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Teil VI – Finale

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Dreiunddrei ß ig.

Barcelona, Juli 2011

Es hätte auch ein Luxushotel sein können. Aber nein, schon die Umgebung sollte erlebbar machen, dass das Traumleben im Wunderland vorbei war. Das ‚Boquería Hostal‘ führte die Bezeichnung ‚Hotel‘ nicht einmal im Namen. Es war zumindest äußerlich sauber, anonym, hatte WC und Dusche auf dem Zimmer, und vor allem lag es zentral – direkt auf den Ramblas. Der gleichnamige Markt befand sich vor dem Hotel, und auch die nächste Metrostation war in greifbarer Nähe. Die Anonymität eines bestenfalls mittelklassigen Innenstadthotels hatte deswegen ihre Vorteile, weil er unter seinem echten Namen einchecken musste. Es scheiterte weniger an der Infrastruktur, ihm einen gefälschten Pass zu besorgen, sondern eher an der Zeit, diesen anzufertigen. Wer Waffen besorgen konnte, der verfügte zumeist auch über eine Quelle für gefälschte Reisedokumente. Es blieb nur keine Zeit, diese Quellen zu nutzen. Er musste irgendwo unterkommen, und das zur Not unter seinem richtigen Namen, mit seinem echten Pass. Falls Christine Vaarenkroog in Erfahrung bringen wollte, wo Oskar Randow sich befand, würde sie bei den besseren Hotels anfangen. Er ging davon aus, dass auch sie von etwas ausging – nämlich davon, dass er Bescheid wusste, was Kalis nächster Job sein würde und ihn daher in Barcelona vermutete. Ebenso klar war: Sie musste spätestens jetzt wissen, wer – oder besser was – er wirklich war. Aus diesem kühlen Grunde sah er von einer privaten Unterkunft ab, die jemand aus Gregs Netzwerk in Barcelona sicherlich zur Verfügung stellen konnte. Er wollte niemanden in Gefahr bringen, der mit jemandem aus seinem Bekanntenkreis in Verbindung stand. Das, was er vorhatte, war sein eigenes, selbstgewähltes Risiko. Dabei sollte es bleiben. Ein Hotel dagegen – auch eins, das sich in ehrlicher Selbsteinschätzung als ‚Hostal‘ bezeichnete – ging aus Gründen des Gelderwerbs das Risiko ein, wildfremde Menschen bei sich unterzubringen, die wer weiß was im Sinn haben konnten. Das war also etwas anderes.

Es war Mittwoch, später Nachmittag. Sollte Gregs Information zutreffen, würde das Geheimtreffen der vatikanischen Entscheider morgen abend nach Einbruch der Dunkelheit stattfinden. Zum Glück würde es schon morgen stattfinden. Er war mit dem Nötigsten versorgt, also vorbereitet. Auf dem Bett lag eine Walther, Profianfertigung. Leider nicht so kompakt wie seine Walther in Wien. Aber ansonsten schien alles zu passen: Griffigkeit, Druckpunkt, Zug. Vor dem Ernstfall musste er sie noch richtig testen, quasi einschießen. Für eine derart wichtige Aufgabe muss man sich und sein Werkzeug optimal aufeinander abstimmen. Er hatte genug Munition, die auch für etliche Testschüsse reichte. Auf dem Hotelbett lagen ein Anzug, Hemd, Socken, Unterhosen und Schuhe. Er kam mit nichts als seinem Freizeitoutfit in Barcelona an, mit derselben Kluft, mit der er sich von Maryfuego in die Tiefe gestürzt hatte. Seine kleidungstechnische Erstausstattung war noch in ein handliches Bündel verpackt. Er ging nicht davon aus, dass die Klamotten seinem gewohnten Standard und Geschmack gerecht würden. Aber immerhin: Greg war ein Schatz. Er hatte mitgedacht und für alles gesorgt, obwohl ihm nichts so quer gehen musste, wie Oskars Entscheidung. Der wiederum war so mies drauf wie seit vielen Jahren nicht. War seine Laune überhaupt jemals so mies wie jetzt?

Er war allein, so allein wie noch nie.

Oskar hatte das Gefühl, sogar Greg verloren zu haben. Diesen Greg, den er wohl niemals loswerden würde, und das nicht nur aus beruflichen Gründen. Der Amerikaner hatte zweifelsohne einen Narren an seinem deutschen Partner gefressen – wie gesagt, nicht nur aus beruflichen Gründen. Es kam Oskar immer schon so vor, als ob er nicht nur der einzige, sondern auch der erste richtige Freund im Leben dieses gefährlichen, einzelgängerischen Chaoten war. Hätte er den Vaarenkroog-Job auftragsgemäß ausgeführt, würde der Kontakt sicherlich auch dann weiterbestehen, obwohl beide im beruflichen Ruhestand wären. Mörder & Co – wegen Reichtums geschlossen.

Ja, er wäre Gregory David Norman Morgenstern III wohl niemals losgeworden. Unter normalen Umständen. Und er hätte es wohl auch nicht gewollt. Auch er mochte diesen Chaoten, hatte sich mehr als nur an ihn gewöhnt. Ob sich alles wieder einrenken würde, falls er das nahezu Unmögliche schaffen sollte? Natürlich nur, falls Viktor Vaarenkroog zumindest einen Teil der Gage rüberwachsen ließ. Ginge Greg komplett leer aus, hätte der blonde Deutsche sicherlich auf ewig und drei Tage bei seinem bisherigen Partner verschissen.

Oskar Randow lehnte in der Fensternische des Hotelzimmers und sah auf die Ramblas hinunter. Sein Zimmer befand sich im dritten Stock. Unten herrschte geschäftiges Treiben. Er hatte sich noch auf dem Flughafen von Arrecife eine Baseballkappe zugelegt. Die und seine Sonnenbrille würde er aufsetzen, sobald er ins Freie ging. Es konnte sich nur noch um Minuten handeln – Hunger machte sich bemerkbar, richtiger Hunger. Außerdem musste er noch ein paar Dinge besorgen, auch Kleidung. Es war gut, dass Kalis Auftritt schon morgen sein würde. Das verkürzte auch für eine Christine Vaarenkroog die Zeit. Nämlich die Zeit, in der sie rauskriegen konnte, wo er sich aufhielt. Er checkte nicht nur als Oskar Randow im Hotel ein, sondern flog mangels gefälschter Dokumente auch unter seinem richtigen Namen von Arrecife nach Barcelona. Supercheckerin Christine würde all dies bald herausfinden. Er begab sich in Richtung Bett und befreite seine Erstausstattungskleidung von ihrer Verpackung. Das hätte er schon längst tun können, aber er musste wieder mal nachdenken. Teil seines Nachdenkens war auch die Bewusstwerdung darüber, dass morgen der letzte Tag seines Lebens sein könnte. Im Grunde genommen war das bei einem Aufeinandertreffen mit Kali sogar die realistischste Perspektive von allen.

