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Teil I – Zweiter Bildungsweg / Prolog Hamburg

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Null.

Hamburg, Juli 2000

Das Paar saß im hinteren Rettungsboot und wurde beobachtet. Aus rund zwanzig Metern Höhe hatte die Beobachterin alles im Blick – eine perfekte Totale und doch nahe genug, um jedes Detail erkennen zu können. Das Boot und der Weg zum Niedergang waren in warmes weiches Licht getaucht. Ein Windhauch strich durch ihre glatten dunklen Haare, sie stand auf der unteren Plattform des Großmastes und blickte auf das Deck hinunter. Ihre Lippen waren schwarz wie ihre Augenpartie, verengten sich nun zu einem Strich. Normalerweise hatte sie interessant geschwungene, sinnliche, purpurne Lippen – in ihrem Zivilleben. Im Einsatz war sie stets hochkonzentriert, jeder Moment der Unachtsamkeit konnte den Tod bedeuten. Sie ging in die Knie, hockte sich auf die Plattform, nahm die Frau ins Visier. Ihre rutschsicheren Spezialschuhe boten genug Halt, sie hielt sich nur zur Sicherheit an den Wanten fest, nicht weil sie Höhenangst hatte. Die hatte sie schon als Kind nicht gehabt. Schon damals konnte sie sich keine Höhenangst erlauben.

Sollte sie es als Nachteil empfinden, keine Kindheit wie andere gehabt zu haben, wenn ihr dadurch viele Ängste normaler Kinder erspart geblieben waren? Sicher nicht. Diese Kindheit war noch nicht allzu lang her, sie war noch sehr jung, gerade volljährig.

Ihre Augen waren scharf wie die eines Luchses. Trotz schummrigen Lichtes und einer Entfernung von sicher 25, 30 Metern erkannte sie die Mimik der Frau. Den Mann an ihrer Seite sah sie zum ersten Mal, sie wusste aber, mit wem sie es zu tun hatte. Das Paar unterhielt sich angeregt, schäkerte. Sie hörte sie kichern und ordinär lachen, der Mann lachte dröhnend. Gut so, sie waren abgelenkt, würden ihre Annäherung nicht bemerken. Noch besser: Der Mann schickte soeben den Kellner fort, entließ ihn in den Feierabend. Nun war das Paar allein. Das war das Zeichen für ihren Auftritt.

Sie zog die zwei Teile einer selbstentwickelten Seilbremse von ihrem Gürtel, der noch andere nützliche Dinge parat hielt. Da sie eine Perfektionistin war, funktionierte die Rollenseilbremse absolut zuverlässig, lautlos und mit möglichst wenig Kraftaufwand. Beide Teile der zangenartigen Konstruktion waren am Drehpunkt zusammen zu stecken. Es machte leise klack, als sie es tat. Sie hielt die Seilbremse, umklammerte sie schließlich mit beiden Händen und schlang die Beine um das abwärts führende Tau. Bis auf das leise Klack ging alles mit geräuschloser Grazie vonstatten. Ihre an das Seil geschmiegte Silhouette bot einen ästhetischen wie erotischen Anblick – wenn man sie denn bemerkte. Noch ein Blick in die Tiefe, auf das Schiffsdeck zwanzig Meter unter sich, dann gaben ihre Beine das Tau frei. Kein Körperkontakt sollte ihre Fahrt bremsen, sie hing nur noch mit den Händen an der Seilbremse. Ihre Finger umschlossen die Griffe der Bremszange, drückten sie bis eben zusammen, lockerten jetzt den Druck. Die Rollen führten das Seil nur noch, klemmten es nicht mehr ein. Sie schoss nach unten. In gut zwei Sekunden hatte sie die Fahrt am Tau ebenso rasant wie lautlos zurückgelegt. Die katzenhafte Person balancierte auf der Reling wie eine Turnerin auf dem Schwebebalken, entließ das Seil und ging in die Hocke. Sie kauerte auf dem verbreiterten Abschluss der Bordwand und fixierte erneut die Frau. Das Dunkel verschluckte ihre zierliche Gestalt, ihre Pupillen weiteten sich.

