Читать книгу Das Trauerspiel der Schwarzen Witwe - Jürgen Heller - Страница 5

Berlin, Freitag, 06.04.2012

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Es ist schon ziemlich spät, also jedenfalls wesentlich später als geplant, aber Bruno ist einfach nicht aus dem Bett gekommen. Das war aber irgendwie nicht anders zu erwarten, hat er doch bis vier Uhr morgens wach gelegen, konnte einfach kein Auge zumachen, oder genauer gesagt, zumachen schon, nur der Schlaf wollte sich einfach nicht einstellen. Ursachen gab es einige, einmal der dämliche Vollmond, der schon alleine dadurch, dass er im Kalender verzeichnet ist, vielen Menschen den Nerv, beziehungsweise den Schlaf raubt. Da kann die Wolkendecke so dicht sein wie sie will, Vollmond ist Vollmond, auch wenn er nicht zu sehen ist. Dann dieses Geplänkel mit Sylvia. Das beschäftigte seine Gedanken doch mehr als ihm lieb war, und zum Abschluss das Telefonat mit Karla, das in einem völlig überraschenden Schachzug endete, auch für ihn selbst. Welcher Verlobungsteufel hatte ihn da nur geritten? Er zerbrach sich das Gehirn, aber es wollte ihm einfach nicht einfallen, wie Karla reagiert hatte. Hat sie überhaupt reagiert, irgendetwas dazu gesagt? Summa summarum wirklich keine guten Voraussetzungen für einen erholsamen Schlaf.

Bruno fährt auf der A24, vor der Wiedervereinigung ehemalige Transitstrecke Berlin-Hamburg, Richtung Nordwesten. Noch fünf Kilometer bis zur Raststätte Walsleben bei Neuruppin. Das große Hinweisschild motiviert ihn, eine verspätete Frühstückspause einzulegen. Um wieder etwas Zeit zu gewinnen, hatte er auf das morgendliche Frühstück verzichtet, hatte sowieso nichts Vernünftiges im Haus. Es ist schon fast Mittag und deshalb vielleicht entschuldbar, dass in der Glasvitrine am Tresen nur noch zwei verwelkte Käsebrötchen liegen. Der dunkelgelb schwitzende Käse hat sich an den Enden etwas nach oben gebogen, quasi letztes Aufbäumen: nimm mich mit, ich vertrockne sonst. Am schlimmsten aber das Salatblatt, das kraftlos unter der Käsescheibe herunterhängt, von dunklen Flecken durchzogen. Mit hochgezogenen Augenbrauen sieht sich Bruno fragend um, was es sonst noch gibt und registriert an der Wand hinterm Tresen ein Plakat mit Farbbildern der angebotenen Speisen, Bockwurst mit Senf und Brot, Soljanka, Currywurst mit Pommes und quaderförmigen Fisch mit Remoulade und Bratkartoffeln. Er überlegt kurz, ob er nicht die nächste Raststätte aufsuchen sollte, befürchtet allerdings ein ähnliches Bild. Es gibt sie eben immer noch, die Überbleibsel der alten DDR. Diese Raststätte jedenfalls holt die Erinnerung zurück. Nur die Intershop-Läden sind nicht mehr da, diese ehemaligen Devisenbeschaffer der DDR, wo man für harte Währung westliche Genussmittel und Luxusartikel kaufen konnte, Schnaps, Zigaretten, Parfüm, Uhren, auch Markenkleidung. Aufgrund der wesentlich niedrigeren Preise kauften die meisten Transitreisenden hier ein, ohne sich einen Kopf zu machen, dass sie dadurch den 'Real existierenden Sozialismus' unterstützten. Bruno war da keine Ausnahme. Aber Schnee von gestern, dann schon lieber noch weiter zurückgeschaut, denn zu Brunos Lieblingslektüre gehören Fontanes 'Wanderungen durch die Mark Brandenburg'. Das Kapitel 'Die Grafschaft Ruppin' ist ihm in guter Erinnerung, und er wollte schon immer mal in diese geschichtsträchtige Gegend reisen, sozusagen mit Fontanes Reiseführer auf den Spuren der Familie Zieten, des Karl-Friedrich Schinkel und nicht zuletzt des Dichters selbst, allesamt untrennbar mit Ruppin verbunden. Bisher ist es aber bei der Absicht geblieben, und die wird auch immer nur dann aufgewärmt, wenn er hier mal auf der Autobahn vorbeikommt. Wie auch immer, das Thema ist nicht geeignet, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Bruno hat Hunger und landet schließlich doch bei der Bockwurst. Wahrscheinlich ist da das Risiko der zu erwartenden kulinarischen Katastrophe wirklich am geringsten. Und in der Tat, die Wurst hat zwar eine ziemlich harte Pelle, schmeckt aber tadellos, und der Kaffee auch. So sitzt er wenig später deutlich versöhnt wieder hinterm Steuer seines Subaru und fährt in einer Kolonne mit unzähligen Ostertouristen weiter seinem Ziel entgegen.

