußersten Linken und Rechten – die Kommunisten und die Nazisten – wuchsen ständig, waren aber zu einem positiven und konstruktiven Mitwirken nicht bereit. Sie verstärkten mit Absicht das Chaos, um im Trüben zu fischen.“17 Hätte er dies heute auf Facebook geschrieben, hätte ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Schwarm identitärer Empörter als Hufeisentheoretiker, als Fürsprecher einer Gleichsetzung von Rechts- und Linksextremisten, diffamiert. Man hätte die Aussage einer Identität zugeordnet – „die Hufeisentheorie ist ein rechtes Narrativ!“ –, um sie zu disqualifizieren.

Auch Bauers Differenzierung zwischen Nazismus (größtes Übel) und Faschismus (kleineres großes Übel) wäre dem Facebookschwarm wie eine Relativierung vorgekommen. Aber Bauers Punkt war ein anderer. Man könnte ihn wie folgt umreißen: Es gibt Menschen, die wollen Lösungen im Sinne dessen, was der Philosoph John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit (1971) „überlappenden Konsens“ nannte. Sie streben nach Gerechtigkeit in einer pluralen, offenen Gesellschaft, nicht nach Rache oder Genugtuung, nicht nach Durchsetzung ihrer partikularen Weltsicht, nicht nach Bestätigung einer Theorie oder Ideologie. Sie verabsolutieren ihre Haltungen und Erfahrungen nicht, sondern können und wollen sie mit den Erfahrungen anderer relationieren. Mit solchen Menschen lässt sich ein Staat machen. Und es gibt Menschen, die kämpfen gegen das aus ihrer Sicht Böse nur deshalb, weil sie ihre eigene Sicht und ihre eigene Version des Guten bestätigt sehen wollen. Mit diesen Menschen lässt sich zwar auch ein Staat machen. Allein, nur ein autoritärer.

Vielsagend ist, dass man meinen liberalen Ansatz wiederum identitätspolitisch – also zirkulär – begründen könnte, nämlich als Spiegelbild meines Werdegangs. Wenn man so will, lebe ich ein Sowohl-als-auch-Leben zwischen den Schützengräben. Ich bin Wissenschaftler, Journalist, Kraftsportler, Musiker, Fitnesstrainer, Professor, Freiberufler, Schwabe, Wahlschweizer, Teilzeitpole, liberal, sozial, progressiv, konservativ. Die Kategorien „links“ und „rechts“ lehne ich für mich ab, weil sie zum einen eine simplistische binäre Ordnung des Politischen suggerieren und in der Realität nie in Reinform, sondern immer nur in Mischverhältnissen auftreten. Zum anderen, weil es eurozentrische, aus der Ära der französischen Revolution stammende Kategorien sind, für die es in vielen Weltgegenden keine Entsprechung gibt. Auch sollte nicht vergessen werden, dass es nach der französischen Revolution Jahrzehnte dauerte, bis Frankreich zur Demokratie wurde. Wer das Links-Rechts-Schema für unverzichtbar hält, kann ebensogut versuchen, sich von Dinosaurierfleisch zu ernähren.

Konfliktlinien verlaufen nicht einfach zwischen „rechts“ und „links“. Sie verlaufen zwischen denen, die bereit sind, Grausamkeit und Ungerechtigkeit hinzunehmen, und denen, die nicht dazu bereit sind. Gerechtigkeit, und insbesondere Verfahrensgerechtigkeit, transzendiert die politischen Lager. Diese Haltung scheint Taiwans Digitalministerin Audrey Tang zu vertreten, wenn sie über ihre Vision für ihr Land sagt: „Jedes Jahr wächst Taiwan zweieinhalb Zentimeter in den Himmel. Wir sitzen nämlich auf der Trennlinie zwischen der eurasischen und der philippinischen Erdplatte, die ständig aufeinanderstoßen. Diese Spannung, dieser Druck, der dort aufgebaut wird, erleichtert uns die Vorstellung, dass Innovation etwas ist, das Widerstand überwindet. Und wir bewegen uns dabei nicht nach links oder rechts, sondern nach oben. Taiwan wächst also in den Himmel – seit ein paar Millionen Jahren.“18

