Читать книгу Oskar trifft die Todesgöttin - Jörgen Dingler - Страница 5

Teil V – Maryfuego

Оглавление

Sechsundzwanzig.

Lanzarote, Juli 2011

Noch nie hatte Oskar Randow einen derart kurzweiligen Flug erlebt. Das hatte nicht nur mit seinem ersten Ausflug in den 10 000 Meter Club zu tun. Die unterhaltsame ‚Düsn‘ Sofia war ebenso perfekte Gastgeberin wie One-Woman-Show – die Frau mit den vielen Talenten. Bei den von ihr aufgefahrenen Köstlichkeiten fester und vor allem flüssiger Konsistenz genoss sie kräftig mit. Was für eine Frau! Ach ja, und der 10 000 Meter Club. Der befand sich im separaten, hinteren Bereich des Jets. So also wollte Christine ihrem Oskar zeigen, wie toll sie ihn findet: indem sie ihn im ‚Clubraum‘ des Jets vernascht.

Dass ich über vierzig werden muss, um den 10 000 Meter Club kennenzulernen!

Naja, k ö nnte schlimmer sein.

Zum Beispiel dreißig Jahre später und dann keine blauen Pillen am Start.

Auch Greg hatte schon von Erlebnissen im Miles High Club (der amerikanischen Variante) geprahlt. Sonderbar, weil er zu ebener Erde auf die Mühen eines normalen Kennenlernens verzichtete. Viel lieber kürzte er die Sache käuflich ab. Wie Greg bei solch einer Vorgehensweise zu seinen luftigen Amouren kam, blieb rätselhaft, da Oskar den Freund nicht durch gezieltes Nachfragen in Verlegenheit bringen wollte. Wie auch immer: Oskars und Christines ‚Luftnummer‘ war auf jeden Fall echt und nicht erfunden. Der Rest des Fluges sollte daher buchstäblich wie im Schlaf vergehen. Christine schloss die Augen und schlief wie üblich innerhalb von Sekunden ein. Ja, Fräulein Vaarenkroog besaß ein beneidenswertes Schlaftalent. Sie musste mit sich und der Welt absolut im Einklang sein. Wie ging das? Als erfolgreiche Unternehmerin sowie Vermittlerin der weltbesten Killerin höchst beschäftigt zu sein und doch einen gesegneten Schlaf zu haben. Vor allem Letzteres gab Oskar zu denken. Und doch: Christine Vaarenkroog schlief wie ein Baby, hatte niemals wirklich schlechte Laune (abgesehen von dem einen Mal), wirkte ausgeglichen und rund wie ein Kieselstein in einem Bachbett. Zweifellos war sie einer der Menschen, die den Begriff ‚schlechtes Gewissen‘ erst einmal googeln mussten. Oskar schlief nicht so schnell ein, hatte daher noch mitbekommen, wie Jean-Pierre und die heiße Sofia ebenfalls nach hinten strebten. Sie eiferten also ihrem Beispiel nach. Nett.

Es war wie am Boden: Christine schlief nicht nur früher ein, sie war auch als Erste wach und weckte Oskar kurz vor der Landung. Der Jet rollte zu seiner Parkposition und bremste sich ein. Ein nachdenklich dreinschauender Oskar schielte zur auf dem Fensterplatz sitzenden Christine, die aus dem Fenster sah, sich geradezu diebisch freute und wieder einmal aufmunternd seine Hand drückte. Er wollte seinen Kopf zum Fenster lehnen, um sich Lanzarote kurz vor Landung von oben anzusehen – also jetzt normal von oben, nicht von ganz oben via Satellitenaufnahmen. Sie hatte irgendwas von »Vorbeidrängeln kostet Maut« und »Du wirst die Insel noch genug von oben sehen« gebrabbelt, ihn dann flink an ihre Lippen gezogen und geküsst. Die Maut wurde also quasi automatisch eingezogen.

Noch genug von oben sehen‘… was hat sie denn damit schon wieder gemeint?

Sofia entriegelte die Tür des Jets und ließ Jean-Pierre, Christine und Oskar aussteigen. Zum Abschied gab sie jedem eine Umarmung und Küsschen. Den Letzten, der seinen Fuß auf die kleine Treppe setzen wollte, tippte sie auf die Schulter und räusperte sich. Oskar drehte sich zu ihr um. Christine und Jean-Pierre standen bereits in der kanarischen Sonne. Sofia hob eine Hand, hielt etwas mit spitzen Fingern: ein winziges schwarzes Höschen – unzweifelhaft das von Christine. Sie musste es als Hinterlassenschaft gefunden haben, als sie nach dem Liebespaar den ‚Clubraum‘ mit Jean-Pierre genutzt hatte. Vielleicht hielt sie es für pikanter, das Höschen per Umweg über Oskar wieder an Christine gelangen zu lassen.

»Huch!«, stieß er aus und nahm es grinsend in Empfang.

»Ich wünsche euch eine wunderschöne Zeit, Oskar. Ich hoffe, wir sehen uns wieder«, gurrte sie mit ihrer sinnlichen italienischen Frauenstimme, die ihm sicher direkt in den Unterleib gefahren wäre, wenn… ja, wenn es Christine nicht gegeben hätte.

»Mille grazie, Sofia. Ich hoffe es auch. Ciao, ragazza.«

»Ciao, ragazzo.« Sofia zwinkerte konspirativ und drückte ihm noch einen Wangenkuss auf. »Ein guter Mann«, raunzte sie kaum hörbar, als er seine Sonnenbrille aufsetzte und die kleine Treppe hinunterstieg. Es klang fast bedauernd. Er hatte es gehört, obwohl es nur für ihre eigenen Ohren bestimmt war. Hmm. Sie mochte ihn, soviel war klar. Und: Er musste aufpassen, verdammt aufpassen!

