Читать книгу Das Trauerspiel der Schwarzen Witwe - Jürgen Heller - Страница 6
Lütjenbrook, Sonnabend, 07.04.2012
ОглавлениеDie Sonne scheint Bruno direkt ins Gesicht. Da rächt es sich jetzt, dass er gestern Abend zu faul war, den plisseeartigen Sichtschutz vor das Fenster zu ziehen. Er bleibt aber noch einen Moment liegen, um zu analysieren, wie es ihm geht. Gut, eigentlich sogar sehr gut, stellt er zufrieden fest. Sein Schlaf war traumlos und tief, und obwohl er immerhin eine ganze Flasche Wein getrunken hatte, nicht zu vergessen den Cognac und das Bier, hat sich auch nicht die Spur eines Katers eingestellt.
Also entweder bin ich schon so sehr daran gewöhnt oder der Wein war wirklich von so hoher Qualität. Ich nehme mal das Zweite an. Also hoch jetzt, Herr Hallstein.
Pünktlich um neun sitzt er in der gemütlichen Veranda, wo Trude Langfeld ihm ein leckeres Frühstück serviert hat. Sie selbst hat schon vor einer halben Stunde das Haus verlassen, um so kurz vor Ostern noch schnell etwas einzukaufen. Bruno versucht in dem kleinen Kofferradio auf dem Büffet, ein wenig Musik zu finden. Tatsächlich stößt er auf den Sender mit den meisten hörbaren Blitzern. Den kann man auch gleich wieder ausmachen, sonst versaut man sich den Tag mit Oldies und schalen Späßchen ultralustiger Moderatoren, Kinderfunk für Erwachsene, einfach nur peinlich. Also bleibt es ruhig und Bruno wirft stattdessen einen Blick in das Lübecker Tageblatt, das ihm Trude Langfeld hingelegt hat.
Haben die noch alle Latten am Zaun? Dieses Käseblatt besteht ja fast nur noch aus Werbung. Eine halbseitige Anzeige über die Volkskrankheit Nummer Eins, Scheidentrockenheit. Zum Glück gibt's Vagisan, ich fasse es nicht. Eine ganze Seite Werbung für Boxspringbetten, was immer das ist. Kann man darin boxen oder springen? Nicht zu vergessen die ganzseitigen Angebote der regionalen Supermärkte, die den Lesern frohe Ostern wünschen und ihnen in bunten Bildern zeigen, wie Lammkeule und Eierlikör aussehen. Das spannendste scheint mir noch der Lokalteil zu sein. Ehrungen und Beförderungen bei der Freiwilligen Feuerwehr Lütjenbrook. Gemeindewehrführer ernennt Dirk Dirksen und Gunnar Möller aufgrund ihrer Verdienste zu Hauptfeuerwehrmännern mit drei Sternen. Was es nicht alles gibt…
Bruno hat die Zeitung wieder zusammengelegt, nachdem er auch noch einen kurzen Blick auf die Wetterkarte geworfen hat. Es soll zwar windig bleiben aber zum Abend etwas abflauen. Er sortiert das Frühstücksgeschirr etwas zusammen, lässt es aber hier stehen. Es wäre ihm unangenehm, so einfach in die Küche zu gehen. Zurück in seinem Zimmer wirft er zunächst einen Blick auf sein Smartphone, keine Nachricht, kein Anruf. Er überlegt kurz, ob er sich bei Karla melden sollte, aber das kann er immer noch machen. Bruno ist ein Meister im Hinausschieben, besonders wenn es unangenehm werden könnte. Sein Cousin hat ja gestern auch nach Karla gefragt aber nicht weiter nachgehakt, als Bruno keine Antwort gab.