Ungeachtet meiner Ablehnung des Rechts-Links-Schemas, habe ich in manchen Belangen Überzeugungen, die man als links bezeichnen könnte. Ich bin links, weil Gesellschaft und Staat geburtslotteriebedingte Ungerechtigkeiten auszugleichen haben. Ich bin progressiv, weil ich weiß, dass das Gute und Gerechte nur überdauern kann, wenn es sich wandelt. Ich bin konservativ, weil ich ungern auf Trends aufspringe, gerne etwas zu verlieren habe, langfristig denke und es nicht mag, Menschen, Dinge, Ereignisse zu konsumieren und zu verbrauchen wie Süchtige Drogen. Mit politisch rechts Stehenden habe ich nie etwas anfangen können, allenfalls könnte man mir einen Hang zu Kraft, Härte, Disziplin attestieren – indes, Härte mir selbst, nicht anderen gegenüber. Ich bin aber vor allem liberal, weil ohne das Korrektiv der Freiheitsliebe weder Konservatismus noch Progressismus noch Sozialismus noch Demokratie menschenfreundliche Verhältnisse schaffen können. All das passt in keine „Identität“, die sich auf einen Begriff bringen ließe. Also muss man Sätze bilden.

Fasziniert haben mich stets ambivalente Menschen, nicht solche, die immer schon wissen, wo es langgeht, und sich selbst auf der Seite der Guten verorten. In meinem kurzen Leben habe ich tolle Feministinnen, venerable Konservative, freisinnige Linke, soziale Liberale, schwule Katholiken, sinnenfrohe Protestanten, sensible Metaller, feingeistige Bodybuilder und progressive Patriarchen kennengelernt. Die meisten in den Medien und in aktivistischen Kampfslogans kolportierten Identitätsklischees finde ich in meinem Umfeld nicht wieder. Wohl aufgrund dieser Erfahrungen tauge ich nicht zum Kulturkämpfer. Die Lebensrealität ist unseren engen Begriffen und Theorien oft voraus. Der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen hat es auf den Punkt, genauer gesagt auf viele Punkte gebracht: „Eine Person kann gänzlich widerspruchsfrei amerikanische Bürgerin, von karibischer Herkunft, mit afrikanischen Vorfahren, Christin, Liberale, Frau, Vegetarierin, Langstreckenläuferin, Historikerin, Lehrerin, Romanautorin, Feministin, Heterosexuelle, Verfechterin der Rechte von Schwulen und Lesben, Theaterliebhaberin, Umweltschützerin, Tennisfan, Jazzmusikerin und der tiefen Überzeugung sein, dass es im All intelligente Wesen gibt, mit denen man sich ganz dringend verständigen muss (vorzugsweise auf Englisch).“19

Damit wird keiner müden „Mitte“, wie sie der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller beschreibt, das Wort geredet: „Die Vorstellung jedoch, die Mitte sei unter allen Umständen golden, ist insofern irreführend, als man sich damit offensichtlich von der Positionierung anderer abhängig macht. Ein gesundes Maß Skepsis gegenüber den eigenen Überzeugungen und praktischen Ideen ist sicher lobenswert. Sie ersetzt aber kein politisches Programm, das überhaupt erst einmal Orientierung schafft.“20 Zu diesem Programm gelangt man jedoch nur, indem man sich mit verschiedenen Angeboten vertraut macht, sie vergleicht, sie prüft, sich erst dann entscheidet. Deshalb ist es an der Zeit, die Mitte nicht als Wellness-Zone, sondern als ein Spannungsfeld zu begreifen, das durch die Überschneidungen verschiedener Haltungen und Erkenntnisse gebildet wird. Die so verstandene Mitte ist relational, nicht relativistisch; sie ist Metal-Moshpit, nicht Opernloge. Hier bekommt man die eigenen Grenzen aufgezeigt und muss sich mit Gegnern auseinandersetzen, anstatt sich aus sicherer Distanz im Besitz des Guten, Edlen und Wahrhaftigen zu wähnen. Mäßigung ist dahingehend das immer nur vorläufige Ergebnis intensiver Auseinandersetzungen und schmerzhafter Konfrontationen – nicht der Versuch, solche Auseinandersetzungen und Konfrontationen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Die Mitte ist somit ein Ort, an dem es ziemlich ungemütlich werden kann, wie der Philosoph Gerald Raunig nahelegt: „Die Mitte ist reißend, weil in ihr die Dinge Geschwindigkeit aufnehmen, ein Strom, der in alle Richtungen überfließt, das Gegenteil von reguliertem Mainstream, Mittelmaß und Vermittlung.“21