Eigentlich tue ich den Leuten unrecht. Die Bockwurst und auch der Kaffee waren astrein, und ich weiß wirklich nicht, ob die Lösung der anderen, neueren Raststätten mit ihren gastronomischen Filialen der großen Fastfood-Anbieter und ihrem vorgefertigten Einheitsessen wirklich ein Fortschritt sind. Zuhause gehe ich auch nicht in solche Läden… Außerdem haben die das mit den fotografierten Speisen erfunden, braucht man eben keine Sprachkenntnisse mehr… Aber interessant! Sprachkenntnisse zwar überflüssig aber wie sieht es denn mit den Kenntnissen über unsere Leitkultur aus? Im Prinzip hätte ich doch gar keine Bockwurst essen dürfen! Karfreitag! Okay, das Abendmahl gestern in der 'Mühle' war für einen Gründonnerstag grenzwertig aber immerhin Abendmahl…, heute nun absolute Abstinenz Herr Hallstein! Schöne Aussichten.

Bruno ist froh, das ihm so wichtige Fragen einfallen, lenken sie doch ein wenig von der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h ab und unterdrücken die aufkommende Müdigkeit. Nach dem Abzweig Wittstock ist damit endlich Schluss und er kann auch mal auf die Tube drücken, so als freier Bürger. Die Verkehrsdichte hat deutlich abgenommen, es sind doch viele weiter Richtung Rostock gefahren. Die Sonne teilt sich den blauen Himmel mit dicken weißen Wolken und ein zunehmender Wind sorgt dafür, dass beide abwechselnd die Oberhand gewinnen, mal Wolke, mal Sonne. Das ist für Bruno nun auch wieder etwas lästig, da er dauernd die Sonnenbrille auf- und wieder absetzen muss, naja, es gibt Schlimmeres. Zum Beispiel, dass die Sendeleistung seines geliebten Berliner Stammsenders nun nicht mehr ausreicht, und der automatische Suchlauf nach einigen Sekunden bei einem Radiokanal aus Mecklenburg-Vorpommern hängen bleibt. Die Moderatorin schafft es innerhalb von zwanzig Minuten gefühlte zehnmal zu erklären, dass dieser Sender der beste in McPomm sei und die abwechslungsreichste Musik der Welt spiele, also Oldies und Pop, auch mal was auf Deutsch, ziemlich genau das, was schätzungsweise siebenhundert andere Sender auch bringen. Es fehlt auch nicht an Meldungen über Blitzer und das derzeitige Wetter. Bruno schaltet um auf CD und ist überrascht, dass er immer noch die alte Hubert-von-Goisern-Platte drin hat, bestimmt schon länger als drei Jahre. Da hat er jetzt aber auch keine Lust drauf, und so stellt er das Radio ganz aus. Am Abzweig Schwerin verlässt er die A24 und fährt auf die A14 Richtung Wismar. Jetzt ist er fast völlig allein auf der Straße, muss allerdings wieder eine vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit beachten. Erst ab Schwerin hat er freie Fahrt und fliegt mit über 180 km/h über das graue Band.

Fahr 'n, fahr 'n, fahr' n, auf der Autobahn.

Vor uns liegt ein weites TalDie Sonne scheint mit GlitzerstrahlDie Fahrbahn ist ein graues BandWeiße Streifen, grüner RandJetzt schalten wir das Radio anAus dem Lautsprecher klingt es dann:Wir fahren auf der Autobahn . . .