Bewacher und Chefin standen vor einer weißen Limousine, die punktgenau neben dem Jet vorgefahren war. Christine hatte die Arme verschränkt, hob süffisant lächelnd ihr Kinn und sah ihn erwartend an. Was hatte er noch mit Sofia zu besprechen? Der Frau mit den vielen Talenten…

»Alles klar, Süßer?«, neckte sie, als er sich zu ihr gesellte.

»Aber klar, Süße. Sofia hat nur noch etwas gefunden.« Oskar drückte ihr das in seiner Hand verborgene Wicked Weasel-Höschen in die Hand. »Pass bitte beim Ein- und Aussteigen aus diversen Verkehrsmitteln auf, dass du keine Freilichtbühne abgibst«, raunzte er leise, hob seine Sonnenbrille und zwinkerte. Obwohl er es nicht sah, merkte er, wie sie unter ihrer Sonnenbrille die Augen aufriss. Sofia lehnte noch in der Tür des Jets und beobachtete grinsend die Höschenübergabe. Christine sah zu Oskar, anschließend zu Sofia und drückte dann ihre Lippen zu einem ertappten Lächeln zusammen.

»Huch«, entkam es ihr.

»Genau das waren auch meine Worte.« Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn, woraufhin sie ihn gespielt verlegen ansah, zwar wieder mal zuckersüß, aber so langsam immunisierte ihn dann doch ein Gewöhnungseffekt – oder zumindest eine mittlerweile einsetzende Routine. Das war auch ganz gut so.

Sofia winkte und lachte. Die drei winkten zurück und stiegen in die Limousine. Der Fahrer setzte die große Limousine wortlos in Bewegung und fuhr ein paar Kilometer zu einem anderen Bereich des Airports, der den senkrecht startenden Luftfahrzeugen vorbehalten war. Unter den drei geparkten Helikoptern fiel es Oskar nicht schwer, den einzigen schwarzen, offensichtlich modernsten und edelsten als den Helikopter seiner Herzdame auszumachen. Bingo. Beim Näherkommen war die Aufschrift ‚Varicopter 2‘ zu lesen, in derselben Schriftart wie bei den Labels der Vaarenkroog-Klamotten oder dem Schriftzug an der Einfahrt ihrer Firmenzentrale. Er folgerte, dass es wahrscheinlich cooler und internationaler kam, auf die zwei A in ‚Vaarenkroog‘ zu verzichten und sich nur eines A‘s zu bedienen. Außerdem: ‚Vari‘ könnte auch für variabel stehen. Variabel zu verwenden! Wie wahr. Ein möglicher Einsatz wäre der als Fluchtvehikel für soeben erledigte Mordaufträge. Zum Beispiel in Rom.

»Tolles Gerät«, bewunderte Oskar den schnittigen Helikopter mit roten, sich nach hinten verjüngenden Zierstreifen und dunkel getönter Verglasung. Christine lächelte. »Und wo ist Varicopter 1?«, erlaubte er sich eine gewagte Nachfrage – eigentlich eine normale Frage, falls er so arglos gewesen wäre, wie sie ihn hoffentlich einschätzte. Er hatte eine Ahnung, wer Varicopter 1 zur Zeit nutzen könnte.

»Anderweitig in Gebrauch«, kam es knapp von Christine.

Dann hatte er mit seiner Vermutung wohl richtig gelegen.

»Weil verkauft«, mischte sich der vorn sitzende Jean-Pierre mit Bestimmtheit ein. »Den gibt‘s nicht mehr. Das ist hier wie bei Schiffen: Zwei ist der Nachfolger, nicht die Anzahl.«

Oskar bekam aus den Augenwinkeln mit, wie die Chefin anerkennend die Unterlippe vorstülpte und nickte – als sei sie von der Fantasie und Spontanität ihres Vertrauten beeindruckt. Wieder mal mit Weltklasse-Mimik in Szene gesetzt.

»Aha«, quittierte Oskar und tat es ihr mimisch gleich, stülpte ebenfalls die Unterlippe vor. Er beobachtete die Chefin und ihren Vertrauten durch die dunklen Gläser seiner Ray-Ban. Und wieder schien es zwischen den beiden zu blitzen, obwohl er deren ebenfalls mit dunklen Gläsern bedeckte Augen nicht sehen konnte.

Der Chauffeur sprang aus dem Wagen und hielt die dem Helikopter zugewandte Tür der Limousine auf. Sie stiegen aus. Zuerst Jean-Pierre, der auch sonst alle Kennzeichen eines Bodyguards erkennen ließ: Chauffeur kühl annicken, Jackett schließen, Kopf nach beiden Seiten drehen, Lage peilen. Er nickte erneut jemanden kühl an. Oskar bemerkte den vor dem Helikopter mit verschränkten Armen wartenden und erwartungsfrohen Piloten des Luftgefährts. Dessen Erwartungsfreude sollte nicht übererfüllt werden. Er hielt Christine zurück und erinnerte sie an ihre nicht nur herzerfrischende Offenheit. Sie war im Begriff, durchzurutschen und auszusteigen, hielt inne und drehte ihren Kopf zu Oskar. Er flüsterte ihr ins Ohr.