Manche Kommentatoren kokettieren hingegen mit der Rolle puristischer Revolutionäre und insinuieren, Differenzierung und Abwägung seien so etwas wie konterrevolutionäre Akte. Wer differenziert, kollaboriert! So unkte der Literaturwissenschaftler Johannes Franzen 2019 auf Twitter: „Um den Riss in unserer Gesellschaft zu kitten, haben wir eine App entwickelt, die automatisch unter politische Tweets einen Aufruf zur Mäßigung und Differenzierung kommentiert. Jetzt brauchen wir eure Unterstützung, Spendenziel sind 870.000 Euro.“22 Aus Franzens Zeilen spricht ein alter bourgeoiser Habitus, der sich seit den bürgerlichen Bürgerkritikern à la Gustave Flaubert im Berufsdenkertum etabliert hat. Bürgerkinder greifen vom Schreibtisch aus bürgerliche Ikonen an, um selbst zur bürgerlichen Ikone zu werden; sie kritisieren das Bürgerliche aus zutiefst bürgerlicher Position: „Der Abscheu vor dem Bürger ist bürgerlich“, notierte Jules Renard (1864–1910) in sein Tagebuch.

Franzens Tweet war sarkastisch gemeint. Doch tatsächlich muss es genau darum gehen: um Mäßigung und um Differenzierung. Forderte man beispielsweise einen Nazi auf, sich zu mäßigen und zu differenzieren, so forderte man ihn implizit dazu auf, kein Nazi zu sein. Nazis können schließlich weder gemäßigt noch differenziert sein. Nazis sind radikale Ideologen, nicht nur Alltagsideologen, die wir alle unweigerlich sind, da wir die Realität gar nicht anders wahrnehmen können als durch die Filter unserer Vor-Prägungen, Vor-Erfahrungen, Vor-Urteile. Nazis sind Ideologen, die selbst zur Ideologie geworden sind.

Im besten Fall reflektieren wir unsere Vor-Prägungen, Vor-Erfahrungen und Vor-Urteile. Wir erkennen ihre Zufälligkeiten und Ungereimtheiten. Nur durch Checks & Balances vermittels anderer Weltbilder können diese kompensiert werden. Das Denken und Handeln von Nazis indes gründet auf einem hermetischen Weltbild. Im Jahr 2019 schrieb ich in der Neuen Zürcher Zeitung über den rechtsextremistischen Terroranschlag auf die Synagoge von Halle (Saale), Rechtsextremisten verfügten „über ein kohärentes Weltbild, mit dem sie ihr Tun legitimieren. So trüb die Quellen auch sind, aus denen sich dieses Weltbild speist, das Resultat ist klar. Wer Linksextremisten attestiert, sie handelten im Dienste kruder Ideologien und Weltbilder, muss Rechtsextremisten mit dem gleichen Maß messen. […] Das Weltbild der Rechtsterroristen … will selbst zur Welt werden. Es will die Differenz zwischen Bild und Welt, oder, wenn man so will, zwischen Kunst und Leben gewaltsam auslöschen, wie es auch die Differenz zwischen Volk, Staat und Gesellschaft, zwischen Gesetzgebung, Regierung und Rechtsprechung, zwischen Individuum und Masse auslöschen will.“23 Man könnte auch sagen: Die Soll-Identität der Welt wird mit der eigenen Gruppenidentität identifiziert – aus der unausweichlichen Enttäuschungserfahrung resultiert Gewalt. Natürlich ist dieses Prinzip nicht auf rechtsextreme Ideologien beschränkt. Es ist Kennzeichen aller Extremismen.