Die Vermutung drängte sich auf, dass die Bezeichnung ‚rassig‘ auf den Anblick dieser Frau zurückzuführen war. Sie war ausnehmend attraktiv, um die vierzig, sah aber jünger aus. Die laue Nacht war wie geschaffen für ein Sommerkleid, mit dem sie gleichermaßen Beine wie Dekolletee zur Schau stellen konnte. Makellose, gebräunte Haut umgab einen Körper, der Männerblicke auf sich zog. Sie war nach mancherlei Gesichtspunkten und Geschmäckern schön, aber nicht im handelsüblichen Sinne: keine langweilig glatte Schönheit gepaart mit Lieblichkeit, sondern eine Versuchung für richtige Männer, die nach Herausforderungen gieren. Schaffte man es, ihr nahe zu kommen, musste man ihr gewachsen sein. War man das nicht, galt: Finger weg! Und alles andere auch. Die herb-mediterrane Weiblichkeit ihres Gesichtes verhieß mit Verwegenheit gepaarte Sinnlichkeit. Es wurde von einem Meer dunkler Haare umflossen, wie von den sanften Wellen des sommerlichen Mittelmeeres. Aber sie befand sich nicht am Mittelmeer.

Sie und ihr Galan saßen an Bord des Großseglers ‚Rickmer Rickmers‘ im Hamburger Hafen. Der Liebhaber hatte einiges aufgeboten, um die Dame zu beeindrucken. Er hatte das grüne Schiff bis zum nächsten Mittag gemietet und ließ in einem der Rettungsboote, die über die Außenwand ragten, zum Dinner for two aufdecken. Als alles auf dem Tisch stand, sprach der Mann ein »Danke, wir brauchen Sie nicht mehr« an den Kellner aus. Das Gemisch aus Lichtern und Geräuschen des Hafens sowie Gerüchen nach Holz, Lack und Brackwasser sollten genug Sinneseindrücke sein. Da brauchte es nicht noch andere Männer in der Nähe, einen jungen, gutaussehenden wie den Kellner schon mal überhaupt nicht.

Sie waren allein. Der Mann schenkte Champagner ein. Jetzt passte alles, auch das: Die Frau trank einen Schluck. Nachdem sie ihr Glas absetzte, leckte sie über ihre Lippen, beugte sich vor, züngelte am Ohr ihres Bewunderers und griff ihm dabei in den Schritt. Sie wusste, wie man Männer heiß machte, wusste, wie man sie manipulierte, auf ihre Seite zog, ihr verfallen ließ. Dass sich währenddessen ein Schatten vom mittleren Mast der Dreimastbark zu dem Tête-à-Tête hinunterließ, bekam weder sie noch ihr Begleiter mit. Die Frau sah den Schatten erst, als sie vom Ohr des Mannes abließ. Es riss sie innerlich, obwohl sie nicht wirklich erschrocken war. Was sie sah, sog sie richtiggehend in sich auf und fühlte sich in einer Entscheidung bestärkt. Ihre Augen erblickten eine schlanke Silhouette in engem Gewand. Die Gestalt hockte auf der Reling und belauerte das Paar aus rund zehn Metern Entfernung.

Mit einem Mal bewegte sich die dunkle Gestalt. Katzengleich schnell und lautlos begab sie sich an Deck, blieb mit leicht gespreizten Beinen stehen. Die Figur war ohne Zweifel weiblich und ebenso aufregend wie die Figur der Frau. Ihr Liebhaber hatte deren Verblüffung mitbekommen und starrte nun ebenfalls auf die Silhouette.

»Wer sind Sie?«, fragte der Mann barsch. »Das hier ist Privatbesitz. Ich habe das Schiff gemietet. Was machen Sie hier?«

Die Gestalt kam auf das Paar zu. Ihr Gang war das Gleiten eines Topmodels, allerdings ohne jedes Geräusch. Die Frau betrachtete das anmutige Wesen mit dem Pagenkopf. War es so, wie sie gedacht hatte? Sie hätte es in diesem Moment nicht beantworten können.

Eine vollständig dunkle Erscheinung: Gewand, Hände, Haare, alles war schwarz – bis auf den unteren Teil ihres Gesichtes. Sie blieb am Rand des Bereichs stehen, der von den Petroleumlampen in Licht getaucht wurde. Der Kontrast zu ihrer hellen Gesichtshaut ließ die Schwärzung der Augenpartie und die schwarzen Lippen auch im Halbdunkel erkennen.