Barcelona war die Motorradhauptstadt Europas – umso besser. Oskar hatte auch dieses Mal vor, sich trotz seiner Cinque Terre-Erfahrung ein motorisiertes Zweirad als Fortbewegungsmittel zuzulegen. Der Umstand, dass halb Barcelona auf motorisierten Zweirädern (nichtmotorisierte, also Fahrräder, waren deutlich seltener als in nordeuropäischen Metropolen) jeder Bauart und PS-Stärke unterwegs war, bedeutete ein Plus an Unauffälligkeit. Man würde einfach im Meer der Moped-, Motorroller- und Motorradfahrer untergehen. Diesmal bevorzugte er ein Leihmotorrad. Er hatte schon genug Spesen in den Sand gesetzt. Spesen, die alle auf seine Kappe gehen würden – falls er es überleben sollte. Er mietete sich eine BMW F800GS, eine bedingt geländetaugliche Straßen-Enduro. Handlich, nicht zu schwer, mit 85 PS mehr als flott genug – genau das Richtige für den Stadtverkehr und um eventuell auch mal über Bordsteinkanten oder Treppen zu heizen. Im Gegensatz zu vielen anderen Vermietern gab es bei ‚Hispania Tours‘ auch die Ausstattung wie Helm, Handschuhe, Stiefel, Lederjacke und -hose zu mieten. Es tat gut, die Leihlederkluft diesmal nicht exorbitant teuren Vaarenkroog-Ursprungs zu wissen. Das hatte nichts mit Geld zu tun. Etwas zu tragen, was diesmal nicht ihren Namen trug, war einfach besser für die seelische Infrastruktur.

Er aß ein Doppelwhopper Menü mit Pommes und Cola light und begab sich wieder auf die Straße. Es war das erste Junkfood seit vielen Monaten, und es schmeckte ausgezeichnet. Neben einer Plastiktüte hatte er noch eine große Nylontasche – eine Art Ikea-Tasche – mit der Motorradausstattung über die Schulter geworfen. Vom freundlich zur Verfügung gestellten Erstausstattungsanzug hatte er auf neu gekaufte Freizeitkleidung gewechselt – Kapuzenjacke, Jeanshose, T-Shirt, griffige Freizeitschuhe. Das passte besser zu seiner Baseballkappe als der Anzug. Die Kapuze konnte man noch zusätzlich über den Käppi-bewehrten und sonnenbebrillten Kopf ziehen – herrlich anonymer Ghetto-Style, ideal für enttarnte Profikiller. Daher behielt er die neuen Freizeitsachen gleich an und steckte stattdessen Anzug, Hemd und Schuhe in die Plastiktüte. Die alte Freizeitkluft müffelte schon merklich nach Schweiß und Meerwasser, würde also nicht mehr zum Einsatz kommen. Er wollte noch das Einschießen der Walther erledigen, am besten außerhalb der Stadt. So trug er alles ins Hotel, um sich danach wieder in die Calle Joan Miró zu begeben. Sein Leihmotorrad stand noch beim Verleiher, obwohl er die Schlüssel und Papiere schon in Empfang genommen hatte. Erstmal galt es, die anderen Dinge im Hotel abzulegen, sich motorradtauglich umzuziehen und seine Walther nebst zwei vollen Magazinen – eins in der Waffe, eins extra – in einen kleinen Rucksack zu bugsieren, den er ebenfalls frisch erstanden hatte. So einen, den man beim Motorradfahren bequem auf den Rücken schnallen kann. Wegen der Hitze verzichtete er darauf, die Motorradlederhose und -stiefel anzuziehen und ließ seine neue Jeans sowie sein rustikales Freizeitschuhwerk an. Schließlich ging es diesmal nicht um eine rasante Überlandverfolgungsjagd, die maximale Schutzkleidung erforderte. Auch der Motorradverleih war bequem in Fußweite. Die Wahl des ‚Boquería Hostal‘ hatte sich als richtig erwiesen.

»Buen viaje, Oskar!« Ein Mitarbeiter des Motorradverleihs war auf die Straße getreten, als Oskar das Motorrad bestieg. Es war kurz nach sieben Uhr abends, er sperrte das Geschäft zu. Wie üblich war man gleich beim Vornamen. Oskar besaß trotz seines kühlen Auftretens für manche Menschen eine distanzfreie, sympathische Ausstrahlung. Außerdem waren hier Motorradfahrer unter sich – alles Brüder und Schwestern, gleich welchen Alters.

»Gracias, Paco.«

»Where you go?«, fragte Paco.

»Outside Barcelona.«

»I see. Good choice. City is too hot, too full… overcrowded. Have fun, amigo!«

»Yes, it is. Gracias, amigo.«

Paco winkte zum Abschied, Oskar hob kurz die Hand und fuhr los. Wrumm!

»Verdammte Scheiße!«

Er war gerade erst losgefahren, fuhr auf der Plaça dels Voluntaris in den Kreisverkehr am Yachthafen ein, als es ihn riss. Ein großer SUV drängte sich vor ihm in den Kreisverkehr. Noch bevor er ihn sah, hatte er ein Aufgrollen animalisch-technischer Kraft vernommen, die abgerufen wurde, um spielerisch an der BMW vorbeizuziehen. Dieser SUV war mattschwarz, hatte schwarze Fensterscheiben, keine Zierleisten, kein Chrom, monsterbreite Räder… und war in seiner ursprünglichen Form mal ein VW Touareg. Der große dunkle Klotz fuhr direkt vor ihm. Noch bevor er dessen italienische Kennzeichen mit dem großen SP für ‚La Spezia‘ lesen konnte, riss es ihn schon. Und es riss ihn nicht, weil ihm dieser rollende Bomber die Vorfahrt genommen hatte. Es stach richtig, als der durchgehend schwarze Wagen in sein Blickfeld geriet und mit seiner optischen Erscheinung die Geräuschkulisse bestätigte. Bei ‚Spiderman‘ würde man sagen, dass sein ‚Spinnensinn‘ anschlug – und zwar so laut wie die Glocken der Sagrada Familia. Das war kein Zufall!

Das Kalimobil befuhr in moderatem Tempo die Ronda del Litoral, die Straße entlang des Hafens. Oskar blieb hinter ihm. Der Stealthbomber auf Rädern hätte seine PS-Power sogar ein wenig abrufen können, da die Straße nicht gerade überfüllt war. Entweder saß jemand am Steuer, der die erlaubte Geschwindigkeit peinlich genau einhielt, oder es wurde darauf geachtet, dass ein Verfolger bequem dranbleiben konnte. Möglichkeit eins schloss Raserin Christine als Pilotin aus, Möglichkeit zwei offerierte zumindest den engsten Kali-Dunstkreis als Lenker: doch Christine, Jean-Pierre und natürlich die Legende höchstselbst.

Also, was haben wir hier? Ich tippe auf M ö glichkeit zwei.

Oskar wurde langsamer – ein Test der genau das herausfinden sollte. Das Kalimobil wurde ebenfalls langsamer. Die BMW bremste sich weiter ein, der Touareg beschleunigte wieder auf normale Geschwindigkeit. Die Feierabend-Rush hour der Büromenschen war ebenso vorbei, wie der nächtliche Verkehr noch nicht eingesetzt hatte. Diese Kombination sorgte für einen übersichtlichen Großstadtverkehr, der solche Manöver ohne Verkehrsbehinderung zuließ. Zudem war die Straße am Hafen keine der Hauptverkehrsadern der katalanischen Metropole. Der Durchgangsverkehr wurde parallel über den Paseo de Colon geleitet.

Sie passierten die Anleger für Kreuzfahrtschiffe, um dann weiter über zwei kleine Kreisverkehre direkt auf das Hafengelände zu fahren. Muelle Costa, direkt an der ‚AIDAbella‘ vorbei. Der Touareg strebte weiter zum Containerhafen. Oskar bremste seine BMW ein, hielt. Er drehte seinen Kopf nach links zum weißen Kreuzfahrtriesen mit dem roten Kussmund, tat, als ob er sich das Schiff anschauen wollte, drehte seinen Kopf wieder nach vorn. Gut hundert Meter vor ihm hatte sich das Kalimobil ebenfalls eingebremst, hielt.