Rechtsextremismus im Speziellen und Extremismus/Autoritarismus/Totalitarismus im Allgemeinen bedeuten Entdifferenzierung im großen Stil, legitimiert durch hermetische Weltbilder und eiserne Identitäten. Die Konsequenz aller politischen Ideologien, die aufs entdifferenzierte Ganze zielen, ist Gewalt, da sie sich in der natürlichen Vielfalt menschlicher Existenz weder argumentativ noch in der emotionalen Tiefe durchsetzen können. Sie beginnt mit Verbalgewalt, mit Verzerrungen und Verunglimpfungen, mit strategischen Missverständnissen, mit der Einpferchung Einzelner in Gruppenidentitäten („die Schwarzen“, „die Männer“, „die Frauen“, „die Amerikaner“, „die Schwulen“, „die Chinesen“, usf.), verbunden mit der Abwertung ebendieser Gruppenidentitäten. Sie mündet in physische Gewalt, sobald die Verbalgewalt im Machtkampf an ihre Grenzen stößt.

Die Aufforderung sich zu mäßigen an einen abgedrifteten Neonazi zu richten, ist natürlich vergeblich. Das ändert nichts daran, dass Mäßigung und Differenzierung die Bedingungen der Möglichkeit im Kampf gegen alles Extremistische, Autoritäre, Totalitäre, Fundamentalistische, Grausame bleiben. Gibt man diesen Anspruch auf, dann ist klar, wer die besten Chancen hat, die Culture Wars des 21. Jahrhunderts zu gewinnen – Vereinfacher, Populisten, Aufwiegler, Schwarzweißmaler, Selbstgerechte. Anstatt also Mäßigung und Differenzierung für obsolet zu erklären oder in Tweets zu bespötteln, gälte es im Gegenteil, Mäßigung und Differenzierung zu intensivieren, ja, paradoxerweise, zu radikalisieren. Ausgerechnet der altgediente Populist Arnold Schwarzenegger, der im hohen Alter unerwartete Mäßigungs-und Differenzierungskompetenzen ausgebildet hat, sagte im Jahr 2017: „Die einzige Möglichkeit, die lauten, wütenden Stimmen des Hasses zu schlagen, besteht darin, ihnen mit lauteren, vernünftigeren Stimmen zu begegnen.“24

Im Folgenden werde ich, nach einem Abriss über die Kernanliegen der linksprogressiven Identitätspolitik, zwischen Thinking Identity Politics (Theorie der Identitätspolitik) und Doing Identity Politics (Praxis der Identitätspolitik) differenzieren. „Thinking Identity Politics“ verweist auf Theorien, Konzepte und Diskurse, die grob gesagt seit den 1960er-Jahren entstanden sind. „Doing Identity Politics“ verweist auf die identitätspolitische Praxis, insbesondere auf die Performanz und die Pragmatik in der Medienöffentlichkeit: Wie werden die Theorien von wem, wann und in welchen Kontexten konkret umgesetzt?

Die Kapitelbenennungen sind nicht trennscharf, da ich etwa in „Doing Identity Politics“ noch einmal näher auf die zuvor nur angerissene Theorie der Intersektionalität eingehen werde. So zeigt sich schon am Beispiel der Kapitelbenennungen, dass Identifizieren keine leichte Aufgabe ist. Was gehört wohin? Was muss wo stehen? Die eine oder andere argumentative Volte, die eine oder andere Abschweifung, das eine oder andere Ungefügige habe ich im Manuskript belassen. Es schien mir die Unmöglichkeit eindeutiger, linearer Identifizierungen wie auch unsere realen, mal kreisenden, mal mäandrierenden, mal sprunghaften Denkbewegungen zu veranschaulichen.

Des Weiteren werde ich zwischen einem deskriptiv-analytischen und einem präskriptiv-ideologischen Gebrauch der Identitätspolitik unterscheiden. Identitätspolitik kann dazu dienen, Verhältnisse zu beschreiben und zu analysieren. In diesem Fall untersucht sie, wie Menschen ihre eigenen Identitäten und die von anderen konstruieren; wie ihre äußeren Lebensbedingungen ihre Identitäten prägen; wie sich diese mal frei gewählten, mal aufgezwungenen Identitäten politisch artikulieren und welche kulturellen Äußerungen damit einhergehen. Ein solches identitätspolitisches Verfahren schafft Grundlagen für seriöse Theoriebildung, zivilgesellschaftliches Engagement und politische Entscheidungsfindungen. Genau genommen handelt es sich nicht um Identitätspolitik, sondern um Identitätsanalyse.