»Is das‘n Kostüm? Sind Sie… das Unterhaltungsprogramm?«, wollte der Mann vor allem seine eigene Irritiertheit kalmieren. Er hatte keine Showeinlage bestellt, insofern war ihr Erscheinen eine Überraschung für ihn. Sicher war sie als Artistin oder Zauberkünstlerin eine Aufmerksamkeit der Schiffsbetreiber. Nett gemeint, aber ebenso unerwünscht wie unpassend. Morgen würde er denen mal auf den Zahn fühlen und sich über die Störung beschweren. Bei der Reservierung des Schiffs ließ er keinen Zweifel an der Privatheit des Dinners. Das sollte deutlich genug gewesen sein. Und teuer genug war‘s auch.

Ein maskiertes M ä del im Superheldenkost ü m! Was denn nicht noch?

»Wenn Sie so wollen«, flüsterte die Gestalt mit sinnlich-verwegenem Unterton. Die Stimme klang auffallend jung. Ohne die kaum fehlinterpretierbare Gefährlichkeit hätte man sie sogar als mädchenhaft bezeichnen können. Jung, eigentlich niedlich, sexy.

»Lass mal stecken, Püppchen, die Vorstellung is vorbei. Zieh Leine!«, ließ er nunmehr seine gewohnten Umgangsformen erkennen.

St ö ren und auch noch auf neunmalklug machen. Nicht mit mir!

Die Frau erstarrte neben ihrem Liebhaber, ihre Pupillen weiteten sich. Sie hatte den Ernst der Lage und wen sie vor sich hatte, schon beim Erscheinen der dunklen Gestalt erahnt. Das eine bedingte das andere. Nun gab es keinen Zweifel mehr, wie ernst die Lage war.

Die junge Dame in Schwarz wusste Bescheid.

»Es sieht eher danach aus, dass du hier nicht gebraucht wirst«, raunzte sie ihrem Galan zu.

»Was???«

»Hau ab. Solange du noch kannst«, flüsterte die Frau und dachte kurz nach. »Spring über Bord. Jetzt!«

»Ich soll verschwinden? Ins Wasser springen?

Bist du noch ganz dicht? Was läuft denn hier???« Der Mann war keiner von der Sorte, der einen derart ausgefallenen Vorschlag widerspruchslos hinnahm. Er war zwar im Begriff, wütend zu werden, passte seine Lautstärke aber dem Flüstern seiner Begleiterin an. Er sah sie an, richtete seinen Blick dann auf die dunkle Gestalt. Sein Instinkt wies ihm die nächste Frage an. »Kennt ihr euch etwa?«

»Lass ihn ruhig bleiben. Du legtest ja bis jetzt gesteigerten Wert auf seine Gesellschaft«, entließ die Silhouette nicht ohne Ironie. Sie hatte offensichtlich ein gutes Gehör, war auch in diesem Sinne katzengleich. Auch ließ die Wortwahl erkennen, dass ihre Jugend nicht im Widerspruch zu Ernsthaftigkeit, Coolness und Intelligenz stand.

»Es ist also wahr«, richtete sich die Frau an den Überraschungsgast und rümpfte halb verbittert, halb verächtlich die Nase. Sie sprach auf einmal französisch.

»Was ist wahr?«, hauchte die dunkle Gestalt ebenfalls auf Französisch.

»Das, was er aus dir gemacht hat.« Die mediterrane Schönheit ließ ihre Augenlider sinken und fixierte die Gestalt im Catsuit. Ein Duell der Blicke. Die junge Schöne im Halbdunkel hinterließ nicht den Eindruck, sich weiterhin mit gefährlichen Blicken begnügen zu wollen.

»Und? Was hast du aus dir gemacht? Was willst du noch aus dir machen?«, hauchte die Stimme. »Was willst du aus uns machen?«

»Aus euch???«, entrüstete sich die Frau. Merde! Die Dunkle wusste in der Tat Bescheid. Damit war es unausweichlich. Es würde passieren.

»Jaaa, aus uns. Aus uns allen.« Jede erneute Wortmeldung der dunklen Gestalt kam noch gefährlicher, ultimativer. Die Situation spitzte sich zu, obwohl die Stimme völlig unaufgeregt war. Vielleicht gerade deswegen. So leise wie die Stimme war, ließ sie doch Überlegenheit erahnen. Die junge Geheimnisvolle hatte es nicht nötig, ihre Stimme zu erheben, um Gehör zu finden, wichtig zu sein, ja, auch um gefährlich zu sein. Aber einer empfand das nicht so. Der Mann sah zwischen den beiden Frauen hin und her. Seit die Damen französisch parlierten, fühlte er sich erst recht als Außenstehender (»sieht eher danach aus, dass du hier nicht gebraucht wirst«).