Kraftwerk, ob es die überhaupt noch gibt? Müsste ich mal recherchieren. Sowas habe ich noch nie in den letzten zwanzig Jahren im Radio gehört. Ist doch auch ein Oldie aber wahrscheinlich zu avantgardistisch, kein Mainstream… Naja, über Geschmack lässt sich trefflich streiten, besonders Musikgeschmack…

Am Autobahnkreuz Wismar wechselt er auf die A20 und fährt nun Richtung Lübeck. Die Ostsee liegt zur rechten Hand und der Wind macht sich immer stärker bemerkbar. Bruno muss sich wegen der seitlichen Böen konzentrieren, auch weil der Verkehr hier wieder wesentlich dichter ist. Kurz vor Lübeck muss er ohnehin runter vom Gaspedal, wieder mal Begrenzung, diesmal100 km/h. Nach weiteren zehn Minuten hat er endlich die letzte Autobahnetappe erreicht, er wechselt auf die A1 Richtung Puttgarden. Auf der rechten Seite sind kurz die Kirchtürme der Stadt Lübeck zu sehen. Bruno erinnert an einige berufliche Aufenthalte in dieser Stadt, die mit ihrer imponierenden hanseatischen Kulisse über mehr Authentizität und Wohlfühlpotential verfügt, als so manche ihrer gelobten und berühmteren Schwestern aus den Reisekatalogen. Bruno war jedenfalls immer sehr gerne hier und hätte sich sogar vorstellen können, hier zu leben.

Er ist gut in der Zeit und rollt jetzt mit dem Verkehr mit, bleibt ihm auch gar nichts weiter übrig, die drei Spuren sind voll. Erst nachdem sich ein Großteil der Autos Richtung Travemünde verabschiedet hat, entspannt sich die Verkehrslage etwas, allerdings stehen auch nur noch zwei Fahrstreifen zur Verfügung. Bruno versucht es noch einmal mit dem Radio und findet prompt den besten Sender der Region, mit der größten Musikvielfalt, Oldies, Pop, auch mal was auf Deutsch, nicht zu vergessen, mit den meisten Blitzern.

Igitt, welch ein Satz, 'Bei uns hören Sie die meisten Blitzer'…, wenn das die Brüder Mann erleben müssten…, dazu ein Auslösegeräusch, das mich an meine erste Spiegelreflexkamera von 1970 erinnert. Ob die hier wirklich so alte Kameras bei der Geschwindigkeitsüberwachung einsetzen? Dann würde der Satz ja wieder Sinn machen, bei uns hören Sie die Blitzer, leider nicht alle aber die meisten…

Bruno verlässt die Autobahn bei der Ausfahrt Scharbeutz und biegt dann in die schmale Kreisstraße ein, die ihn direkt nach Lütjenbrook führt. Etwa zwei Kilometer nach dem Ortseingang liegt auf der linken Seite das Haus seines Cousins, etwas abseits und von einer mindestens zwei Meter hohen Lorbeerhecke umrahmt. Bruno beschließt aber, erst mal sein Quartier aufzusuchen, um seine Koffer auszupacken und sich etwas frisch zu machen. Im Vorbeifahren kann er erkennen, dass ein grüner Golf in der Auffahrt steht. Das Kennzeichen kommt ihm bekannt vor. Er ist sich sicher, dass er diese Nummer schon mal gesehen hat, aber eigentlich kann das auch nicht sein, Ostholsteiner in Berlin, wohl eher selten. Er wohnt wie immer bei Trude Langfeld, einer älteren Dame, die seit dem Tod ihres Mannes vor einigen Jahren in dem für sie viel zu großen Haus zwei Gästezimmer vermietet, die ehemaligen Kinderzimmer. Frau Langfeld ist eine sehr aufgeschlossene Frau, die an fast allem interessiert ist, was um sie herum passiert, und obwohl sie schon über achtzig ist, steht sie noch voll im Leben. Sogar einen Computer hat sie sich vor zwei Jahren zugelegt und war sehr dankbar, dass Bruno ihr damals bei der Inbetriebnahme geholfen hat. Auch die ersten Schritte hat sie bei ihm gelernt und war sehr stolz, als sie die erste E-Mail verschickt hat, natürlich an Bruno. Die Begrüßung fällt sehr herzlich aus, Frau Langfeld freut sich wirklich. Bei der kurzen Umarmung spürt Bruno den mageren Körper der zierlichen Frau, die aber gar nicht zerbrechlich wirkt, eher drahtig.

"Ich habe gerade frischen Kaffee bereitet. Wie wär 's mit einer Tasse?"

"Sehr gerne, Frau Langfeld, Kaffee kann ich jetzt gut gebrauchen. So eine Autofahrt strengt doch an, da merkt man, dass man nicht mehr fünfzig ist."