»Darling, denk an die Freilichtbühne.«

»Ups!«, kiekste sie. »Hätte ich beinahe vergessen.«

»Dachte ich mir. Ich weiß ja, wie schwungvoll du bist.«

Sie kicherte und stieg betont vorsichtig aus, mit – so weit es ging – geschlossenen Beinen. Dabei sah sie Oskar albern an, sodass er seinen Kopf schütteln und grinsen musste. Abgesehen von aller Gefahr und mehr als trüben Aussichten, war es für ihn wirklich die Traumbeziehung schlechthin – Liebe, Leidenschaft, Verbundenheit, jede Menge Lachen und Spaß. Die in allem beste Frau, die er sich nur wünschen konnte. Eine schwerreiche obendrein. Eine, die alles hatte, was einem das Leben noch zusätzlich versüßen konnte. Auch wenn man‘s nicht darauf anlegt, ist sowas kein wirklicher Nachteil. Aber es war auch eine Traumbeziehung in anderer Hinsicht. Eine Beziehung, die man nur träumen und nicht leben konnte. Weil sie enden würde, enden musste. Bald. Sehr bald.

Tja, irgendwas ist ja immer. W ä r ja auch zu sch ö n gewesen

Der Pilot bemerkte, wie sich Christine übervorsichtig wie eine Debüttantin aus dem Wagen schälte und quittierte das Ganze mit einem fragenden Blick. Dann strahlte er sie an und breitete seine Arme aus. Wirkte sie ein wenig überrascht?

»Hola, jefa!«

»Hola, Pedro!« Christine drückte den Piloten eher distanziert, indem sie ihn an seinen Oberarmen knapp über den Armbeugen fasste (bessere Hebelwirkung). Auf die Art kann man jemanden auf Distanz halten, der einen an sich heranziehen will. Oskar wollte es aus naheliegenden Gründen nicht nur so interpretieren. Als Profi im freischaffenden Tötungsgewerbe kannte er mehr als nur ein paar Grundregeln, wie man sich jemanden dezent auf Abstand halten konnte. Er ging bei der Chefin der besten Killerin davon aus, dass sie einiges davon kannte. Und er kannte natürlich nicht nur die dezenten Arten, jemanden auf Abstand zu halten. Auch bekam er den Eindruck, als ob sie dem Kuss des Latinlovers auswich. Das blitzschnelle Ausweichmanöver war selbst für seine Augen kaum zu sehen. Ein Ausweichen vor einem Kuss, der ursprünglich nicht die Wange treffen sollte. So sah es zumindest aus.

Pedro. Wie konnte der fliegende Caballero auch sonst heißen? Ungefähr Oskars Alter, markantes Gesicht, dunkle Haare mit grauen Strähnen, nicht gerade klein, also etwas größer als er, ebensowenig uninteressant wie hässlich. Überhaupt war Pedro körperlich nicht von schlechten Eltern. All das brachte erneut die masochistische Frage auf: War er mal ein sinnlicher Ausgleich für die vielbeschäftigte Christine Vaarenkroog? Zumindest war auch für einen Blinden erkennbar, dass Pedro auf Christine abfuhr. Aber das will nichts heißen. Eine Frau wie sie zog unweigerlich begehrende Männerblicke auf sich.

Pedro sah zu dem Mann, der mit Christine im Fond der Limousine gesessen hatte.

»Oskar?«, fragte der mediterrane Bilderbuchmann in der schwarz-dunkelroten Piloten-Lederjacke – todschick, Marke Vaarenkroog natürlich. Auch der Pilot war vorgewarnt. Alle in Christines Umfeld schienen seinen Namen zu kennen.

»Si«, bestätigte Oskar und drehte sich dann zu Christine. »Sagst du ihm bitte, dass das schon ungefähr die Hälfte von meinem Spanisch war.«

Christine lachte ihr hinreißendes Lachen und übersetzte.

»No problem for me. Hello, Oskar!«, sagte Pedro mit starkem spanischen Akzent und streckte die rechte Hand nach Oskar aus. Augenpartie und Mund sprachen grundverschiedene Sprachen. Trotz Pedros verspiegelter Pilotenbrille konnte Oskar erkennen, dass keinerlei Mimik die Augen umspielte, während sich sein Mund zu einem Lachen verzog, das für sich gesehen herzlich und ehrlich gewirkt hätte. Aber: Zum Mund passende, lachende Augen hätten die unvermeidlichen ‚Krähenfüße‘ bis vor die Schläfen gegraben, erst recht bei nicht mehr ganz jungen Menschen. Das hatten sie aber nicht.

»Hola, Pedro.«

Ja! Er hatte mal was mit Christine! Kein Zweifel mehr

Nicht nur die demonstrativ herzliche Begrüßung, mit der Pedro seine Dienstgeberin bedacht hatte, ließ darauf schließen, sondern auch wie er Oskar die Hand gab: betont kräftig, ähnlich Veras eifersüchtigem Gatten Walter. Ein typisch männliches Claim Abstecken, Eindruck beim anderen Männchen schinden. Hier also wieder das gleiche Spiel, nur war es einiges schwerer als bei Walter. Auch Pedro wusste, wie man greifen muss. Zudem war er ein paar Jahrzehnte jünger als der alte Griesgram an Veras Seite. Oskar fiel auf, wie Christine das kaum merkliche Spielchen beobachtete. Auch merkten sowohl sie als auch Jean-Pierre, was da soeben ablief. Beide waren Insider, warum Pedro Oskar abchecken musste. Jean-Pierre wusste als engster Vertrauter und Leibwächter um den ein oder anderen Mann im Leben seiner Chefin, wenn nicht gar um die meisten.