Auf dem Schiff befanden sich vereinzelt Passagiere auf den Balkons vor ihren Kabinen. Manche davon winkten dem augenscheinlich gaffenden Motorradfahrer zu. Oskar hatte sich des öfteren schon gedacht, dass Winken wohl zu den menschlichen Ur-Instinkten gehört. Oder eine Konditionierung im Kleinstkindalter ist, die viele Menschen Zeit ihres Lebens nicht ablegen können oder wollen. Oder beides. So saß er auf der F800GS und frönte einem seiner häufigsten Zeitvertreibe. Er dachte nach. Aber er winkte nicht zurück.

Das ist eine Falle! Eine zu offensichtliche Falle obendrein.

Oskar drehte seinen Kopf wieder nach vorn. Das Kalimobil hielt immer noch. Aus den vier kantigen, mattschwarzen Auspuffenden des allradgetriebenen Monsters entsprang das sonore, gleichmäßige Brummen seiner zwölf Zylinder, das man nur aus der Nähe vernahm. Die vom hundert Meter entfernten Verfolger (war er ein Verfolger?) nicht hörbare Geräuschkulisse änderte sich ins dumpf grollende Motorengeräusch, das bei einem Gasstoß des Piloten kurz vor dem Wuuuuh einsetzte. Die Sonderanfertigung fuhr vehement an. Kali – oder wer auch immer sich darin befand (Christine, Jean-Pierre?) – gab Gas. Der gepanzerte Stealthbomber schoss mit gut zehnmal soviel Pferdestärken wie das ihn verfolgende Zweirad dahin und bog dann nach links zu einem Lagerhauskomplex am Containerhafen ab. Oskar hörte Grollen und Wuuuuh und rollte an. Er vernahm noch Gejohle von Passagieren des Kreuzfahrtschiffes, die die sowohl geräusch- als auch beschleunigungstechnisch eindrucksvolle Performance des sonderbaren schwarzen Wagens mitbekommen hatten.

Kalis Monstervehikel war in Sichtweite abgebogen und würde wohl kaum über die Kaimauern ins Meer hinausrasen. Denn sooo wasserfest waren Christines Geländewagen auch wieder nicht. Das galt wohl auch für Kalis Vehikel.

Da stand es. Er erreichte den Parkplatz des gepanzerten Boliden zwei Minuten nach dem vehementen Vorauspreschen. Das Sonderfahrzeug stand vor einem Lagerhaus, dessen Stirnseite ein vertrautes weißes Schild mit schwarzen Lettern zierte: ‚Christine Vaarenkroog‘, darunter ‚Italia‘. Ihr Lagerhaus. Oskar wendete, fuhr zwanzig, dreißig Meter zurück, machte den Motor aus, stellte die BMW auf den Seitenständer und stieg ab. Er ging in Richtung Lagerhaus und linste durch die einzig nicht absolut schwarze Fensterscheibe des Kalimobils – die Windschutzscheibe. Es war unbesetzt. Er ging an dem Wagen vorbei, zurück zu seinem Motorrad. Erst jetzt begriff er, dass die schwarzen CV-Zeichen an Front und Heck, die er seinerzeit zuerst für normale VW-Logos gehalten hatte, nicht für die Initialen von Kalis Chefin standen – sicherlich der freundlichen Zur-Verfügung-Stellerin des Dienstwagens. Da hatte er Kalis bürgerlichen Vornamen noch nicht gekannt. Es war Kalis Dienstfahrzeug. Kali und Christine waren ein Team, wie Oskar und Greg ein Team aus operativer und organisatorischer Hälfte. Nein, das runde C mit dem darin befindlichen V bedeutete nicht Christine Vaarenkroog. Es stand für Christine und Victoria. Sicher. Er ging zur BMW zurück. Jetzt erst setzte er den Helm ab und zog die Handschuhe aus.

Die BMW war um die Ecke geparkt, stand im Schatten des ersten und einzig separat stehenden Lagerhauses. Nach einem Abstand von etwa zwanzig Metern setzte sich eine ganze Reihe dieser Lagerhäuser bis fast zum Ende des Kais fort. Sollte die Person das Lagerhaus gleich wieder verlassen, würde sie das im toten Winkel geparkte und im Schatten stehende Motorrad nicht bemerken.

Oskar hatte sich nach Absetzen des Helms seine Baseballkappe aufgesetzt, obwohl es ihm als eine überflüssige Maßnahme erschien. Es deutete einiges darauf hin, hierher gelockt worden zu sein. Aber sicher ist sicher. Er bewegte sich zielstrebig und selbstsicher. Der vordere Teil des Containerhafens wirkte wie ausgestorben – Feierabend. Der auch abends geschäftige Bereich befand sich gut einen Kilometer weiter, wo große Verladekräne die Container stapelten und Schiffe be- und entluden. Dennoch sollten seine Bewegungen etwaige Beobachter darauf schließen lassen, dass er wusste, wo er war und was er tat. Wer sich unsicher verhielt, verriet damit, dass er eigentlich nicht daher gehörte, wo er sich befand. Verhaltensregeln für Killer und andere Menschen mit unheiligen Absichten.

Nun stand er vor der metallenen Eingangstür des Lagerhauses und besah sich den Türknauf. Ein Türknauf ist keine Klinke, daher war die Tür nicht nur geschlossen, sondern auch verschlossen. Wie sich das gehört, wenn sich hinter dieser Tür – wie bei Lagerhäusern üblich – größere Mengen an teuren Waren befinden. Er erblickte ein Klingelschild, auf dem ‚TIMBRE‘ geschrieben stand – Klingel. Sehr aufschlussreich. Unterhalb der Klingel befand sich ein handlicher Kasten neueren Baujahres und weitaus komplexerer Technologie. Ein Gerät mit Schlitz zum Durchziehen von Magnetkarten und zusätzlicher Nummerntastatur zur Codeeingabe. Klingeln würde er schon mal nicht, das war klar. Aber sonst war nichts klar. Er sah sich um, niemand war in Sichtweite.

Nicht gut. Alles nicht so gut, das hier.

Das bezog sich weniger auf das Codeeingabegerät als auf den Umstand, hier zu stehen und sich auch noch Gedanken darüber zu machen, wie die Maus in die für sie vorbereitete Falle tappen konnte. Denn alles sah genau danach aus. Wobei: Wenn alles geradezu verdächtig nach einer Falle aussieht, dann könnte es andererseits auch keine Falle sein. Zu Offensichtliches verheißt oft das Gegenteil. Und falls es doch Falle eine war? Würde man ihn dann hierher locken, um ihn vor der Banalität einer geschlossenen Tür scheitern zu lassen? Wohl kaum.

Logik beantwortet Fragen.

Nicht alle, aber vielleicht diese. Zahlencodes sind üblicherweise vierstellig. Falls man ihn wirklich hierher gelockt hatte, dürfte dieser Code für ihn also nachvollziehbar sein. Es wäre andererseits auch nicht das Allernaheliegendste, was Langfingern den Eintritt gewähren könnte, da sieben von zehn selbst gewählten Codes genau das waren: das eigene Geburtsdatum. Oskar würde also sicher nicht 0802 für Christines Geburtstag am 8. Februar eingeben. Ihren Geburtstag konnte jeder Sonderschüler aus dem Internet abrufen – Wikipedia sei Dank. Und doch tippte er 0802 ein. Das Blödeste ist oft genau das Richtige, eben weil es zumindest halbwegs intelligente Menschen für das Blödeste und damit Undenkbarste halten. Schwarze LCD-Zeichen erschienen blinkend.