Identitätspolitik kann aber auch dazu dienen, Menschen eine Identität zu- oder vorzuschreiben und sie mit einer Gruppe gleichzusetzen. Der Soziologe Alvin W. Gouldner untersuchte schon in den 1950er-Jahren, wie soziale Identitäten „zugeordnet“ (assigned), diesen bestimmte Charaktereigenschaften „zugewiesen“ (imputed) und Menschen auf Basis „kulturell bestimmter (prescribed) Kategorien“ „klassifiziert“ (classified) werden.25 Das bedeutet: Weil du diese oder jene Eigenschaft hast, etwa die Hautfarbe schwarz oder das Geschlecht männlich, kannst du kaum anders als so und so zu sein. Was immer du tust – durch dich spricht nicht nur die Struktur, in der du lebst, du bist die Struktur!

Ein solches Vorgehen ist einerseits überaus heikel – Stichwort Sippenhaft –, andererseits kann keine Gesellschaft ohne soziale Zuweisungen und damit verbundene Erwartungen, Rechte und Pflichten existieren. Identitätskategorien sind notwendig für Orientierung in der Welt. Genau deshalb dürfen sie nicht zur Welt werden. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob ich beschreibend feststelle: Viele ältere weiße Männer wählen die AfD. Oder ob ich insinuiere: Sie sind ein alter weißer Mann und neigen deshalb vermutlich der AfD zu. Die erste Feststellung ist nüchtern und sachlich. Auf dieser Basis lässt sich konstruktiv analysieren: Wie kommt es, dass die AfD für soundsoviele ältere weiße Männer attraktiv ist? Dann beginnt die politische Arbeit.

Die zweite Feststellung ist eigentlich keine Feststellung, sondern eine identitäre Unterstellung. Sie wiederholt die Fehler früherer Generationen, die Einzelne reflexhaft in Gruppen einsortierten und ihnen Werte zuwiesen. Die Einzelfallprüfung erübrigte sich dadurch. Dass soundsoviele ältere weiße Männer die AfD wählen, sagt noch nichts über einzelne ältere weiße Männer aus, genauso wenig wie es etwas über einzelne jüngere weiße Frauen aussagt, dass viele jüngere weiße Frauen Shows von Heidi Klum anschauen. Zwischen der Geschichte eines weißen Soldaten der polnischen Heimatarmee, der im Zweiten Weltkrieg erst von Nationalsozialisten und dann von Kommunisten gejagt wurde, und der eines deutschen weißen Geschäftsmanns, der dem Nationalsozialismus anhing und von ihm profitierte, liegen Welten. Und wie konnte es eigentlich passieren, dass bei der Landtagswahl in Sachsen 2019 ausgerechnet weiße männliche Wähler aus der Altersklasse Ü-60, darunter viele Rentner, den Durchmarsch der AfD verhinderten?26 Oder dass Donald Trump bei der Präsidentschaftswahl 2020 unter weißen Männern an Zuspruch verlor, bei Frauen, Afroamerikanern und Lateinamerikanern hingegen Stimmen gewann?27

Die entscheidende Frage ist also, wie Identitäten zugeschrieben werden und wie mit ihnen umgegangen wird. In diesem Zusammenhang kommt mir ein Interview mit dem britischen Künstlerpaar Gilbert & George in den Sinn, das ich 2020 in der Kunsthalle Zürich führte. Seit Jahrzehnten wohnen die beiden als offen homosexuell lebende, politisch jedoch konservative Künstler im multikulturellen Londoner Eastend. Multikulti sei nie ein Problem gewesen, sagten die beiden – „bis die Mullahs kamen“. Das bedeutet: Viele Menschen, egal woher sie kommen, haben ein eher pragmatisches, undogmatisches Verhältnis zu ihrer jeweiligen kulturellen, religiösen und/oder politischen Identität. In der Lebenspraxis begrenzen sie die Geltungsansprüche ihrer Kultur, Religion oder politischen Haltung aus freien Stücken, solange andere das auch tun. Weder versuchten Gilbert & George ihre Stadtteilmitbewohner von den Segnungen des Konservatismus oder der Homosexualität zu überzeugen, noch versuchten diese, Gilbert & George zur Heterosexualität, zum Islam, zum Hinduismus oder zum Buddhismus zu bekehren. Solange es sich so verhält, gelingt eine friedliche Pluralität der Identitäten. Schwingen sich jedoch Einzelfiguren oder Gruppen zu Anführern einer Kultur – verstanden als ein Kollektiv mit einer exklusiven Identität – auf, um diese vermittels dogmatischer Lehren zu repräsentieren, setzt sich die unheilvolle Spirale des identitären Kulturkampfs in Gang. Auch Theorien können dazu beitragen, wenn sie geschlossene Denkstile ausbilden und sich Kollektive um sie scharen: „Die Gemeinschaft der Theorie ist eine Glaubensgemeinschaft, die ausschließt, wer nicht an sie glaubt.“28