Ich glaube ich drehe mal eine Runde hinunter zum Strand, mal ein bisschen das Gehirn durchpusten lassen. Um 12:00 Uhr muss ich ja auch schon bei Micha und Monika sein, Sauerfleisch. Na hoffentlich kann sie wenigstens vernünftige Bratkartoffeln machen…
Der Weg zum Strand führt über eine Promenade, die beiderseitig von alten Kiefern gesäumt ist. Bruno staunt, dass trotz des unangenehm kalten Windes und der frühen Stunde schon so viele Menschen unterwegs sind. Die meisten haben sich entsprechend warm angezogen und scheinen den Wind und die aufgewühlte See zu genießen. Bei Bruno verursacht die starke Brandung eher Unbehagen. Er mag sowieso keinen Wind und dann noch die hohen Wellen, die hier am Ostseestrand zum Glück nicht ganz so bombastisch daherkommen. Vor Jahren war er einmal in Australien an der Great Ocean Road, einer Straße, die an der Südküste entlangführt und die für ihre Ausblicke auf die in Jahrtausenden vom Meer geformte Steilküste mit ihren vorgelagerten, bizarren Felsformationen weltberühmt ist. Dort hat er eine Brandung erlebt, deren weiß überschäumende Wellen weit draußen, fast am Horizont entstanden und die in kilometerbreiten Bändern auf die Küste zurollten, um mit meterhohen Brechern ihr Werk an der Erosion der Kalksandsteinfelsen unermüdlich fortzusetzen. Er weiß noch genau, wie er fasziniert war, sich aber auch bedroht fühlte, nie im Leben würde er in dieses Wasser gehen. Und dann sah er von einer Aussichtsplattform hinunter und beobachtete zwei junge Männer, die auf ihren Surfbrettern zwischen den Felsengruppen herumpaddelten und auf passende Wellen für ihren halsbrecherischen Sport warteten. Ihm standen die Haare zu Berge. Noch heute kommt es ab und zu vor, dass er im Traum an irgendeinem Strand entlanggeht, und wie aus dem Nichts plötzlich eine Riesenwelle auf ihn zurollt, quasi Tsunami. Das schäumende Wasserungeheuer erreicht ihn aber nie, weil er in seiner panischen Angst vorher aufwacht.
Bruno sieht eine junge Frau auf sich zukommen, eine Joggerin, der ein kleiner Hund mit viel zu kurzen Beinen hinterherläuft. Er tritt höflichkeitshalber einen Schritt zur Seite, um sie vorbeizulassen.
"Moin, na, auch schon auf?"
Erst jetzt erkennt Bruno die junge Kellnerin von gestern Abend. Über ihr dunkelblondes Haar hat sie eine bunte Strickmütze gestülpt, bestimmt angenehm bei dem Wetter. Ihr giftgrünes Laufshirt bildet einen augenfälligen Kontrast zur dunkelblauen Hose, also weniger Hemd und Hose, mehr so zweite Haut. Bruno scannt mal eben den trainierten Körper der jungen Frau. Diese sportliche Figur ist ihm gestern Abend gar nicht so aufgefallen. Naja, mit der langen Schürze und der weiten Bluse war sie ja auch gut getarnt.
"Guten Morgen, Sie sind ja sportlich unterwegs, Hut ab! Machen Sie das jeden Tag?"
"Ja, eigentlich schon. Hauptsächlich wegen Fussel, er wird sonst zu fett."
Fussel ist froh über die Unterbrechung und schnüffelt an Brunos Schuhen herum. Bruno ist es unangenehm, also das mit dem Hund.
"Sie sind doch die Enkelin von Trude Langfeld, nicht wahr? Mein Cousin nannte mir Ihren Namen."
"Soso, der Bürgermeister ist also Ihr Cousin. Dann sind Sie sicher der Feriengast aus Berlin, der immer mal bei meiner Oma wohnt, richtig?"
"Genau, wenn ich mich vorstellen darf, Bruno Hallstein, Ingenieur im Ruhestand. Bin eigentlich jedes Jahr zu Ostern hier, wegen dem Osterfeuer, naja, und natürlich um die Familienbande zu pflegen. Michael kommt ja schon lange nicht mehr nach Berlin."