Oskar hätte Pedro umgebracht, falls der seine Hand auch nur eine Sekunde länger und noch ein einziges Mal betont kräftig gedrückt hätte. Auf der Stelle und mit bloßen Händen. Zumindest hätte er es tun können, in mehrerlei Hinsicht. Auch das schienen Christine und Jean-Pierre zu spüren. Erstaunlicherweise war beiden das Bemerken dieses Umstandes – oder eher dieser Umstand an sich – nicht unangenehm. Wie gesagt: beiden. Wirklich erstaunlich.

Vielleicht werden deine Dienste bald wieder gebraucht, Pedro. Nachdem Kali mich kaltgemacht hat.

Als Pilot würde Pedro nicht mehr gebraucht werden. Aus der Mischkulanz seines Basiswissens mehrerer romanischer Sprachen bekam Oskar mit, wie Christine Pedro zu verstehen gab, dass seine Dienste heute nicht benötigt werden und er dableiben solle. Er bekam noch etwas mit: irgendwas von ‚Heli uno‘, demnach wohl Varicopter 1, für den sich Pedro bereithalten sollte. Sehr sonderbar, dass Pedro sich um einen nicht mehr im Vaarenkroogschen Besitz befindlichen Helikopter kümmern sollte. Oskar hatte Jean-Pierres Worten ohnehin keinen Glauben geschenkt. Kurzer Blick zu ihm, quasi die Gegenprobe: Ja, er konnte Jean-Pierres Augenrollen geradezu spüren, da dessen Augen von schwarzen Gläsern kaschiert wurden.

So, das w ä r gekl ä rt. Nun zu Pedro.

Er wandte seinen Blick wieder dem Spanier zu. Selbst wenn Oskar nicht das Geringste verstanden hätte, sprach Pedros Gesicht Bände, was Christine ihm unmissverständlich zu verstehen gab. Sie klang keinen Moment unfreundlich, aber kalt und sehr bestimmt.

‚Wir fliegen nach Maryfuego, und du bleibst hier!‘

Ein Triumph für den Blonden, zweifelsohne. Pedro zog säuerlich ab, mit dem traurigen Macho-Gang eines äußerlich unverletzten, aber sieglosen Stierkämpfers. Christine sah ihm nach, die Arme hatte sie verschränkt. Ihr mimikloses Gesicht war schwer deutbar, ließ deswegen viele Interpretationsmöglichkeiten.

Oskar legte sich die angenehmste zurecht.

Er sah diese kleine Szene als ungeplanten Zwischenfall, den sich seine Liebste so nicht vorgestellt und schon gar nicht gewünscht hatte. Christine registrierte Pedros Beleidigtsein genauso wie sein nach wie vor vorhandenes Interesse an ihr. Aber: beides war ihr egal. Sie dachte sich vielmehr, sie hätte vorsichtiger sein müssen, wie nahe sie jemanden an sich heranließ. Aus einer körperlichen Nähe können – wie gesehen – Besitzansprüche abgeleitet werden. Diese Vorsicht war mittlerweile hinfällig, wenn nicht Makulatur, denn sie hatte inzwischen jemanden viel näher an sich herangelassen als jemals zuvor. Zwar ungeplant, aber wenn‘s nach ihr ging, sollte diese ungewohnte, nicht nur körperliche Nähe Bestand haben.

Lieblingsinterpretation Ende.

Das Aufrechterhalten dieser Nähe würde schwerlich möglich sein. Noch einen Schlenker zu Pedro: Vielleicht dachte sich Christine sogar, dass sie Pedro aufgrund der von ihr registrierten, wenn auch kaum merklichen Szene entlassen musste. Ihr Pilot maß sich mit ihrem Herzbuben – ein klares No-go. Die unerwünschte Zuneigungsbezeugung in Form eines beabsichtigten Kusses auf den Mund, obendrein im Beisein Oskars, war ein mindestens ebensolcher Fauxpas.

Wenn auch plump und dreist: mutig war der ‚gute‘ Pedro, das musste man ihm lassen. Oskar verstand ihn. Dass man für Christine Wagnisse einging, sie diese mehr als wert war, konnte er nachvollziehen. Pedro hatte gewagt und verloren. Wie kalt Christine bei der Wahrung ihrer Interessen entscheiden und handeln konnte, wusste Oskar mittlerweile aus eigener Erfahrung. Zu ihren Interessen gehörte klarerweise auch der Mann, den sie liebte. In die hatte niemand herein zu pfuschen, ein Bediensteter schon mal gar nicht. Alles sah danach aus, dass Pedro im Gegensatz zu Jean-Pierre genau das war: ein normaler Bediensteter. Gemeinsames Sex-Erlebnis hin oder her. Auch in diesem Punkt konnte Christine Vaarenkroog eiskalt differenzieren. So revidierte Oskar seine Vermutung: Pedro hatte hier und jetzt nicht nur als ihr Pilot, sondern auch als reaktivierter Lover verschissen, falls es Oskar erwischen sollte. Dieser Gedanke ließ ihn schmunzeln. Nur: Wer würde jetzt fliegen?

Ah! Jean-Pierre nat ü rlich.