»Ich versteh euch nicht. Und ich muss euch wohl auch nicht verstehen. So wie ich das sehe, geht mich das nichts an. Das ist was zwischen euch beiden…«, eröffnete er.

»Irrtum. Mitgefangen, mitgehangen«, kam die Klarstellung aus dem Halbdunkel. Sie sprach wieder deutsch.

»Huuu! Ich scheiß mir gleich in die Hose, Batgirl!«, spottete der Mann. Er grinste die dunkle Gestalt an, gab sich überlegen, wirkte arrogant. Die Provokation war gleichzeitig Ablenkung, um eine Hand unter den Esstisch sinken zu lassen.

»Lass es!«, zischte seine Begleiterin so leise wie möglich. Sie hatte seine Absichten bemerkt und wusste, dass er keine Chance hatte.

Der Mann war anderer Auffassung. Er hatte nicht vor, es zu lassen und grinste unverändert die Silhouette an, deren Konturen wie eine Aura die Lichter der nächtlichen Großstadt brachen. Der Lichtsaum ließ das Schwarz ihres Gewandes noch schwärzer und die Zeichnung ihres perfekt proportionierten wie modellierten Körpers noch beeindruckender erscheinen. Obwohl unverkennbar weiblich und nicht allzu groß, war die junge Dame sportlich gestählt. ‚Zierlich‘ war eine treffendere Bezeichnung als ‚muskulös‘, und doch war sie eine Athletin. Auch nahm ihr appetitlicher Anblick nichts von ihrer furchteinflößenden Ausstrahlung. Ein junges, schönes, gefährliches Phantom, das einen der hier Anwesenden in erster Linie damit beeindruckte, dass es ihm den Abend verdarb. Diese Störung wollte der nunmehr unterbinden.

Warte kurz, M ä dchen, gleich sind wir dich los. Nur noch eben den Finger durch

Das Grinsen war der letzte bewusst gewählte Gesichtsausdruck des Mannes. Sekundenbruchteile später bohrte sich ein Shuriken in seine Stirn. Das Gesicht verzog sich zu einer albern starrenden Maske, der Kopf fiel vornüber, plumpste in den Teller mit den Vorspeisen. Unter der als Tisch aufgebauten Planke, die quer über das Rettungsboot ragte, fiel ebenfalls etwas. Die Schusswaffe entglitt den Fingern des Mannes und polterte auf den Boden des Bootes. Er sollte mit seinem letzten Ausspruch recht behalten. Wie die Finger der rechten Hand lockerte sich mit dem Eintritt des Todes auch sein Schließmuskel, was eine partielle Darmentleerung zur Folge hatte. Er schiss sich wirklich in die Hose.

Die Frau riss die Augen auf, richtete sie auf die dunkle Gestalt. Diese stand unverändert da, die Hände in die Hüfte gestemmt. Nichts deutete darauf hin, dass sie den Wurfstern geschleudert hatte. Auch dieses Gerücht, mehr noch, diese Ahnung bewahrheitete sich: Die dunkle Gestalt war schneller, als menschliche Augen es erfassen können. Und absolut tödlich. Die bis eben furchtlose Rassefrau war nun mit dem todbringenden Phantom allein. Sie wich zurück, presste sich gegen die extra für diesen Abend montierte Rückenlehne. Ihre geweiteten Augen spiegelten, was sie sah. Und das, was sie sah, konnte sie kaum glauben. Mit so ziemlich allem… aber damit war nun wirklich nicht zu rechnen.

»Getroffen!«, piepste es mit der gleichen Stimme, allerdings mädchenhafter als zuvor aus dem Dunkel. »Lass stecken…« Die mädchenhafte Stimme verdüsterte sich, zitierte ätzend eine Bemerkung des nunmehr Toten. »Und wie ich steckenlasse… steckt doch super!«

»Das… das gibt‘s doch nicht!«, stammelte die Frau auf Französisch.

»Mais oui«, korrigierte die niedliche Stimme, die nun ebenfalls ins Französische wechselte.

Im Dunkel blitzte erneut etwas Rundes mit Zacken auf.

Oskar trifft die Todesgöttin

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