"Och, Sie Jungspund, was soll ich denn sagen? Ich fahre schon seit Jahren nicht mehr selber Auto. Die Augen, wissen Sie? Ich habe einmal fast ein Schulkind angefahren. War Schietwetter und die Kleine hatte auch dunkle Plünnen an, aber ich hätte mir ewig Vorwürfe gemacht. Da bin ich am nächsten Tag zum Bürgermeister und habe meine Pappe offiziell zurückgegeben. Paar Tage später kam er nochmal mit Blumen und hat einen jungen Mann mitgebracht. Der musste dann Fotos für unser Käseblatt machen, von mir und dem BM Maas, wie ich ihm den Führerschein übergebe. Ich glaube ja, der wollte ein bisschen Reklame für sich machen, war damals kurz vor der Wahl. Ich will ja nichts gegen Ihren Cousin sagen, aber die sind doch alle so. Lassen sich gerne ablichten, wenn ein Kindergarten eröffnet wird, so als hätten sie ihn persönlich bezahlt und gebaut, oder wenn die Sparkasse einen ganzen Baum gespendet hat, dann zeigen sie sich alle gerne mit einem Spaten und tun so, als würden sie das zarte Bäumchen im Gegenwert von 19,95€ gerade einpflanzen. Dabei siehst du ganz genau, der und der haben noch nie einen Spaten in der Hand gehabt, und der Spaten selbst ist so blank, der hat noch nie einen Krümel Erde gesehen, da kannst du von essen. Ist doch wahr. "

"Da haben Sie gewiss nicht ganz Unrecht, Frau Langfeld. Ich frage mich sowieso, weshalb ein Dorf wie Lütjenbrook einen eigenen Bürgermeister hat. Was macht der denn den ganzen Tag?"

"Na jetzt ist unser Bürgermeisteramt ja nur noch ehrenamtlich. Die eigentliche Verwaltung wurde ja von der Kreisstadt übernommen. Daher wird der BM, wie wir sagen, ja auch nicht direkt vom Volk gewählt, sondern vom Gemeinderat. Können Sie sich vorstellen, was da abgeht? Abends zusammen saufen, parteiübergreifend und dann Politik machen, ich kann Ihnen Geschichten erzählen."

"Ich komme darauf zurück, Frau Langfeld. Jetzt muss ich aber erst mal auspacken, vielen Dank für den Kaffee."

"Dafür nich. Ach so, wenn Sie mal dreckige Wäsche haben, kein Problem, die legen Sie einfach aufs Bett, dann haben Sie sie am nächsten Tag wieder sauber. Ich habe jetzt nämlich auch einen Trockner. Ist zwar schade für die Umwelt aber hilfreich bei dem Schietwetter."

Bruno verzieht sich auf sein Zimmer und hat innerhalb weniger Minuten seine Koffer entleert und den Inhalt auf Kleiderbügel und Schubladen verteilt. Dann springt er kurz unter die Dusche und fühlt sich alsbald wie ein neuer Mensch. Da die Sonne draußen den Kampf gegen die Wolken offensichtlich verloren hat, entscheidet er sich bei der Auswahl der Kleidung für die wärmere Variante mit Jeans, langarmigem Baumwollpullover und seiner Softshell-Jacke. Dazu bindet er sich locker einen Schal um den Hals und setzt seine Lieblingsmütze auf, die mit dem Tiroler Adler. Dann schlendert er Richtung Ortsmitte und wirft seine Blicke mal hierhin, mal dorthin, achtet auf Vorgärten, Dächer, Hausfassaden, Fenster, Türen und Zäune.

Ich weiß nicht was es ist, aber es sieht hier so völlig anders aus. Auch in unseren Einfamilienhaus-Siedlungen, besonders in den Neubaugebieten, gewinne ich einen ganz anderen Eindruck. Aber ich wüsste keine Antwort auf die Frage, was denn anders sei. Vielleicht sind es ja gar nicht die Häuser selbst, sondern der Himmel darüber. Das ist zum Beispiel so ein Punkt, der Himmel, in Berlin fast immer Tele und in Lütjenbrook meistens Weitwinkel, um das mal fototechnisch zu beschreiben. Es könnte aber auch am Licht liegen, an den Farben, an den Pflanzen in den Gärten, keine Ahnung. Ich wüsste jetzt auch nicht, was mir besser gefällt. Lütjenbrook ist natürlich ein besonderes Dorf, besonders sauber, besonders spießig, besonders norddeutsch, obwohl norddeutsch immer noch besser als süddeutsch, genauer gesagt als bayrisch. Aber Bayern eigentlich nicht so weit weg von Tirol und Tirol ganz weit vorne.