‚no admittance‘

Dann das zweitdümmste, aber zweifelsohne erneut eine Zahlenkombination mit Charme. Wieder ihr Geburtstag, aber mit Geburtsjahr und ohne Nuller bei Tag und Monat. Er tippte 8282. Da Christine keine Amerikanerin war, hätte sie auch nicht die amerikanische Reihenfolge gewählt – Jahr, Monat, Tag. Demnach 8228, ebenfalls ein schöner, sogar noch symmetrischerer Code. Trotzdem:

‚no admittance‘

Das waren zwei Fehlversuche. Das kleine Gerät sah wie gesagt nach neuerem Datum aus, wäre also unerbittlich und würde beim dritten Fehlversuch einen stummen Alarm schlagen. Wie ein Geldautomat dann deine Bankkarte einzieht, dein Handy sich in den Dauerruhestand versetzt, bis es wieder mit der Reserve-PIN (die man sich erst recht nicht merkt und garantiert verlegt hat) zum Leben erweckt werden kann. Und genauso, wie Oskar damals in Irland von einem dritten Versuch abgesehen hatte, auf den Computer seines verstorbenen Chefs zuzugreifen. Aller guten Dinge sind drei, aller schlechten Dinge drei Fehlversuche.

Jetzt muss die richtige Kombination her!

Sein Handy klingelte. Verflucht! Er hatte vergessen, es auf stumm zu schalten und klickte Greg sofort weg. Dann schaltete er es auf stumm. Glücklicherweise war Oskar ein Freund dezenter Klingeltöne wie -lautstärken. Gerade als er sein Handy wieder einstecken wollte und noch kurz auf das Display sah, das Gregs Anrufversuch anzeigte, hielt er in der Bewegung inne. Er nahm es erneut vor die Augen und besah sich die Tastatur. Im Gegensatz zu modernen Smartphones besaß sein in die Jahre gekommenes Nokia E70 (er liebte es wegen seiner versteckten, vollwertigen Buchstabentastatur) noch richtige Hardwaretasten. Und diese Tasten zeigten nach guter alter Sitte die zusätzliche Belegung mit drei bis vier Buchstaben (die man – wie gesagt – nicht brauchte, wenn man die Zahlentastatur des E70 hochklappte und dann von der vollwertigen Tastatur darunter Gebrauch machte). Amerikanische Unternehmen gaben ihre Telefonnummern seit Jahrzehnten mit dem geschriebenen Firmennamen an, indem die Kunden einfach die Zahlentaste drückten, die dem jeweiligen Buchstaben entsprach. Und zwar nur einmal, nicht wie beim SMS tippen auf einer Zahlentastatur, wo man für das häufig gebrauchte S viermal die 7 drücken musste. Bei 1-800-SAMSONITE drückte man demnach nur einmal die 7 für das S. Christine stellte zwar keine Plastikkoffer, sondern Lederklamotten her, aber sehr wahrscheinlich lag hier das selbe Prinzip zugrunde. Allerdings handelte es sich hier ebenso wahrscheinlich um einen vierstelligen Code, wie bei anderen Tür-Einlasscodes, PINs und ähnlichem. Obwohl es sich um eins ihrer Warenlager handelte, sprach alles in Oskars Innerem gegen einen Bezug des Türcodes zu Christines offiziellen Gewerbe. Aber auf was bezog er sich dann?

Fangen wir doch mal so an: Weswegen war er denn hier?

KALI

war vierstellig! Er sah auf die Tasten seines Handys und bewegte den Zeigefinger zum Codeeingabegerät. Der dritte und letzte Versuch. Falls es klappen sollte: Hoffentlich war der Türsummer nicht zu laut. Denn in diesem Fall hätte es trotz Erfolgs keinen Alarm mehr gebraucht. Er nahm sich vor, erst alle Buchstaben mit den Zahlen abzugleichen und dann zu tippen. Es musste weniger als eine Sekunde zwischen dem Tippen der Tasten vergehen, weil es ansonsten als weiterer Fehlversuch gedeutet würde. Das kannte er von anderen Codeeingabegeräten. Und ganz banal von der heimischen TV-Fernbedienung, die beim Tippen mehrstelliger Programmnummern nur die erste Ziffer berücksichtigte, wenn er zu lange zum Tippen der zweiten brauchte. Also

K ist auf welcher Zahlentaste dann A L liegt auf derselben wie K

Tipp, tipp, tipp, tipp

5 2 5 4

‚access granted‘

Das Schloss der Metalltür entriegelte sich mit einem dezenten Klack.

Puh! Oskar war es mittlerweile sehr warm unter seiner Motorradlederjacke. Er zog die Tür auf und betrat vorsichtig das Lagerhaus. Das Pförtnerhäuschen gleich nach dem Eintreten links war leer. Klar, Feierabend. Auch in Spanien gab es Gewerkschaften, die Pförtner nicht bis zum späten Abend arbeiten ließen. Außerdem, wie hatte Christine selbst doch so schön gesagt:

‚Ich will, dass meine Leute ihren geregelten Feierabend haben.‘

Das betraf eher nicht sie selbst. Und schon gar nicht Kali.

Vor Oskar tat sich ein Raum von sicher gut dreißig mal sechzig Metern mit etlichen Reihen von Hochregalen und einer weiter hinten befindlichen zweiten Ebene auf. Dort, wo die Hochregalreihen endeten, befand sich eine Empore. Oskar konnte kein künstliches Licht erkennen. Gelbes Licht glimmte trübe durch ein Gitterwerk von kleinen quadratischen Fenstern, die Längsseiten und Frontseite des Lagerhauses dominierten. Das Licht der abendlich tiefstehenden Sonne schuf eine gespenstische Kulisse, modelliert aus den Schatten der Fenstergitter und gut gefüllten Regalen. Es war halb acht Uhr abends. Vielleicht eine Stunde noch, dann war es mit dem Tageslicht vorbei. In südlichen Gefilden geht die Sonne sommers ebenso früher unter, wie sie winters länger am Himmel bleibt. Er ließ seine Blicke durch den Raum wandern. Tausende Jacken und andere Kleidungsstücke in Klarsichtfolie wechselten mit großen Pappkartons, also transportfertig eingepackter Ware. Der Einstandspreis einer Vaarenkroog-Lederkreation stellte einen vierstelligen Euro-Betrag dar. Demnach hingen hier Millionenwerte. Die Unübersichtlichkeit des mit Hochregalen vollgestellten Riesenraumes von sicher zehn, fünfzehn Metern Höhe war sowohl Vorteil als auch Nachteil, weil der eigene Vorteil der Versteckmöglickeiten auch der des Gegners war. Oskar zog leise seinen Rucksack von den Schultern und entnahm die Walther. Er setzte den Schalldämpfer an. Hier musste er schrauben, nicht klicken wie bei seiner Walther. Es sah so aus, als könnte das Einschießen der Waffe bereits den Ernstfall darstellen. Er nahm seine Sonnenbrille ab, steckte sie in die Lederjacke, pirschte sich weiter in den Raum vor und sah sich um. Es roch unheimlich stark nach Leder. Was Wunder!

»Ist alles für die iberische Halbinsel und Lateinamerika. Und schon verkauft.

Der brasilianische Markt wächst geradezu gigantisch, Oskar.«

Die blecherne, über Lautsprecher in den Raum gestrahlte Stimme ließ Oskar erstarren. Nach dieser kurzen Schockstarre begab er sich blitzschnell hinter ein Hochregal und ging in die Hocke. Ob er sich wirklich in Deckung begab, konnte er nicht sagen. Die Stimme konnte überall im Raum ihren Ursprung haben.