Das Problem sind somit nicht Identitäten an und für sich, insofern diese meist flexible, wabernde, an den Rändern offene Gebilde sind. Das Problem ist ihre Kodifizierung, ihre dogmatische Verengung, ihre gewaltsame Theoretisierung und ihre Repräsentation durch machthungrige Narzissten, die Menschen nicht in ihrer lebendigen Einzigartigkeit begreifen, sondern als Figuren auf dem Schachbrett der Macht. Sie sehen in Menschen stets nur Repräsentanten und Repräsentationen einer Kultur, einer Identität, einer Religion, einer „Rasse“, einer Partei, einer Ideologie, und immer so weiter. Sie sehen nur Schatten, nie Sonnen. Dabei eliminieren sie nicht nur die faktische Vielfalt, die jeden einzelnen Menschen innerlich wie äußerlich kennzeichnet: „Jeder einzelne Mensch ist schon eine Welt, die mit ihm geboren wird und mit ihm stirbt, unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte“, schrieb Heinrich Heine. Sie reduzieren auch Sympathie oder Solidarität auf die Zustimmung zu nur einem oder einigen wenigen Aspekten einer Identität.

Im Jahr 1949 sagte der damalige Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland Theodor Heuss: „Wir dürfen nicht immer sagen: Er ist ein Franzose – also; er ist ein Engländer – also; er ist ein Deutscher – also; er ist ein Jude – also. Nein, so geht es nicht. Wir müssen im Verhältnis Mensch zu Mensch eine freie Bewertung des Menschentums zurückgewinnen.“29 Seine Worte sind weiterhin aktuell. Aus einer vulgarisierten identitätspolitischen Haltung heraus wäre es ein Leichtes, Heuss abzukanzeln: Was ist schon das Wort eines alten weißen Mannes wert, der 1933 im Reichstag für das Ermächtigungsgesetz stimmte! Bezieht man aber die konkreten Umstände von Heuss’ Votum ein, etwa die Präsenz von SS und SA im Parlament und die Gewaltanwendung gegen diejenigen, die dem Gesetz nicht zustimmten, verkompliziert sich das Bild. Umso bewundernswerter die SPD-Abgeordneten, die mit „Nein!“ votierten. Wie viele der heutigen Social Justice Warriors hätten damals den Mut zum Dissens aufgebracht? Wir wissen es nicht und können es nicht wissen. Aber es ist doch bemerkenswert, wie viele Helden es immer dann gibt, wenn es keinen Heldenmut erfordert.

In allen bislang genannten Zusammenhängen gilt es, nicht denjenigen Scharfmachern oder aufmerksamkeitsökonomischen Schlangenölverkäufern auf den Leim zu gehen, die eine weltanschauungs- oder marktkonforme Zurichtung von Identitätspolitik anstreben. Für politische Schachspieler haben scharf umrissene Identitäten den Vorteil, dass sie gegeneinander ausgespielt werden können. Für Marktschreier den, dass sie sich wunderbar inszenieren und anpreisen lassen. Stattdessen will ich in diesem Essay, inspiriert von liberalen Denkerinnen und Denkern wie John Rawls (Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1971), Judith Shklar („Der Liberalismus der Furcht“, 1989), Mohomodou Houssouba (Teaching the Diaspora: Beyond Identity Politics, 1998), Martha Nussbaum (Kosmopolitismus. Revision eines Ideals, 2020), Amartya Sen (Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, 2007), Jan-Werner Müller (Furcht und Freiheit. Für einen anderen Liberalismus, 2019) und Ayishat Akanbi (The Awokening: Clarity, Culture and Identity in the Web of Chaos, 2021) die Frage nach Gerechtigkeit und Fairness unter den Vorzeichen praktischer Philosophie ins Zentrum rücken: Welche Elemente der Identitätspolitik können dazu beitragen, das Leben gerechter, fairer, freiheitlicher zu gestalten? Und von welchen Elementen, vor allem im Bereich Doing Identity Politics, sollte man sich am besten verabschieden? Politisch leitend für mich sind die Begriffe Gerechtigkeit, Pluralismus, Freiheit, Langfristigkeit.