Der Große öffnete die Tür zum Pilotensitz des eleganten Helikopters – allerdings nicht für sich selbst, sondern für seine Chefin. Er begab sich auf einen der hinteren Plätze, insofern war klar, wer den Platz neben Christine besetzen würde. Oskar schwang sich auf den Copilotensitz, während sie sich das Headset aufsetzte und geschäftig einige Knöpfe drückte – genauso, wie man es aus Filmen kannte. Erst ein paar Schalter über Kopf an der Decke des Cockpits umlegen, dann einige Knöpfe und Schalter am Armaturenbrett betätigen, Steuerknüppel in die Hand nehmen. Sie spreizte ihre nackten Beine aufreizend, als sie den Steuerknüppel an sich heranzog und sah Oskar – der sie natürlich beobachtete – verwegen lächelnd an, schob ihre Sonnenbrille auf die Nasenspitze und zwinkerte. Der schmunzelte schief, schob ebenfalls seine Sonnenbrille auf die Nase und kniff ein Auge zu. Sie lachte leise und signalisierte ihm, das zweite Headset aufzusetzen – wozu auch immer. Zur Führung dieses Luftfahrzeuges konnte er kaum etwas beitragen. Wahrscheinlich wollte sie nur seinen Erlebnisfaktor erhöhen.

»Anschnallen, Ladies!«, blaffte sie im Stile eines Ausbilders der US-Marines.

Oskar sah fragend zu Jean-Pierre nach hinten. Der nickte nur cool wie gewohnt und fläzte in seinem Sitz wie nach dem Einsteigen in Sofias Schlangenjet. Er war bereits angeschnallt, Blick in Richtung Christine: sie auch. Insofern war Oskar die einzige noch nicht angeschnallte ‚Lady‘ in diesem Vehikel. Klick!

»Good afternoon, Arrecife Tower, this is Varicopter two. Ready for take off to Maryfuego, coming«, sprach sie in ihr Headset. Zur Bestätigung ihrer Worte lief der Rotor an und wirbelte gleichsam mit dem ansteigenden, düsenähnlichen Geräusch immer schneller. Ein sanfter Ruck ging durch den Helikopter.

»Arrecife Tower, roger, Varicopter two. You have permission for take off. Leave on one-fifty for coast three, I repeat one-fifty for Maryfuego. Go on eighthundred for the first three, coast three for flight level, coming«, hörte Oskar aus seinem Headset. »Buenos dias, Christine! Hola, chica!«, schob der Fluglotse eine persönliche Begrüßung nach. Christine lachte.

»Roger, Arrecife tower. Varicopter two leaving in onehundredandfifty degrees, climbing on eighthundred feet for the first three miles, heading coastsector three for flight level. Costa tres, comprende, amigo«, quittierte sie in perfektem Englisch die Vorgaben des Towers und schickte einen spanischen Rückgruß hinterher. »Hola, chico! Que pasa, Manuelito?«

»Alles klar, Mädchen! Lass knacken!«, antwortete der Fluglotse in einem witzig gestelztem Deutsch, das er sich allem Anschein nach von Touristen aus dem Ruhrgebiet angeeignet hatte.

Christine lachte abermals auf, drückte wieder ein paar Knöpfe und zog den Steuerknüppel an sich heran. Der Helikopter hob ebenso schwungvoll ab, wie es seine heiße Pilotin anscheinend in allem war. Oskar umfasste reflexartig den Handgriff oberhalb der Tür. Auch wenn er – wie von Christine beabsichtigt – durch den ruckartigen Start überrascht wurde, war es ein

Geiles Gef ü hl!

Christine grinste stolz, was Oskar nicht verwunderlich fand. Wenn man mit so tollen Spielzeugen und obendrein noch mit dem Beherrschen dieser Spielzeuge glänzen kann, dann lässt das auch abgebrühte Zeitgenossen wie eine Christine Vaarenkroog nicht unberührt. Dass sich zwei ebenfalls recht abgebrühte Mitflieger an Bord befanden, nutzte die Pilotin für Flugmanöver mit herzhaft zu nennenden Beschleunigungskräften. Der Helikopter flog eine weite Kehre und gewann gleichzeitig schnell an Höhe. Christine hielt auf das Inselinnere zu. Vor ihnen tauchten rostrote Vulkanlandschaften auf – Dünen, Krater, schroffes Gestein. So müsste es wohl sein, wenn man mit einer Landefähre über den Mars fliegt. Christine drehte sich zu Oskar, während er die Vulkanlandschaft vor und unter sich bewunderte. Sie dürften in der Tat nur ein paar hundert Meter (eighthundred feet) hoch sein, so wie sich alles vor seinen Augen ausbreitete.

»Wir müssen über die ganze Inselbreite zur Westküste fliegen, damit wir den an der Ostküste startenden und landenden Tourijets nicht ins Gehege kommen«, sprach über Bordfunk in das Headset. »Die meisten fliegen über den Osten an, und es ist viel los.« Sie sah zu Oskar, der suchte etwas, nestelte an seinem Mundstück. »Sprich einfach rein. Nur für die Kommunikation nach draußen muss man ein Knöpfchen drücken.«

»Verstehe.«

»So kommst du in den Genuss des vulkanischen Nationalparks von Lanzarote. Den würdest du kaum sehen, wenn wir an der Ostküste langfliegen würden«, erläuterte sie mit einem Lächeln und zeigte mit dem Finger auf schwarze Hügel mit kreisförmigen Mustern. »Das sind übrigens Weinberge.«

»Was? Weinberge???«

»Ja, mein Schatz. So sehen hier Weinberge aus. Natürlich auch vulkanisch.«

Mitten in den nicht nach Weinbergen aussehenden Weinbergen waren Häuser zu erkennen. Manche davon wirkten wie großzügige Anwesen, wie Haciendas.