Bruno hat das Grundstück seines Cousins erreicht. Die Lorbeerhecke steht wie eine Eins und Bruno fragt sich, wie oft die wohl im Jahr geschnitten werden muss. Die letzten Meter bis zur Haustür sind mit weißen Kieselsteinen belegt, und Bruno schämt sich fast für sein Schuhwerk, sportlich, bequem, rustikal und natürlich nicht geputzt. Dieser Weg hätte Lackschuhe verdient, Lackschuhe mit Carrara-Kiesel-Zulassung. Ist das eventuell eine Geschäftsidee oder gibt’s die schon?

Ich weiß nicht, ob mir dieses Leben hier gefallen würde, dieses geleckte, ewig supergepflegte und vielleicht gerade dadurch leblos wirkende Bild. Die Menschen, die hier leben, drücken ihre Lebenslust durch den Rasenschnitt aus oder durch die Auswahl der Steine ihrer Häuser und Wege, bis hin zu weißen Kieselsteinen. Naja, vielleicht sehe ich das ein wenig zu eng, aber Michael ist immerhin mein Cousin und ich weiß, wo er herkommt. Bei meiner Oma gab es jedenfalls keine weißen Kieselsteine. Die hätte sie bestimmt verscheuert, um an Geld zu kommen, Geld für die Lebensnotwendigkeiten, Essen, Kleidung, Miete, Kohlen, was weiß ich.

Bruno drückt den Klingelknopf und fast im gleichen Augenblick wird die große Eingangstür geöffnet.

"Mensch, Keule, da bist du ja endlich. Ich warte schon die ganze Zeit."

"Hallo Micha, alte Hütte, hast du hinter der Tür gestanden? Freut mich, dass wir uns mal wieder sehen. Aber so ein Jahr geht schnell herum - oder?"

"Ach, Bruno, fang bloß nicht an die Zeit zu messen. Die macht schon keine Fehler. Die Zeit macht alles richtig, und wir müssen nur dafür sorgen, dass wir bei der Erfassung möglichst unbemerkt bleiben, nur keine Auffälligkeiten. Nur nicht berühmt werden, dann wirste alt. Die Medien und die Öffentlichkeit interessieren sich doch nur für Tote, wenn sie einen gewissen Bekanntheitsgrad haben. Deshalb werden die vom Schicksal auch als erste ausgesucht, verstehst du?"

"Verstehe alles, darf ich trotzdem reinkommen? Meine Schuhe sind auch wirklich sauber. Kannste nachsehen, keine Spuren auf dem schneeweißen Kiesel."

"Komm rein und behalte die Galoschen an, Moni ist nicht da. Wie wär's mit einem kleinen Cognac? Von einem Freund, zwanzig Jahre alt, also der Cognac."

Die beiden Männer nehmen auf zwei ausladend großen, weißen Ledersesseln Platz. Der Raum ist eigentlich ein Wintergarten und brutal überhitzt, trotz der Bewölkung draußen. Bruno zieht sich die Ärmel seines Pullis hoch und denkt, dass ein kühles Bier wesentlich sympathischer wäre. Michael Maas wäre aber nicht er selbst, wenn er diesen Wunsch seines Cousins nicht schon längst erkannt hätte. Auf einem Tablett serviert er zwei ziemlich große und ziemlich volle Cognacschwenker aber auch eine Flasche Mineralwasser und eine Flasche Bier. Deren Glaskörper ist beschlagen und erinnert Bruno an einen australischen Werbespot, wo ein Kinogänger anstelle eines eiskalten Bieres lieber eine Tüte Popcorn bestellt und dann, als er sie verputzt hat, der Durst fast unerträglich! Aus seiner Not rettet ihn schließlich eine junge Kellnerin, die ihm das beworbene Bier kredenzt. Das Glas natürlich auch beschlagen und ein paar Tautropfen rinnen außen am Glaskörper herunter, da kriegt selbst der Undurstigste eine trockene Zunge.

"Und Bruno, was macht die Kunst? Wie geht es deiner Karla? Und was macht meine Heimatstadt Berlin? Man hört hier so wenig und wenn überhaupt, immer nur von dem blöden Flughafen."