Inga Langfeld beginnt etwas auf der Stelle zu tänzeln und versetzt Fussel einen leichten Tritt, weg von Brunos Schuhen.
"So, ich muss dann mal wieder, mir wird sonst zu kalt. Wir sehen uns bestimmt noch, spätestens beim Osterfeuer, Tschüss."
Bruno kommt gar nicht dazu, den Gruß zu erwidern. Er blickt ihr noch nach und dankt der Sportartikelindustrie insgeheim, dass die Sportleidung heutzutage so ein fetziges und körperbetontes Design hat, also für die, die es tragen können. Er selber würde wohl eher nicht solche hautengen Sachen anziehen. Das wäre aber auch ein ästhetischer Frontalangriff auf seine Umwelt.
Vielleicht sollte ich auch mal etwas mehr Sport treiben. Wer weiß, womöglich würden ein paar Pfunde purzeln, wäre doch nicht schlecht… und prompt fallen mir Sauerfleisch und Bratkartoffeln ein.
Der stetige Wind hat es geschafft, Bruno ist etwas genervt und gibt auf. Er verlässt die Strandpromenade und geht nun die Strandallee entlang. Hier, wo sich Hotels, Restaurants und Boutiquen abwechseln, ist er vor dem Wind etwas geschützt. Bei einem Sportgeschäft bleibt er stehen und betrachtet die Schaufensterpuppen, die die neueste Kollektion in Szene setzen. Leider haben auch Schaufensterpuppen wesentlich bessere Figuren als Bruno je hatte und so tritt er mit dem Problem auf der Stelle.
Das wäre doch mal eine Geschäftsidee, Schaufensterpuppen mit Problemfigur! Krummer Rücken, ausgeprägte Körpermitte, flacher Hintern und dünne Beine, Modell Flaschengeist…
Bruno schaut sich auch die anderen Auslagen der Geschäfte an, weniger aus Interesse, mehr, um die Zeit bis zum Mittag rumzukriegen. Bei einem Juwelier schaut er sich die Armbanduhren an, ein kleiner Tick von ihm. Allein die Tatsache, dass die Uhren nicht ausgepreist sind, lassen Bruno ahnen, nicht seine Preisklasse. Auch die Immobilienpreise im nächsten Schaufenster scheinen vom Mond zu sein. Immerhin ist hier Lütjenbrook und nicht Monte Carlo. Aber ein pickliger, feister Sparkassenmakler mit schütterem Haar lächelt ihn von einem Foto an und versucht ihn zu überzeugen, dass 900.000€ für ein neu renoviertes Reetdachhaus am Ortsrand mit 600m2 Grundstück ein Schnäppchen ist. Dann schon eher eine Pension mit unverbaubarem Ostseeblick für den Spottpreis von 2,5 Millionen!
Alle Achtung, da nehme ich doch gleich zwei. Da drängt sich mir allerdings die Frage auf, warum will der Eigentümer überhaupt verkaufen? So wie das Ding auf dem Foto ausschaut, Goldgrube. Unverbaubarer Meeresblick, gibt es doch heute kaum noch. Naja, vielleicht Spielschulden…
Das nächste Geschäft ist eine Bäckerei, vor der drei weiße Bistrotische warten. Bruno betritt den kleinen Laden und bestellt bei einer älteren Verkäuferin einen Kaffee. Er nimmt die Tasse mit nach draußen und stellt sich an den Tisch, der aufgrund der Windrichtung seiner Meinung nach rauchfreie Zone bleiben müsste, falls denn Raucher kämen. Der Kaffee ist richtig heiß und Bruno hat Zeit, die vorbeischlendernden Menschen zu beobachten. Ein Ehepaar, ob nun Ehe ist natürlich unklar, sagt man halt so, also dieses Paar steuert auf einen der anderen zwei Tische zu. Die Frau trägt eine kleine Hochglanztüte mit genau dem Label, dessen Uhren Bruno gerade bewundert hat. Der Mann geht in die Bäckerei und kommt nach zwei Minuten mit einem kleinen Tablett wieder heraus, zwei Tassen Kaffee und zwei Gläser Sekt oder Prosecco, Champagner eher unwahrscheinlich. Eine Bäckerei ist schließlich keine Tankstelle. Noch bevor das Paar den ersten Schluck nimmt, pflanzen sich beide eine Zigarette zwischen die Lippen, der Mann eine weiße, die Frau eine dunkelbraune. Brunos Klischeevorstellungen werden wieder einmal voll erfüllt, und zur Krönung wird entgegen allen windtechnischen Vorausberechnungen gleich die erste stinkende Qualmwolke in seine Richtung getrieben. Kaffee stehen lassen und schnellstens weiter, für Bruno grenzt das fast an Jogging, was er da betreibt. Nach rund fünfzig Metern ist er den ekligen Geruch endlich wieder los. Er findet sich vor einem Blumenladen wieder und freut sich über diesen Wink des Zufalls. Blumen für die Dame, das kommt immer gut an.