»Schön für euch. Danke für die Info, Kali«, zischte er leise zu sich selbst. Sie sollte ebenfalls nicht lokalisieren können, wo er sich befand. Ihr Wissen, dass er da war, sollte erstmal reichen. Und doch hatte er wieder mal Glück im Unglück. Hätte Greg nur ein paar Minuten später angerufen, hätte sein Handy hier und jetzt geklingelt. Andererseits wäre er ohne Gregs Anruf wohl erst einiges später auf die Idee mit der Buchstaben-gleich-Zahlen-Kombination gekommen. Wenn überhaupt heute noch.

Kali kannte ihn, auch das war nichts wirklich Überraschendes. Sie war Christines Vertraute, mehr noch, Freundin gar. Hätte Christine ihr nicht von Oskar berichtet, wäre das wirklich ungewöhnlich gewesen. Er fand es sogar irgendwie schmeichelhaft, der legendären Kali ein Begriff zu sein. Schmeichelhaft, aber nicht unbedingt von Vorteil. Er musste davon ausgehen, dass die große Kali mittlerweile wusste, es mit einem Kollegen zu tun zu haben. Nett, aber definitiv kein Vorteil! Und ‚nett‘ ist sowieso der kleine Bruder von…

»Christine hat recht. Du bist schlau, Oskar«, erschallte es.

Was meinte sie jetzt damit? Die unheimliche, blecherne Stimme schob die Antwort auf die innerlich gestellte Frage nach.

»Du hast das Schloss geknackt… das kleine Rätsel gelöst. Das war schon mal nicht so schlecht.«

»Ja, und ich wette, dass das von dir beabsichtigt war. Um mich jetzt und hier plattmachen zu können«, brummte er leise in sich hinein. Er sah sich um, nichts und niemand war zu sehen. Eine Zeit lang war Ruhe.

»Warum hast du eigentlich nichts von Vaarenkroog?«, kam wieder die blecherne Stimme. Aha, das wusste sie also auch. »Außer Christine. Aber die hast du ja auch nicht mehr.«

Sie will mich provozieren, diese Schei ß kuh!

Scheiß drauf

ich steig drauf ein!

»Vielleicht kann ich‘s mir nicht leisten!«, rief er sarkastisch und änderte danach sofort seinen Standpunkt, indem er am Regal entlangglitt. Er drehte hektisch seinen Kopf, spähte in alle Richtungen.

»Bezog sich das auf Christine?«, fragte die Stimme gedehnt, die nunmehr nicht mehr blechern, sondern neckisch klang. »Oder auf die Klamotten?«

»Für die Klamotten reicht‘s so grad noch!«, rief er wieder und bewegte sich weiter in den Raum hinein. So lautlos es eben ging.

»Hahahahaha!«, flutete ein hallendes Lachen den Raum. »Deswegen liebt sie dich also: nicht nur geistreich, auch witzig.« Für einen Moment war Ruhe. »Oh, sorry, Oskar. Vergangenheitsform«, kam es mit gespieltem Bedauern. »Deswegen hat sie dich geliebt.«

Oskar nickte und sah ernst zu Boden.

Die Alte will mich wirklich provozieren! Ihr gutes Recht. Und sie hat ja recht.

»Tja, Christine, mein Schatz. Auch du scheinst unheimlich schnell zu sein.

Was das Entlieben angeht«, brummelte er vor sich hin. »Wussten wir ja schon.«

Er schüttelte ruckartig seinen Kopf, als wollte er damit alle Gedanken über Christine aus dem Kopf schütteln – Sentimentalität ausschalten, Professionalität einschalten.

Kali sprach perfekt deutsch! Die Französin sprach perfektes Deutsch. Die multilinguale Christine Vaarenkroog und ihre tödliche französische Freundin waren in mancherlei Hinsicht das duo infernale. Kali war sicherlich ebenfalls multilingual. Passte erschreckend gut mit den beiden. Musste wohl so sein, bei einem an Professionalität und Perfektion nicht zu überbietendem Damen-Doppel.

»Du bist wegen etwas Bestimmten hier, Oskar«, erklang es erneut aus allen Richtungen.

»Das war doch mein Spruch«, brummte Oskar leise, der sich an seine Ansage bei Viktor Vaarenkroog erinnerte, um selbigen auf den Punkt kommen zu lassen. Zufall? Zufall.

»Die Vaarenkroog-Filiale in der City hatte mir nicht genug Auswahl!«, rief er.

Dieses Mal kam kein Lachen.

»Glaub ich dir gern, Oskar. Diesen Vaarenkroog-Dress gibt es nur an mir. Und du willst ihn mir vom Körper reißen«, kam es sinnlich, lasziv. »Von meinem toten Körper. Als Trophäe.« Die Stimme war wieder blechern, entmenschlicht. Keine Spur neckisch, kein bisschen humorvoll. Kali kam auf den Punkt. Sah so aus, als ob es bald mal losgehen würde – der Showdown.

»So nekrophil bin ich nicht. Und Trophäensammler bin ich auch nicht!«, blaffte er. Oskar vermutete seine Gegnerin in dem Häuschen auf der Empore, wahrscheinlich die Schaltzentrale des Lagers. Dort war dann wohl am ehesten die Ausrüstung, mit der Kalis Stimme den Raum fluten konnte: Computer, Mikrofon, Verstärker. Er pirschte sich näher an die Zentrale heran, drückte sich mit erhobener Walther an die Regale, konnte daher nicht sehen, wie sich eine Silhouette von der Empore hinunterließ. Eine dunkle Gestalt glitt mit ausgebreiteten Armen in Richtung Boden. Ihr Kopf sah nach unten, ihre halblangen schwarzen Haare hoben sich im Fallen von ihren Wangen ab. Es hatte die Anmutung einer Zeitlupe und war völlig geräuschlos. Sie wirkte schwerelos, war so furchteinflößend wie schön – ein Engel. Ein gefallener, schwarzer, tödlicher Engel. Ihre Fußspitzen berührten den Boden, ihr bleiches Gesicht mit der geschwärzten Augenpartie sah langsam auf. Es hätte eine Hochgeschwindigkeitskamera gebraucht, um die Bewegung ihrer Hand sichtbar zu machen, die sich für menschliche Augen unsichtbar schnell hob. In ihrer Rechten befand sich eine schallgedämpfte Halbautomatik.

Ein Schuss streifte Oskars Schuh. Merklich. Er zuckte und sah schnell genug in Richtung des Ziels, sodass er die Funken des Projektils sehen konnte, als es vom Betonboden abprallte. Nur dieser Abpraller war zu hören. Natürlich benutzte Kali ebenfalls einen Schalldämpfer. War das ein Warnschuss? Wenn Kali so gut positioniert war, seinen Schuh treffen zu können, hätte sie ihn vielleicht auch richtig erwischen können. Oder zumindest sein Bein. Hier waren eindeutig zu viele Fragezeichen im Raum! Es stand leider nur eins fest. Selbst falls es ein Warnschuss und damit eine ‚nette Geste‘ von der Tödlichsten überhaupt war:

Er musste Kali töten.