Im letzten Kapitel werde ich mich als Romantiker outen und für einen weiteren Begriff plädieren, den der „Imagination“. Kein Identifizieren ohne Imaginieren. Wer seine Fantasie verliert, und damit einen spielerischen, ironischen Umgang mit seinem Umfeld, arbeitet auf den sozialen Erstickungstod hin. Mitunter muss man Menschen begegnen, als ob sie andere wären als sie selbst, damit sie anders werden können, als sie es sind. Vorsicht, nun wird es ein wenig kitschig: Es schläft ein Lied nicht nur in allen Dingen, sondern auch in allen Menschen – „und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort“ (Joseph von Eichendorff). Dieses Zauberwort lautet nicht „Identität“. Wer die Dynamik des Sozialen und die metaphysischen Mucken des Individuums ausblendet, wer Menschen auf ihren Ist-Zustand reduziert oder aufgrund nicht selbst gewählter Merkmale – wobei: welche Merkmale sind eigentlich genuin „selbst gewählt“? – vorverurteilt, trägt zu Verrohung bei. Im Sinne Rawls’ ist eine Konzeption nur dann gerecht und fair, wenn ihr „nicht nur zugrunde liegt, wer und was wir sind, sondern auch, wer und was wir sein könnten“.30

Identitätspolitik wird in diesem Buch folglich nicht als monolithischer Block verstanden, sondern als eine Maschine mit vielen Komponenten, die auseinandergenommen und neu zusammengesetzt, aber auch mit anderen Maschinen verbunden werden kann. Im wahren Leben müssen wir nur selten zwischen Skylla und Charybdis wählen. Wenn nicht gerade Ausnahmezustand herrscht, können wir auf kritisch-pragmatische, aber auch spielerische Weise das Beste aus unterschiedlichen Bereichen nutzen – man muss nicht religiös sein, um der Losung „Prüft alles, das Gute behaltet“ (1 Thess 5,21) etwas abgewinnen zu können.

Das Gute aber bedarf der Kriterien. Wie oben erwähnt, ist mein Kriterium ein liberales: Ziel ist es, Gerechtigkeit in Vielfalt und Freiheit zu ermöglichen und dabei auf langfristig orientierte Verfahren zu setzen. Ich verorte mich in der Tradition dessen, was mit „egalitärem Liberalismus“ etwas missverständlich benannt ist, nämlich eines Liberalismus der Chancengleichheit, wie ihn Rawls entwickelt hat. In diesem Liberalismus ist nicht nur das Gerechte dem Guten vorgeordnet, es spielt auch die Verfahrengsgerechtigkeit eine herausragende Rolle: Ist nur das Ergebnis gerecht oder auch der Weg dorthin? Ich bin überzeugt: Ist der Weg, sind die Mittel ungerecht, wird auch das Ergebnis ungerecht sein.

Ungleichheiten werden im „egalitären Liberalismus“ nur dort akzeptiert, wo sie dem Wohl der – unverschuldet und ungewollt – Schlechtergestellten dienen. Ich betone „unverschuldet“ und „ungewollt“, denn Menschen können sich aus guten Gründen etwa dagegen entscheiden, mehr Geld zu verdienen als ihr Nachbar, weil sie weniger Stress haben wollen. Auf dem Papier sind sie nun „schlechtergestellt“, in ihrer Lebensrealität sind sie es nicht. Um was es hier dezidiert nicht geht, ist eine Identitätsolympiade, bei der die beste Identität gekürt wird. Wo die Grauzonen enden, beginnt im Politischen das Grauen.

Identität im Zwielicht

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