"Ach weißt du Micha, die Sache mit dem Flughafen. Ist doch schon immer so gewesen, dass alle anderen immer alles besser wissen. Wenn die Menschheit irgendwann mal bergreifen würde, dass die Verantwortung für technische Projekte dieser Größenordnung nicht mehr in die Hand von Laien gehört, sondern von Profis, sprich von technisch versierten Leuten…"

"Habe die Ehre, Herr Ingenieur. Ist ja klar, dass du die alle noch verteidigst. Lass uns von etwas anderem reden. Ich habe zu dem Thema sowieso keine Meinung. Dazu bin ich zu weit weg. Ich weiß nur eins, Projekte, die von der öffentlichen Hand bezahlt werden, laufen immer aus dem Ruder, Kosten, Termine, alles wird überzogen."

"Ist schon wahr, aber da gibt es ja auch einen logischen Zusammenhang, sozusagen eine Regel. Da haftet doch niemand von den Verantwortlichen, jedenfalls nicht mit seinem eigenen Geld. Da werden doch 'nur' Steuergelder verpulvert. Dann kostet so eine Anlage eben nicht mehr die geplanten 2 Milliarden, sondern mehr als doppelt so viel, na und? Kleiner Aufschrei in den Medien und das war's. Hat nicht Hamburg auch so ein Projekt?"

Nach einer halben Stunde haben die beiden Männer ihren Cognac vernichtet und auch das schöne kühle Bier hat Brunos Kehle passiert. Soviel zum Karfreitag. Da stirbt einer am Kreuz, übernimmt noch alle Sünden und was machen die beiden Ungläubigen…? Die haben in der Zwischenzeit alle aktuellen Missstände auf dieser Welt analysiert und gleich noch behoben, also theoretisch. Die praktische Umsetzung muss eben noch warten. Eigentlich eine gute Voraussetzung, den weiteren Abend zu planen.

"Was willst du essen? Vielleicht Fisch? Immerhin ist heute Karfreitag. Komm, ich lade dich ein."

"Na, wo geht denn der Bürgermeister immer hin, wenn er gut essen will? Gibt es die 'Ole Kajüte' noch?"

"Ja schon, aber da gehen wir nicht mehr rein, falsche Partei, verstehst du?"

"Falsche Partei? Ich denke du bist parteilos? Da kannst du doch überall rein, oder sehe ich das falsch?"

"Naja, genaugenommen ist parteilos ja auch eine gewisse Parteilichkeit, sonst könnte ich ja auch in eine der etablierten Parteien eintreten. Nur es hat sich hier auf dem Land so eingebürgert, dass bei fehlenden Mehrheiten die Freien Wähler sehr oft entscheiden, wer denn in Amt und Würden kommt. Außerdem würde ich bei den anderen in der Liste wohl erst unter 'ferner liefen' erscheinen. Politisch würde ich in jede Partei passen, da bin ich sehr flexibel…, aber so als Kompromisskandidat habe ich es doch viel leichter. Komm, wir gehen in den Goldenen Anker, da stimmt die Qualität und die Preise müssen dich ja nicht interessieren."

Der Goldene Anker ist genau von der Sorte Restaurant, die Bruno so liebt, sehr edel, sehr teuer, sehr geschmacklos eingerichtet und nach Brunos Empfinden ohne jede Eigenheit, ohne Charme, ohne Atmosphäre. Da helfen auch nicht die vielen, völlig deplatzierten Schiffsmodelle. So ein Restaurant würde er normalerweise nie betreten.

Sieht aus wie ein Oligarchentreffpunkt, haben die hier in Lütjenbrook auch schon solche Typen zu Gast? Kann ich mir kaum vorstellen, russische Multimilliardäre bei den Lütjenbrooker Heringstagen?

"Guten Abend, Herr Bürgermeister, zwei Plätze oder erwarten Sie noch jemand?"

"Nein, nein, Herr Petkovic, wir bleiben unter uns. Ist die kleine Ecke nicht frei?"

"Doch, doch, ist immer frei für solche Fälle. Man weiß ja nie, was Abend noch bringt. Nicht wahr?"

Herr Petkovic lächelt etwas schmierig und geht mit wichtigtuerischem Schritt voraus. Sein schwarzer Anzug ist ihm eine Nummer zu klein und Bruno hat sofort die blankgebügelten Stellen an der Hose entdeckt. Also so hundertprozentig passt Herr Petkovic nicht zum Anspruch des Goldenen Ankers, oder mal abwarten, vielleicht ja doch.

"So, meine Herren, hier Sie sind völlig ungestört. Ich bringe Ihnen sofort Speisekarte. Wollen Sie schon etwas trinken, vielleicht ein…"

"Jaja, bringen Sie uns bitte ein Glas Sekt."

"Nur ein Glas?"

"Naja, für jeden natürlich, also zwei Glas Sekt."