Bruno hat das Blumenpapier vom Strauß entfernt und kommt plötzlich in Zweifel, ob der nicht etwas zu opulent geraten ist, schließlich ist Monika nicht seine Frau, sondern die seines Cousins. Aber zu spät, jetzt hat er schon geläutet und sieht durch die geriffelte Glasscheibe jemanden zur Tür kommen.
"Hallo Bruno, du bist ja überpünktlich. Komm rein, sind die für mich?"
"Grüß dich, Monika, ja natürlich. Ich hoffe, du hast eine entsprechend große Vase. Die Blumenverkäuferin dachte wohl, ich wollte den Strauß für meine Frau oder meine Mutter."
"Wie soll ich das denn verstehen? Komm erst mal rein, Micha ist in der Küche."
Monika Maas hat ihm den Blumenstrauß abgenommen und geht voraus ins Wohnzimmer. Er folgt ihrem Duft, so würde er den Weg auch ganz sicher mit geschlossenen Augen finden. Das graue Kostüm mit der schneeweißen Bluse ist ihr auf den Leib geschneidert, keine Problemfigur, mehr so Idealfigur. Naja und der Gang sowieso, Ergebnis jahrelanger Routine als Stewardess, Flugbegleiterin würde man heute wohl sagen. In einem Flugzeug haben sie sich auch kennengelernt, Monika und Michael. Soweit Bruno weiß, gehört das Haus ihr, Micha hat quasi eingeheiratet. Wie das Verhältnis der beiden ist, kann Bruno nur ahnen. Fakt ist, sie ist zwölf Jahre jünger als ihr Mann. Bruno empfindet ihre Nähe als, sagen wir mal, spannend. Einerseits strahlt sie eine Erotik aus, die Brunos Sensorik auch ohne elektrischen Strom zum Glühen bringt, andererseits gibt sie sich beherrscht, fast kühl, so dass sich eine gewisse Distanz aufbaut, schön Abstand halten. Hinzu kommt natürlich, dass sie vergeben ist, und nicht an irgendwen. Innerhalb der Familie tut man sowas nicht, das war schon immer Brunos Leitbild. In der Beziehung orientiert er sich an der Mafia. Aber Anschauen ist erlaubt, und im Moment fragt er sich nicht, ob er immer und bei jeder Gelegenheit diese Spannung ertragen wird. Aus Holz ist er jedenfalls nicht.
"Möchtest du einen Drink? Vielleicht einen Martini?"
Martini und danach Sauerfleisch mit Bratkartoffeln?
"Nein Danke, nicht vor dem Essen."
"Ach ja, ihr esst ja gleich dieses eklig saure Glibberzeug. Da passt Martini wohl auch nicht so gut."
"Isst du denn nicht mit?"
"Um diese Zeit? Um Gottes willen! Außerdem Schweinefleisch sowieso nicht. Ich gehe nachher zu einer Freundin, die kocht vegetarisch. Sollte Michael auch mal versuchen, bei seinen Blutwerten."