»Hier im Weingebiet gibt es eine ebenso schicke wie urige Bodega, die wir mal besuchen müssen«, säuselte ihre Stimme aus den Kopfhörern in seine Ohren. »Die Weine der Insel sind okay, aber in der Mehrzahl nicht sooo toll. Manche Weine sind wiederum verdammt gut. Man muss nur wissen, welche.«

»Und du weißt natürlich, welche gut sind«, schlussfolgerte er.

»Klar doch.«

»Dann gehe ich liebend gern mit dir in diese Bodega, mein Schatz.«

Mittlerweile hatten sie die Westküste erreicht. Sie flogen über dem Meer nach Norden. Christine zog den Helikopter nach oben und legte ihn dann in eine leichte Schräglage, um ihrem Premierengast einen weiten Blick über die Insel zu ermöglichen. Oskar kam sich wie in einem Aufzug vor, einem äußerst schnellen Panoramaaufzug. Er brauchte nur aus seiner Seite rauszuschauen und hatte die halbe Insel vor sich ausgebreitet. Christines Flugkünste waren ebenso beeindruckend wie die Landschaft. Ersteres war nicht wirklich eine Überraschung. Alles, was sie konnte, konnte sie anscheinend geradezu unnatürlich gut.

»Wow«, entkam es ihm. »Wirklich ein sehr interessantes Terrain.« Er drehte seinen Kopf, um soviel wie möglich auf einmal zu erfassen. Sie flogen mittlerweile deutlich höher, sodass er viel von der Insel sehen konnte. Die Landschaft unter ihnen bot die volle Palette an Farbtönen auf: rotbraune Lavagebirge seitlich hinter ihnen, unter ihnen schwarze Vulkanwüsten, vor ihnen in Richtung Ostküste üppiges Grün, das terrassenförmig angelegt war, dazwischen kleine Orte mit bunten Häusern… und natürlich das blaue Meer.

Christine grinste noch breiter als zuvor. So, als dachte sie sich:

‚Wart‘s ab, mein Lieber, das Beste kommt noch!‘

Jean-Pierre war die ganze Zeit über gar nicht zu merken. Oskar drehte sich nach hinten. Kein Wunder: Er hing in seinem Sitz und schlief mit aufgesetzten Ray-Bans und iPod fest wie ein Baby. Oskar schmunzelte. Er mochte diesen Burschen, der ihm anfangs alles andere als geheuer war. Seine damalige Abneigung war nichts anderes als männliches Konkurrenzdenken. Er war eifersüchtig auf ihn gewesen, bereits beim ersten Aufeinandertreffen eifersüchtig auf einen anderen Mann an Christines Seite. Weil es ihn vom Start weg erwischt hatte, er sich vom Fleck weg in die nunmehrige Helikopterpilotin verliebt hatte. Als er den schlafenden Jean-Pierre schmunzelnd und fast brüderlich mitfühlend ansah, wurde ihm das zum ersten Mal wirklich bewusst.

Er liebte Christine vom ersten Aufeinandertreffen an. Verrückt. Wie im Kino oder Kitschroman.

Die Schräglage brachte den Helikopter ins Landesinnere zurück, was bald von einer Stimme im Headset quittiert wurde. Oskar erschrak unmerklich, er sah zu Christine, die wieder einmal absolut cool blieb.

»Varicopter two, you‘ve left coastsector three for about three minutes and are heading to the East.«

»Weiß ich selbst!«, blaffte sie, um erst dann den Knopf für den Sprechfunk nach außen zu betätigen. »I know, sorry, Manuel«, piepste sie reumütig.

Was f ü r ein Biest! Kommst du mit sowas eigentlich immer durch, mein Schatz?

»Que pasa, Christine? Problemas?«, fragte der Fluglotse.

»No, sightseeing.« Sie grinste schelmisch. Es folgte eine süßliche Konversation auf Spanisch. Wer konnte einer Christine Vaarenkroog schon böse sein? ‚Manuelito‘ auf jeden Fall nicht. Okay, Pedro konnte. Christines Gesicht verfinsterte sich.

»Tagsüber scheißen sie sich mit ihren Flugkorridoren echt an. ‚Frei wie ein Vogel‘? Am Arsch! Nervig wie die rush hour am Place de l‘Etoile.« Ihr säuerlicher Nachtrag auf Deutsch war nicht mehr für den guten Manuel bestimmt – eine ungewohnt derbe Wortwahl für das vornehme Christinchen. Klang mehr nach Oskar.

Mein schlechter Einfluss auf das hochwohlgeborene Hanseatent ö chterchen.

Irgendwie musste er in diesem Moment etwas loswerden, was gerade nicht daher passte. Es bestand die Möglichkeit, ihr das nicht mehr allzu oft sagen zu können… oder allzu lange.

»Ich liebe dich, Christine«, sprach er leise ins Mikrofon des Headsets.

Sie drehte sich zu ihm, sah dann wieder nach vorn und stülpte die Unterlippe vor. Kein Kommentar von ihrer Seite, keine sonstige Mimik, keine Freude.

Verdammt! Vergiss nie ihre Empathie und halte dich mit tiefsinnigen Liebesbezeugungen zur ü ck!