"Zwei Glas Sekt, sehr wohl."

Bruno kann sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen. Wie locker und trotzdem souverän geht es dagegen bei seinem Freund Harry in der 'Mühle' zu. Hier ist alles steifes Getue, sogar die Nerv tötend leise Klaviermusik, die aus unsichtbaren Lautsprechern klingt. Also von klingen kann man eigentlich gar nicht sprechen, dazu ist die Musik viel zu leise. Bruno muss sich regelrecht anstrengen, um sie zu erkennen. Also dann lieber ganz aus.

"Außerhalb von Karte wir haben noch Lammfilet mit grüne Bohnen und neue Kartoffeln, und ganz frische Dorsch, heute Morgen direkt vom Fischer gekauft. Dazu gibt es Senfsoße und Dillkartoffeln."

Herr Petkovic öffnet die in Kunstleder gebundenen Speisekarten, bevor er sie den beiden Männern überreicht.

"Bist du mit Dorsch einverstanden? Also ich nehme ihn auf jeden Fall. Was sollen wir lange die Karte studieren."

Bruno nickt zustimmend, hat sich aber seine Brille aufgesetzt, um die Getränkeauswahl zu studieren, man muss ja auch noch etwas trinken. Beeindruckt stellt er fest, dass der Goldene Anker recht gut sortiert ist. Seine Wahl fällt auf einen Weißburgunder von der Nahe. Michael bestellt eine Flasche und für sich ein großes Bier.

"Wie jetzt? Soll ich die Flasche allein trinken? Dann bin ich ja blau."

"Ach was, so schnell wird man nicht blau, bist doch ein starker Mann. Aber mir Wein zu kredenzen, ist wirklich wie die berühmten Perlen vor die Säue werfen. Da müsstest du dann mit meiner Frau essen gehen. Die macht das bestimmt gerne…"

Bruno meint einen gewissen Unterton wahrzunehmen, geht aber nicht darauf ein. Die Getränke kommen unverzüglich, werden aber nicht von Herrn Petkovic, sondern von einer jungen Frau serviert. Die ist zwar nicht gerade eine Schönheit, schaut aber aus lustigen Augen in die Welt und spricht Bruno direkt an.

"Guten Abend, der Wein ist bestimmt für Sie, unser Bürgermeister und Wein, das passt ja nun gar nicht."

Bruno wird von ihrem Lächeln angesteckt und beobachtet, wie sie routiniert die Flasche öffnet, nachdem sie ihm diese vor die Nase gehalten hat, damit er das Etikett studieren kann. Den kleinen Probeschluck spült er im Mund hin und her und bestätigt der Kellnerin seine Zufriedenheit. Sie gießt sein Glas nur halbvoll und stellt die Flasche in den mitgebrachten Weinkühler.

"Wird sonst zu schnell warm. Einen schönen Abend, die Herren."

"So, nun lass uns mal anstoßen, Bruno. Auf ein schönes Osterfest. Hoffentlich lässt der Wind noch nach, sonst wird das problematisch mit dem Feuer. Das war übrigens Inga, Inga Langfeld, die Enkelin deiner Vermieterin. Kommt ganz nach ihrer Oma, mit 'm Mund immer vorneweg, aber plietsch ist sie, also schlau. War die Klassenbeste in meinem letzten Abiturjahrgang. Bin zwar nicht ihrer Meinung, was die Politik betrifft, aber sie ist ja auch noch jung, wird sich schon noch einnorden lassen."

"Einnorden? Schöne Umschreibung, du meinst anpassen. Früher waren dir die Angepassten verhasst. Erinnerst du noch die unglaublich dämlichen Auseinandersetzungen über die 'richtige' Linie? Wir diskutierten bis zum Abwinken, wer denn die wahren, aufrechten Sozialisten wären und wer die Revisionisten. Das war ungefähr so, als würde man darüber streiten, ob Vogel- oder Katzenscheiße besser schmeckt. Wir redeten uns die Köpfe heiß über Bernstein und Kautsky und argumentierten mit Zitaten aus Büchern, die kein Mensch auch nur annähernd verstanden hat. Mir ist gerade neulich so eine alte Schwarte in die Hand gefallen, als ich auf dem Speicher nach einem Kochbuch gesucht habe. 'Die Polemik über die Generallinie der internationalen kommunistischen Bewegung' oder so ähnlich, ein wirklich epochales Werk. Über 600 Seiten Protokolle von Parteitagen der KP Chinas und der KPdSU, und ich habe den Quatsch damals wirklich gelesen, davon zeugen unzählige Markierungen und handschriftliche Anmerkungen. Frage mich aber nicht, was ich davon behalten habe."