Bruno spürt ihren Blick auf seinem Bauch, brennt richtig. Er lässt sich aber nichts anmerken. Solcherlei Angriffe hat er schon des Öfteren erfolgreich abgewehrt.
"Naja, wenn man das nicht jeden Tag isst. Also ich achte darauf, dass mein Speiseplan möglichst abwechslungsreich ist und das mit den Blutwerten, ich weiß nicht, er macht doch einen fitten Eindruck."
Monika hat auf einem Sessel am Fenster Platz genommen und ihre Beine gekonnt in Position gestellt, quasi Damenstrumpfreklame mit eingebauter Hypnose. Für Bruno sitzt sie genau im Gegenlicht, dadurch kann er nur ihre Silhouette genau erkennen, keine Details, vielleicht ganz gut so. Er hat sich ohnehin vorgenommen, nicht mehr so schnell und unkontrolliert auf weibliche Reize zu reagieren. Das ist ja auch in seinem Alter ganz einfach, Schalter umlegen und schon…
Meine Fresse, die hat ja echt Verwirrungspotential. Bruno, du musst jetzt ganz stark bleiben, konzentrier dich auf den Bratkartoffelgeruch. Und denke an Karla. Die denkt bestimmt auch an dich…
"Oh Gott, dieser Essensgeruch. Ich glaube, ich werde mal lüften."
Sie erhebt sich geschmeidig und beugt sich so weit nach vorne, dass sie den Terrassentürgriff erreicht. So kommt ihre Silhouette auch nicht schlecht zur Geltung. Kaum ist die Tür ein Spalt offen, weht eine kräftige Böe ins Zimmer, die die Küchentür mit gehörigem Knall zufliegen lässt.
"Mein Gott, er hat bestimmt das Küchenfenster offen gehabt."
Na, mit Gott hat sie es aber. Kommt bestimmt daher, dass sie ihr halbes Leben am Himmel verbracht hat.
Genauso hektisch, wie die Tür zugeknallt ist, wird sie von Michael wieder aufgerissen. Er ist ganz schön aufgebracht, wirkt aber ziemlich albern in dieser Schürze mit dem aufgedruckten Körper eines Bodybuilders.
"Mensch, habe ich mich erschrocken! Bei dem Wind kannst du doch nicht die Terrassentür aufmachen. Das weißt du doch."
"Ist ja nichts passiert, Tarzan. Es roch so unangenehm und da habe ich…"
"Jaja, ich weiß, alles, was zu einem normalen Leben gehört, ist dir zuwider, besonders Gerüche und Geräusche. Wenn man Kartoffeln in der Pfanne brät, riecht es eben eine Zeit lang nach Bratkartoffeln. Die meisten Menschen riechen das gerne, bekommen Appetit, nur meine Frau nicht. Wenn es nach der ginge, bräuchten wir gar keinen Herd, keinen Backofen, dann würden wir uns nur von grünen Blättern und knochenharten Müslikeksen ernähren."
Michael hat versucht, die letzten Worte mit einem satirischen Unterton zu entspannen, sozusagen Deeskalation, aber zu spät. Der Feind in seinem Leben hat schon das Visier heruntergeklappt. Monikas blasses Gesicht mit den dunkelrot geschminkten Lippen ist zu einem Gemälde erstarrt. Die dunklen Augen wirken plötzlich leblos kalt und aus einer makellosen Schönheit ist plötzlich das Antlitz einer Hexe geworden. Immer noch wunderschön aber von einer Art, vor der man sich hüten sollte, besonders Mann.
"Ach Kinder, streitet euch nicht. Ist ja nix passiert. Und wenn deine Frau kein Sauerfleisch mit Bratkartoffeln mag, bleibt umso mehr für uns."
Na, da ist jetzt Bruno aber eine diplomatische Meisterleistung gelungen, fast Rohrkrepierer, um nicht zu sagen, der Schuss geht nach hinten los.