Dass sie in der Lage war, ihn zu töten, hatte sie mit diesem Schuss mehr als bewiesen. Es musste ein Warnschuss gewesen sein. Gezielt daneben zu schießen, ist schwieriger, als direkt auf jemanden abzudrücken! Erst recht aus gewisser Distanz. Die Beste von allen war obendrein eine verflucht gute Schützin. Was auch sonst? Die Beste war nunmal die Beste. Er wollte Kali nicht wirklich töten. Seit diesem Warnschuss schon mal gar nicht. Noch vor ein paar Wochen wollte er Kali aus dem naheliegendsten Grund nicht töten. Er wollte – wie jeder andere Profi – niemals auf die Beste von allen losgelassen werden. Jetzt gesellte sich noch ein anderer Grund hinzu, spätestens jetzt. Kali war nicht nur eine enge Vertraute, eine Freundin der Frau, die er nach wie vor liebte. Sie kam ihm mittlerweile in der Tat vertraut vor. Fast eine Seelenverwandte, nur noch viel besser als er. Perfekt! Absolut professionell, bewundernswert, viel eher noch Respekt als Angst einflößend. Auch ihre provokanten Ansagen waren eigentlich alles andere als unsympathisch, wenn man‘s weniger persönlich nahm und Liebeskummer außen vor ließ. Er wollte nicht, er musste. Und würde sich nach getaner Tat dafür verfluchen. Viel wahrscheinlicher war aber sein Ableben. Auf jeden Fall würde er seine Haut mindestens so teuer verkaufen wie Christine ihre gegerbten und colorierten Häute. Daher hieß es jetzt besser aufzupassen. Wahrscheinlich hätte sie ihn bereits töten können – der Warnschuss. Er wollte alles dafür tun, dass es ein gutgemeinter Fehler ihrerseits war. Denn

Gut gemeint ist das Gegenteil von gut gemacht!

»Darf ich dich mal was fragen, Kali?«, rief er.

»Alles«, kam die prompte Antwort mit einem Echoeffekt, gehaucht und sehr sinnlich. Irgendwie erinnerte ihn das an Veras gleichlautende Antwort. Damals.

Er sah sich wieder nach allen Richtungen um. Sie musste oben in dem Häuschen sein. Für diesen Echoeffekt bedurfte es einer gewissen elektronischen Mindestausrüstung. Einem Computer zum Beispiel. Von dort oben hätte sie ihn aber nicht ins Visier nehmen können. Wahrscheinlich änderte sie ihre Standpunkte, so wie er es tat.

»Warum willst du den Papst töten, werte Kollegin?« Nach jedem Sager wechselte er seine Position.

»Bist du Papstfan, Oskarchen?«, hallte es. »Wir sind Papst!« Die nach der Papstwahl an alle Deutschen gerichtete Bild-Schlagzeile kam überraschend witzig rüber. Als hätte sie die Lippen zu einer Schnute gestülpt, um übertrieben wichtig den bösen Deutschen zu geben. Sie, die Französin! Oskar fand sie nunmehr wirklich sympathisch.

»Nein, Kalichen, bin ein Ungläubiger in jeder Hinsicht. Nur so aus Interesse.«

Er hatte sich wieder zurückgezogen, näher Richtung Eingangstür, wollte sie verwirren. Sie ging sicherlich davon aus, dass er auf direktem Weg zur Empore war. Nach ihrem kleinem Scherz blieb sie die Antwort schuldig. Er konnte die schwarzen Lippen nicht sehen, die sich aufgrund seiner Antwort zu einem breiten Grinsen verzogen.

Schweigen. Keine Antwort. Nicht unerwartet.

Sie ist nicht mehr in dem H ä uschen!

Aufpassen, aufpassen!

Er war wieder an der Eingangstür, drückte seinen Rücken dagegen, scannte alles, schnaufte durch. Wenigstens konnte auf die Art niemand hinter ihm sein.

»Vielleicht hab auch ich mit Herrschenden ein Problem«, kam es erneut so sinnlich wie zweideutig. Endlich die Antwort! Sie berief sich auf Christines Spruch in Zürich… beim Kennenlernen.

Die beiden Freundinnen teilen wirklich viel miteinander. Wie auch immer:

Sie ist doch im Häuschen. Ich bin hier sicher.

Pangpang!

Oskar erstarrte für einen Sekundenbruchteil, warf sich auf den Bauch und schoss ebenfalls zweimal in die Richtung, von der aus zwei Schüsse auf ihn abgeben wurden. Er blickte sich um und rollte sich in die Deckung eines Regals. Danach drehte er sich, hob den Rücken etwas an, sah und zielte Richtung Eingangstür. Das metallene Pangpang war den zwei Beulen in der stählernen Tür entsprungen. Beide Beulen befanden sich jeweils nur wenige Zentimeter weiter außen, wo sich zuvor seine Ohren befunden hatten. Und eben diese Ohren waren nun von einem temporären Tinnitus befallen, der glücklicherweise an Intensität verlor. Kali hatte beide Projektile unglaublich schnell und treffsicher hintereinander abgefeuert. Kein Pang Pang, sondern ein Pangpang. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Das Klingeln in seinen Ohren ließ weiter nach.

Wo ist sie????

Und

Ich bin ein Idiot!!!

Willkommen im Zeitalter der drahtlosen Mikrofone. Ein Zeitalter, das – nebenbei bemerkt – schon recht lange Bestand hatte.

Sie spielt mit mir verdammt sie spielt mit mir!

Wer hier Katze und wer Maus war… reine Gedankenverschwendung. Von Katzen ist bekannt, dass sie mit der Maus spielen, bevor sie sie zerlegen. Oskar lag auf dem Boden, mit dem Rücken an Kartons gestützt, pustete durch, sah auf seine Waffe. Hoffentlich würden die zwei Magazine reichen! Ein Vorteil der normalgroßen Walther war ihre eineinhalbfache Schusskapazität verglichen mit seiner kompakten Lieblingswaffe – fünfzehn statt zehn Schuss. Müsste reichen. Man musste erstmal lange genug für diese Schussreserven leben, denn

Ich hab keine Chance gegen Kali.

Nicht morgen, dies war der letzte Tag seines Lebens. Er hätte er schon dreimal tot sein können. Noch musste sie gewollt haben, dass er am Leben blieb. Denn sie hatte dreimal getroffen – dreimal daneben, fraglos beabsichtigt.

»Na, keine Lust mehr zu spielen?«, erschallte es aus den Lautsprechern.

Bingo! Für sie ist das echt nur ein Spiel und ich bin diesmal der Snack.

»Doch, du Miststück!«, zischte er leise. »Das war mein letzter Fehler.«

Wenn die Sonne tief steht, werfen auch Zwerge lange Schatten!

Das galt im übertragenen Sinne für ‚Oskarchen‘, den Zwerg in Relation zu Kali, aber auch im wortwörtlichen Sinn für die nicht gerade großgewachsene Superkillerin. Oskar sah auf seine Armbanduhr. Es war acht Uhr abends, mitteleuropäische Sommerzeit. Kali und er ‚spielten‘ seit nicht mal einer halben Stunde. Die Anspannung ließ es ihn länger vorkommen. Es blieb vielleicht noch eine weitere halbe Stunde, bevor die Sonne westlich vor Barcelona im Meer versank. Vielleicht mehr, da Spanien von derselben Zeitzone wie Mitteleuropa Gebrauch macht, aber im äußersten Westen Europas liegt (lediglich die westlich von Nordwest-Afrika liegenden Kanaren befanden sich in einer anderen Zeitzone). Das würde den früheren sommerlichen Sonnenuntergang südlicher Länder wieder ausgleichen! Das Zentralgestirn schickte gelb-oranges Licht durch die trüben Fenster der Vorderseite des Lagerhauses, also musste er sich nach hinten, in Richtung der Empore begeben. Und Kali musste nach vorn gehen, die tiefstehende Abendsonne im Rücken haben. Eine Idee hatte er also schon. Immerhin.

Nur: Wie brachte er Kali dazu, in Richtung Eingangstür zu gehen?