"Du hast ja Recht, Bruno, aber du sagst ja selbst, dass wir alle dämlich waren. Das aber ist doch das Vorrecht der Jugend und so dämlich waren die Diskussionen gar nicht. Stell dir einfach mal vor, die Führer der Kommunistischen Partei Chinas hätten damals in ihr Parteiprogramm den Plan eingebracht, dass China in fünfzig Jahren, also heute, den Kapitalismus eingeführt hat, mit dem Ziel zweistelliger Wachstumsraten. Stell dir vor, wir hätten darüber diskutiert, ob es den chinesischen Führern erlaubt sei, alle, aber auch alle westlichen Konzerne ins Land zu holen, um sich mit Lohndumping und quasi nicht vorhandenen Umweltschutzmaßnahmen zum größten Industriestandort der Welt zu entwickeln. Die damaligen Führer in West wie in Ost hätten sich nicht mal mit der Pinzette angefasst und heute? Sozusagen ziemlich beste Freunde, jedenfalls wenn es ums Geschäft geht. Und was ist nun besser, immer mit den Säbeln zu rasseln und am Rande eines Atomkrieges zu stehen, oder friedliche Koexistenz? Natürlich nicht die Koexistenz, wie sie sich die Kommunisten damals zurechtgelegt haben, aber immerhin."

"Tja, schon eine interessante Frage, aber warte mal ab, in weiteren fünfzig Jahren werden wir wissen, wie die Welt sich entwickelt hat. Ob dann endlich jeder satt zu essen und ein Dach über dem Kopf hat oder ob die Forbes-Liste der 100 reichsten Menschen dieser Welt nur noch aus Russen und Chinesen besteht. Die könnten doch dann ihre Polemik fortsetzen…"

Bruno und sein Cousin genießen die vertraute Unterhaltung über die gemeinsamen Erinnerungen, auch weil sie wissen, dass sie so nicht mit jedem Menschen reden könnten, schon gar nicht der Bürgermeister. Wie viele seiner Mitbürger und Wähler würden sich wohl empört von ihm abwenden, wenn sie wüssten… Zum Glück erscheint Herr Petkovic mit einem goldfarbenen verschnörkelten Tablett, das er auf einem Beistelltisch absetzt. Die beiden Teller werden von silbernen Gloschen abgedeckt, die Herr Petkovic gleichzeitig mit geübtem Schwung entfernt.

"Ich wünsche Guten Appetit, wenn Sie noch haben Wunsch…"

"Ja, Sie können mir bitte noch ein Bier bringen."

"Und mir bringen Sie bitte ein normales Messer, ich mag diese Fischmesser nicht. Ich kann damit nicht umgehen."

Das Essen entspricht nicht ganz den Erwartungen, jedenfalls nicht Brunos. Der Fisch ist ihm etwas zu roh und die Senfsoße schmeckt ihm zu fade. Er weiß aber, dass nach kulinarischen Maßstäben alles perfekt ist. Da muss der Fisch immer schön glasig sein und die Soßen aufgeschäumt, wehe wenn nicht. Nur sein Geschmack bevorzugt eben mehr das Rustikale, das Bodenständige. Insgesamt aber ein akzeptables Ergebnis und frischen Dorsch bekommt er in Berlin eher selten. Der Wein ist auch noch immer schön kühl und Bruno ist erstaunt, dass noch so viel in der Flasche ist. Da muss er dran arbeiten. Er füllt sein Glas und erhebt es in Richtung Michael.

"Vielen Dank für die Einladung, Alter, das war wirklich gut. Ich war zuerst skeptisch, weißt du? Wenn die schon mit Gloschen kommen, naja, Goldener Anker, da muss ja was dran sein."

"Morgen können wir bei uns essen. Ich habe mit Moni schon gesprochen. Es gibt Sauerfleisch mit Bratkartoffeln, isst du doch, oder?"

"Gerne sogar. Macht ihr das Sauerfleisch selber?"

"Nein, das kommt von einem Bauern unseres Vertrauens. Im Nachbardorf züchtet einer Angler Sattelschweine. Nebenbei betreibt er einen Hofladen, da kannst du alles Mögliche kaufen, Wurst, Schinken, Fleisch und eben auch das Sauerfleisch. Das ist wirklich superlecker."

Das Trauerspiel der Schwarzen Witwe

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