Aber Liebe hat ihre eigenen Gesetze. Gesetze, die jeder Vernunft und vor allem Vorsicht widersprechen können. Die Art, in der sie auf einmal den Helikopter nach unten drückte und beschleunigte, widersprach ebenfalls jeder Vernunft. Sie rauschten die Westküste in einer ‚Höhe‘ entlang, bei der man fast den großen Zeh aus der Tür halten konnte, um festzustellen, ob das Wasser warm genug zum Baden war. Der schnittige Varicopter raste in maximal 50 Metern Höhe die Küste entlang. So erschraken dann auch die wenigen Badenden, als sie Stellen passierten, an denen sich vereinzelt jemand zu Wasser ließ. Bei Christine war die Formulierung ‚ein Fortbewegungsmittel beherrschen‘ mehr als angebracht. Sie gehörte nicht zur Masse derer, die selbst als Lenker eher Passagier sind. Ihrem schelmischen Gesicht war abzulesen, dass auch bei Vermeidung der Jetkorridore das Motto ‚no risk no fun‘ nicht zu kurz kam. In Anbetracht der Geografie ließen sich hier nur vereinzelt Menschen zu Wasser. Die West- oder eher Nordwestküste war nicht gerade die Küste der Traumstrände. Landschaftlich durchaus beeindruckend, aber unter Badeparadiesen verstehen Urlauber etwas anderes. Die Küste wurde immer noch unwirtlicher, aber auch landschaftlich beeindruckender, je weiter sie nach Norden kamen. Nachdem ausnahmsweise sogar ein kleiner Sandstrand aufblitzte (den Christine zum letzten Erschrecken der Badenden nutzte), stiegen die Felsen immer dunkler, bedrohlicher und senkrechter in die Höhe. Oskar vermutete richtig, dass sie sich im wahrsten Sinn des Wortes dem Höhepunkt näherten, den höchsten küstennahen Felsen, etwas südwestlich des Nordkaps der Insel.

Der Zielpunkt der Reise. Maryfuego.

Die vulkanische Landschaft unterhalb der Lavawände wurde gleichsam mit dem Ansteigen der Felsen immer weitläufiger, sodass Christine den Helikopter von oberhalb des Meeres landeinwärts ziehen konnte. Unter ihnen flog die dunkle Küste vorbei, auf der rechten Seite erhoben sich steile, dunkle, in Schichten farbige Wände, die ein wenig an die Felsformationen des Grand Canyons erinnerten. Diese Wände mussten in der Tat mehrere hundert Meter hoch sein. Nur machte es einen Unterschied, ob man sie am Pool sitzend in einer Senkrechtaufnahme von Google Maps sieht oder mit ein paar hundert Sachen nahe an ihnen vorbeirauscht.

Jetzt müssten sie bald da sein. Sie zog den Heli fast rechtwinklig landeinwärts und hielt genau auf die riesige Wand zu. Die Faszination der Farbigkeit und Struktur jahrtausendelang erkalteter Lava konnte leider nichts von ihrer Bedrohlichkeit nehmen. Vor allem deswegen nicht, weil diese sicher gut einen halben Kilometer hohe Wand auf sie zuraste. Die Pilotin riss den Heli erst knapp vor der Wand hoch, sodass man den Eindruck bekam, als würde man das atemberaubende Vulkangestein senkrecht in einem Höllentempo hochfahren. Spätestens jetzt stand außer Frage, warum Christine ihre Passagiere im Befehlston ermuntert hatte, sich anzuschnallen.

Als sie den Scheitelpunkt passierten, stellte Christine den Heli derart abrupt waagerecht, sodass er einige zig Meter oberhalb der Kante wie ein unter Wasser gedrückter und losgelassener Korken auf einer imaginären Wasseroberfläche hüpfte. Wie Christines sonstigen Fortbewegungsmittel musste auch der Varicopter eine Hochleistungsausgabe seiner Gattung sein, der Flugmanöver einer Ausnahmepilotin wie ihr ermöglichte. Bei dem abrupten Abfangen des Luftfahrzeugs fand sich Oskars Magen gefühlt in seinem Kopf wieder. Gleichsam mit dem nachlassenden Nachschaukeln des Helis sank sein Magen wieder in Richtung Ursprungsposition. Der Heli schaukelte nicht mehr, stand reglos in der Luft. Oskar atmete durch und sah… nichts! Christine drückte den Varicopter rückwärts, setzte langsam in der Luft zurück. Jetzt sah er etwas. Immer mehr, je weiter der Heli sich nach hinten bewegte. Das war also die Großaufnahme dessen, was sich im Satellitenbild eher unspektakulär ausmachte. Was für Christine galt, galt wohl auch für all ihre Besitztümer.

Die Realität toppt jede Abbildung. Das ist also Maryfuego Meer und Feuer. Noch eine Luxusfestung.

Maryfuego war höhlengleich fast komplett in den Fels gehauen. Der Helikopter senkte sich langsam wie zuvor Oskars Magen, sodass er die Anlage besser bestaunen konnte. Genau das tat er. Er staunte Bauklötze.

»Jetzt kannst du sagen, dass du mich liebst«, unterbrach Christine sein Staunen, indem sie mit ungewohnt dunkler Stimme in das Mikrofon ihres Headsets sprach. Sehr sexy. Normalerweise hatte sie eine glockenhelle, aber freche, mädchenhafte Stimme. Eine Stimme so süß wie die ganze Frau.

»Ich kann das immer sagen, damit das mal klar ist«, brummte er gespielt streng. Er wollte mit dem flapsigen Spruch die Nachdenklichkeit von vorhin vergessen machen.