Ha! Wie nochmal t ö tet man eine Todesg ö ttin?

Das hatten wir leider nicht in der Schule in Gregs Schule. Nicht einmal in Amons Schule

Er stand auf, sah in Richtung Empore. Dort musste er hin!

»Kuckuck!«

Es war nicht mehr nötig, sich irgendwas einfallen zu lassen, um Kali in den vorderen Teil des Lagerhauses zu bewegen. Er riss seinen Kopf zurück zur Vorderseite, einem frechen ‚Kuckuck‘ entgegen, das dieses Mal nicht lautsprecherverstärkt war. Es riss ihn derart, als sich der Rest seines Körpers ihr zuwendete, dass er beinahe gestolpert und hingefallen wäre – ihr daraufhin schiefes Grinsen konnte er nicht sehen. Weil

Sie stand im Gegenlicht, etwa zehn Meter hinter ihm, nunmehr vor ihm, weiter vorn in Richtung Eingang als er. Er stand inmitten eines Ganges zwischen zwei Hochregalen, sie stand vor diesem Gang, vor der ganzen Reihe von Hochregalen. Ihre Waffe hatte sie lässig an sich herunterbaumeln und grinste ihn an. Oskar hörte sie noch ein ironisches ‚schicke Mütze‘ murmeln, war für Sekundenbruchteile paralysiert, fixierte sie, es kam ihm viel zu lange vor, riss dann endlich seine Walther hoch und schoss.

Plopp! Nicht einmal ein Augenzwinkern zuvor hatte sie sich radschlagend an die Seite begeben.

»Fuck! Sie kann sogar Kugeln ausweichen. Wie im Film. Und ich bin im falschen Film«, flüsterte er. »Ein Phantom, sie ist ein Phantom!« Er schluckte und wischte sich Schweiß von der Stirn. »Ein verdammt heißes Phantom.«

Als er nur ansetzte, auf sie zu schießen, war sie verschwunden. Weg! Und er war weißgott nicht langsam. Er schmiss seine ‚schicke Mütze‘ nach vorn, Richtung Eingang, in den schutzlosen Bereich vor den Regalen. Wie erwartet, wurde sie im selben Moment von einem Projektil perforiert. So schick fand Kali seine Baseballkappe dann wohl doch nicht. Er auch nicht.

Oskar rief das Bild ab, das sich innerhalb einer Sekunde in sein Hirn gebrannt hatte. Die schwarze Lederlady trug einen hautengen Dress, hatte selbst im Gegenlicht erkennbar schwarze Lippen. Die schwarze Pagenkopffrisur stand ihr unheimlich gut. Oskar hätte vor der Begegnung auf Maryfuego nicht gedacht, dass jemand mit einer Mireille Mathieu-Frisur dermaßen sexy aussehen konnte. Vor einem Moment war sie nur ein paar Meter vor ihm, hatte den Kopf gefährlich gesenkt, fixierte ihn, schmunzelte. Sie trug entweder eine schwarze Maske oder hatte eine geschwärzte Augenpartie. So genau war das nun nicht zu erkennen, erst recht nicht so schnell. Bei einem Einsatz im Dämmerlicht wäre eine dunkle Sonnenbrille eher kontraproduktiv. Insofern hieß es diesmal Maske statt cooler Trinity-Brille, mit der er sie neben Christine auf Maryfuego erblickt hatte. Den hauchdünnen, federleichten Mikrofonbügel vor ihren schwarzen Lippen konnte er im Gegenlicht nicht sehen.

Schon wieder hätte sie ihn töten können! Der Unwille, sie zu töten, wurde noch stärker, obwohl er vor Augenblicken auf sie gezielt und abgedrückt hatte. Wer radschlagend einem Schuss ausweichen kann, kann einen auch abknallen, noch bevor man überhaupt ans Schießen denkt.

»Du bist zu langsam, kleiner Mann!«, erschallte es aus den Lautsprechern. Die Stimme klang eiskalt, gnadenlos. Bislang war sie gnädig. Er spürte, dass die Gnade vorbei war. Beim nächsten Mal würde sie ernst machen.

»Ja, wer ist das nicht… verglichen mit dir«, brabbelte er leise zu sich selbst.

»Du solltessst lieber verschwinnndennn… dennn… dennn…«, echote es.

Bingo! Jetzt würde sie ernst machen, sollte er ihrem Rat nicht Folge leisten. Er würde diesen Rat so gern befolgen. Nichts lieber als das! Aber er konnte nicht. Lieber hier draufgehen, als irgendwie irgendwann mitbekommen zu müssen, dass Christine draufgehen würde. Wie es die Welt ohne ihn dann aus der Zeitung oder früher noch aus dem Fernsehen erfahren würde: ‚Berühmte Designerin tot. Sie wurde ermordet‘. Oder auch nicht. Vielleicht wäre sein Tod eine Warnung wie klares Signal für Viktor, dass es keinen Sinn hatte, weitere Killer auf Christine anzusetzen. Weil Christine eine Kali an ihrer Seite hatte. Noch lieber aber sollte genau diese Kali statt ihm draufgehen und Viktor damit Satisfaktion verschaffen. Obwohl Oskar auch nicht wollte, dass Kali stirbt. Eigentlich. Die vermeintlich kleineren Übel bestimmten in der Tat sein Leben.

Ich funktioniere, ich funktioniere bestens!

Kein Zittern, kein Verkrampfen – nichts. Wie bei jedem Tötungsjob funktionierte er auch in diesem fehlerfrei. Das sollte reichen! Wenn die Gegnerin nur nicht so verdammt gut wäre – die Beste von allen. Die Beste und die Bestie. Er schlich an den Regalen entlang, bückte sich immer wieder, um nach unten zu sehen, unter den Regalen hindurch. Nirgendwo sah er ihre Füße. Also weiter! Er drehte sich um, erschrak, erblickte das, was er sich erhofft hatte, weswegen er nach vorn strebte: der lange Schatten einer nicht gerade großen Person. Er ging in die Hocke. Kali war also noch im vorderen Teil, pirschte sich wieder an ihn heran. Sie war im benachbarten Gang, ihr Schatten verwischte auf einmal.

Verflucht, ist die schnell!

Sie musste zu einem Sprung oder einem weiteren Turnkunststück angesetzt haben. Er blickte gebannt den Gang zwischen den Regalen hinunter, lauerte, zielte. Er musste antizipieren, für ein Reagieren war sie zu schnell. Sobald er sie sehen würde, wäre es zu spät. Und er tot. Soviel war inzwischen klar. Also schoss er dreimal den Gang hinunter, obwohl er noch nichts sah, noch niemand da war. Aller guten Dinge sind drei! Und aller schlechten drei Fehlversuche. Falls die Rechnung nicht aufging, wäre es sein Tod. Er schoss blitzschnell hintereinander, nicht so schnell wie Kali, natürlich nicht. Rund dreißig Meter Entfernung. Flic Flacs schlagend wischte im selben Moment ein schwarzes schnelles Etwas vor den Regalen vorbei – begleitet von einem Stöhnen, gefolgt von einem gar nicht katzengleichen Platsch! Sie musste hinter dem nächsten Regal zu Boden gegangen sein. Und zwar

Getroffen!

Oskar war paralysiert. Er hatte Kali erwischt! Die Größte von allen. Die beste, geschickteste, schnellste, kälteste, gerissenste Killerin der Neuzeit, wahrscheinlich aller Zeiten. Hatte er sie erwischt? Er war nicht nur aufgrund des noch nicht sicheren Erfolges paralysiert. Es war ein Schock, Kali erwischt zu haben. Er hatte vielleicht die Frau getötet, die ihn dreimal am Leben gelassen hatte, obwohl sie ihn mit Leichtigkeit hätte töten können. Sie ließ ihm die Chance zu verschwinden, weiterzuleben – gleich dreimal. Aller guten Dinge sind drei.

Er fühlte sich mit ihr verbunden. Mit ihr, mit Kali. Ihm war klar, dass sich hier und jetzt realisierte, was er sich im Falle eines eher unwahrscheinlichen Erfolges ausgemalt hatte: er konnte Christine wirklich nie mehr unter die Augen treten. Und zwar auch aus eigenem Antrieb. Er hatte getan, was er tun musste und fühlte sich dennoch absolut mies. Wie gesagt, nicht nur wegen Christine. Vielleicht hätte er wirklich gut in diese ‚Familie‘ gepasst. Und vielleicht hätten sich die beiden sogar gemocht – Kali und er. Christines Freundin, die Freundin der Frau, die er liebte. Und wieder mal:

Worüber denke ich Volltrottel da überhaupt nach?

Es galt die Lage zu peilen. Am besten erstmal verbal.

»Was ist mit dir, große Kollegin? Spielst du nicht mehr mit?«

Keine Antwort, wie erhofft. Wie erhofft? Er schluckte, wartete. Nächste Frage.

»Oder bist du nur beleidigt und sprichst jetzt nicht mehr mit mir?«

Er ging wieder in die Hocke und spähte unter den Regalen hindurch. Nichts. Er musste sich hinlegen, um alles einsehen zu können. Ausgerechnet dort, wo Kali liegen musste, standen flache Kartons unterhalb der Regale auf dem Boden, versperrten ihm die Sicht nach ganz vorn. Er erhob sich wieder und pustete durch. Also musste er nach vorn gehen.

Das Sonnenlicht wurde immer orangener. Draußen könnte man einem bilderbuchmäßigem Sonnenuntergang beiwohnen. Wieviel Zeit war seit dem ‚Fangschuss‘ vergangen? Wahrscheinlich ein paar Minuten. Immer noch nicht das geringste Lebenszeichen von Kali. Er musste sie erwischt haben, hatte einer Legende ein Ende gesetzt. Nein, ein Triumph war etwas anderes. Hier war nichts, worauf er stolz sein konnte. Absolut nichts. Und doch war es gut, überlebt zu haben. Es war gut, dass Greg nun doch ein Honorar bekommen würde. Obwohl: Von den Reichen kann man sparen lernen. Papa Vaarenkroog war ein besonders abgezockter Patron, soviel war mal klar. Sollte kleines dickes Viktor sich querstellen, weil der Auftrag Christine und nicht Kali gegolten hatte, konnte man dem mit dem gewichtigen Argument auf die Sprünge helfen, dass hier das Team auf sein Honorar pochte, das Kali zur Strecke gebracht hatte. Wahrlich kein psychologischer Nachteil, kein schlechtes Argument. Viktor musste zumindest einen Teil des Honorars rausrücken, sonst würde es ihm schlecht ergehen. Die ganze Summe bekäme man sicher nur über seine Leiche. Leichen zahlen keine Honorare mehr, von Nikolas Tyron einmal abgesehen. Auf jeden Fall musste man dem kleinen Dicken Druck machen. Das würfe ein weiteres Argument auf. Ebenso konnte man Viktor bei dieser Gelegenheit einschärfen, dass sich die Sache damit erledigt hatte. Finger weg von Christine!

Solltest du ihr immer noch etwas antun wollen, kommt der b ö se Oskar, der sogar Kali gekillt hat und tritt dir mit Anlauf in den Arsch! Capisce?

Der böse Oskar steckte die Walther in den Hosenbund, nahm seine Hände vors Gesicht… und heulte. Alles fiel von ihm ab. Und Kali sollte auch ein paar Tränen davon abbekommen. Auch ihr sollte ein Teil des emotionalen Ausbruchs gelten. Sie hatte es mehr als verdient. Und jetzt musste er nach ihr sehen. Ruckartig den Kopf schüttelnd bemühte er wieder den emotionalen Neustart des Systems. Er zog seine Waffe aus dem Hosenbund. Sicher ist sicher! Als sich nach vorn begeben wollte, hörte er das Röhren eines Sportwagenmotors. Der Wagen bremste sich ein, der Motor verstummte. Oskar lief zum hinteren Ende der Regale, in Richtung der Empore, blieb unterhalb der Metalltreppe, die zur Schaltzentrale hinaufführte, diesem Baucontainer artigem kleinen Haus im großen Haus. Er linste zwischen den Treppenstufen nach vorn in Richtung Eingang. Im Dunkel unterhalb des Überbaus konnte man ihn unmöglich sehen. Die Eingangstür wurde aufgerissen. Kurz danach klickten die Neonröhren, flackerten, summten, erleuchteten schließlich die Halle.

»Hay alguien aquí?«, hörte er eine vertraute Stimme auf Spanisch rufen.

Warum war Christine ebenfalls in Barcelona? Konnte sie die Erledigung eines höchst anspruchsvollen Jobs ebensowenig wie Greg aus der Ferne abwarten, als der seinerzeit in Zürich nach dem Rechten sehen musste?

Was tun, sprach Zeus. Sollte sich Oskar aus der Deckung begeben? Er beschloss, erstmal abzuwarten.

»Ach du Scheiße!«, hörte er Christine nun auf Deutsch ausrufen.

Sie war geschockt. Klar. Wenn es einen riss, war man wieder zuhause. Back to the roots, auch sprachlich. Sie musste die auf dem Boden liegende Kali entdeckt haben. Kunststück. Kali musste unweit des Eingangs liegen. Sehr weit konnte sie mit ihrer Turneinlage nicht mehr gekommen sein, als Oskar sie quasi ‚airborn‘ erwischt hatte. Er hörte einen Karton über den Boden schleifen, geschäftiges Rascheln, Stöhnen – Christine arbeitete. Wuchtete sie Kalis Leiche in einen der großen Pappkartons? Kein rühmliches Ende für eine enge Vertraute, erst recht nicht für die beste Killerin aller Zeiten. Andererseits: Wie sollte eine prominente Modedesignerin erklären, warum die Leiche der berüchtigsten Auftragsmörderin in ihrem Lagerhaus lag? Wenn auch kein Normalbürger von der Existenz einer Kali wusste, so waren doch offizielle Stellen schon mit ihren Taten konfrontiert worden. Spezialeinheiten der Polizei musste die Killerlegende ebenso zu Ohren gekommen sein, wie den besseren von Kalis Berufskollegen. Christine wühlte noch immer, wieder ein Schleifgeräusch. Dann war es ruhig. Oskars hoffte, dass sie sich wieder verziehen würde. Hoffte, dass das zierliche, aber kräftige Persönchen genug Kraft hatte, den Karton mit der Leiche rauszuschaffen und dann auf Nimmerwiedersehen verschwand. Er wartete gebannt wie vergeblich.

Warum öffnete sie nicht die Tür, um nachzusehen, ob die Luft rein war, ob sie Kali schon herauszerren konnte? Oder würde sie den Karton mit den sterblichen Überresten einer Superkillerin erstmal irgendwo im riesigen, unübersichtlichen Lagerhaus verstecken, bis der große starke Jean-Pierre dann die Entsorgung übernahm?

»Oskar, bist du noch hier?«

Nun zischte Oskar in seinem Versteck ein leises ‚Ach du Scheiße‘.

»Falls ja, komm raus!«

Oskar trifft die Todesgöttin

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