Christine grinste breit. Oskars Augen schweiften über den riesigen Pool, der als einziges per künstlichen Zubauten wie ein überdimensionaler Balkon zu einem Gutteil über die Felswand hinausragte. Stabile Relings aus Holz und Stahl sicherten in Fels gehauene Gänge, die als äußere Verbindungen dienten und gleichzeitig als Aussichtsplattformen genutzt werden konnten. Hinter dem längsten dieser Gänge befand sich eine Fensterfront von mindestens zwanzig Metern Länge und drei Metern Höhe. Die Fensterfront zog sich im Halbrund, ihre rahmenlos aneinandergefügten Scheiben waren absolut plan. Warum plan und nicht gerundet wie die Fensterfront als Ganzes? Bei Christine Vaarenkroog war das keine Frage des Geldes, sondern der Machbarkeit. Mehrschichtiges Panzerglas lässt sich ab einer gewissen Größe und Dicke nicht mehr gewölbt produzieren. Oskar scannte alles sehr genau, zog seine Schlüsse, nickte kaum merklich. Und er wurde ebenfalls gescannt. Nur ein kurzer Seitenblick reichte Christine, um die konzentrierte Beobachtung, die so gar nichts von normaler Neugier und unverfänglichem Staunen hatte, bei ihrem Lover zu registrieren. Auch sie zog ihre Schlüsse… und schmunzelte. Oberhalb dieses beeindruckenden Aussichtsdecks gab es noch eine Etage, wo kleinere runde Fenster aus dem Fels lugten – Bullaugen im Vulkangestein. Christine hob ihren Heli an und strebte dem Landeplatz entgegen. So konnte Oskar nochmal einen Blick auf das Oberdeck werfen, das mehrere Palmen, ins Gestein gehauene Bänke und einen oberen Eingang erkennen ließ. Unterhalb des zumindest Volleyballfeld großen Oberdecks gab es mehrere kleine Terrassen. Sowie eine Terrasse oberhalb aller anderen, sicherlich der Balkon des Burgfräuleins. Nein, der Schlossherrin.

»Ich warte«, neckte sie.

»Äh was?«

»Ich sagte vorhin… vor Stuuunden… damals: Jetzt kannst du es sagen.«

Kleine Übertreiberin du bist! Witzboldine!

»Dafür, dass es schon so lange her ist, hat sie ein gutes Gedächtnis.«

»Hmhmmm. Hat sie«, summte sie. »Sie wartet übrigens immer noch.«

»Ich liebe dich, mein unvergleichliches, absolut einmaliges Prachtweib.«

»Na bitte, geht doch«, gurrte sie und schmunzelte.

Oskar fiel ein felsiges Häuschen am Ende des Anwesens auf, das sicherlich irgendwas Spezielles beherbergte.

»Und was ist das da hinten, Süße?« Er zeigte zu dem Häuschen, das eher ein Steinhäufchen war. Wenn auch im Gegensatz zur Felsenfestung erkennbar künstlichen Ursprungs, fügte es sich nahtlos ins Gesamtbild. Hier passte alles geradezu vulkanisch gut zueinander. Das war wohl auch beabsichtigt.

»Was für Schwindelfreie«, antwortete sie in ihrem schnippisch-neckischen Ton. Sie war mit dem Landemanöver beschäftigt und sah nicht dorthin, wohin er zeigte. Für sie war ohnehin klar, was er gemeint haben musste. »Ein Sessellift, Süßer. Damit kommt man zum Strand runter.«

»Wie praktisch.«

»Und wieder rauf.«

»Wie besonders praktisch.«

»Ist alarmgesichert. Wie alles hier.«

»Wie außerordentlich praktisch.«

Die Sessellift-Anlage war ihm während des Anfluges nicht aufgefallen. Zur Zeit waren keine Gondeln draußen, und die bloße Seilanlage fiel vor der schroffen Felswand nicht sonderlich auf. Viel wahrscheinlicher aber hatte er die Anlage zuvor nicht bemerkt, weil Christine sie senkrecht die Wand raufgejagt hatte. Nach diesem Höllenritt setzte sie den Helikopter nun butterweich auf dem Landeplatz auf. Sie drückte und knipste wieder jede Menge Hebel und Schalter, setzte ihr Headset ab und ließ den Gurt aufschnappen. Der Rotor verlangsamte sich so spürbar wie die zusätzlichen Düsentriebwerke hörbar.

»Absitzen, Ladies!«, machte sie erneut den Gunnery-Sergeant.

»Boah, ich hab so gut geschlafen wie selten«, kam es von hinten.

Jean-Pierre nun wieder. Ein normaler Mensch h ä tte sich eher vor Angst in die Hose geschissen als geschlafen.

Oskar drehte sich vor dem Aussteigen nach hinten und sah Jean-Pierre kopfschüttelnd wie entgeistert an. Der grinste nur müde, Christine lachte, sie stiegen aus.

»Das war ein langer, ereignisreicher Tag, meine Süßen! Und er ist glücklicherweise noch nicht zuende. Daher ist jetzt nur noch Hausbesichtigung und am Pool lümmeln angesagt«, gab Chefin Christine die Parole des restlichen Tagesprogramms aus.

Jean-Pierre schlenderte mit den Rucksäcken zu einem Abgang, der vom Heliport zum Haupteingang von ‚Maryfuego‘ führte. Christine strahlte mit der kanarischen Sonne um die Wette und hielt Oskar ihre Hand entgegen. Er ergriff sie mit einem Lächeln. Es war auf die Minute genau 17 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit, nach Ortszeit 16 Uhr.

Irgendwas zwischen 16 und 17 Uhr.

Genau wie gesch ä tzt. Besser geht s nicht.

Oskar trifft die Todesgöttin

Подняться наверх