"Passt mal auf, ihr beiden Helden. Haut euch mal so richtig die Wampe voll mit Fleisch und Fett. Ihr könnt es ja gebrauchen, so wie ihr gebaut seid. Aber ohne mich, ich werde diesen stinkenden Ort jetzt verlassen und mich niveauvolleren Aktivitäten widmen, vor allen Dingen niveauvoller essen."
Monika hat sich gar nicht erst wieder hingesetzt und schreitet, nein, schwebt mit erhobenem Haupt durch das Wohnzimmer in den Korridor, alles ohne Besen!
"Sehen wir uns nachher beim Osterfeuer?"
Bruno versucht immer noch die Wogen zu glätten.
"Osterfeuer? Klar, Bruno, ist doch meine Lieblingsveranstaltung. Da gibt es fettige und verbrannte Grillwurst und jede Menge netter Menschen, die spätestens nach einer Stunde alle besoffen sind. Da findet ihr mich garantiert! Ich mag es auch, wenn meine Sachen danach alle weggeworfen werden müssen, weil sie nach Qualm und Verbrennung stinken."
Die beiden Männer schauen ihr schweigend zu, wie sie sich ihren schwarzen Daunenmantel überzieht, einen bunten Schal kunstvoll um den Hals wickelt und nach einem kurzen Blick in den Spiegel mit beiden Händen durch ihr lockiges schwarzes Haar fährt. Dann noch der Griff zur Handtasche, zum Schlüsselbund, und hast du nicht gesehen, ist sie weg.
"War da eben was?"
"Ach komm, Bruno, die fängt sich schon wieder. Wir lassen uns doch nicht den Tag versauen. Wollen wir gleich in der Küche essen?"
Das Essen ist für Bruno keine große Offenbarung, das Sauerfleisch nach seinem Empfinden nicht sauer genug und die Bratkartoffeln hätten etwas mehr Salz und dafür weniger Fett gebraucht. Vielleicht ist das aber auch die Nachwirkung von Monika und ihrem Auftritt, da vergeht einem schon mal der Appetit.
"Monika, ihm schmeckt 's nicht. Hat es meine liebe Frau also geschafft. Tja, Bruno, das ist aus unserer Beziehung geworden, nur noch Genörgel und Kritik, an allem was ich mache. Sei bloß froh, dass du ledig bist."
"Kann man so oder so sehen. Zum Glück sind ja nicht alle Frauen so anstrengend. Ihr wart doch aber mal ein glückliches Paar, oder nicht?"
"Ja, eine Zeitlang schon, solange ich noch im Schuldienst aktiv war, aber jetzt, wo ich pensioniert bin. Vielleicht sieht man sich einfach zu oft. Früher war sie ja auch immer unterwegs. Ich weiß nicht woran es liegt."
"Vielleicht am Alter? Ich habe ja auch immer dieses Problem, dass meine Beziehungen, wenn man sie überhaupt so nennen will, unter dem Altersunterschied leiden. Nach meiner Erfahrung wollen Frauen Männer immer ganz, besonders, wenn sie selber nicht mehr ganz jung sind. Ich kann das aber nicht liefern, verstehst du? Dazu habe ich zu viel Eigenbedarf an Leben und unsere Zeit ist begrenzt. Je älter man wird, umso begrenzter. Da freut es einen zwar, dass man schon so alt geworden ist, weiß aber gleichzeitig, dass das unausweichliche Ende immer näher kommt, und irgendwann befindest du dich im Fenster der statistischen Streuung der durchschnittlichen Lebenserwartung."
"Es sprach Dipl.-Ing. Bruno Hallstein. Soweit ich weiß gibt es in der Mathematik der Statistik aber auch das Phänomen der Ausreißer, nach oben oder unten. Nach unten geht ja kaum noch… Sag mal, wollen wir ein Bierchen? Wir können im Wintergarten weiterphilosophieren."
Während Michael das schmutzige Geschirr in den Spüler stellt und die Bratpfanne mit weißem Küchentuch sorgfältig auswischt, trägt Bruno zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank in den Wintergarten. So ganz ohne Frau in der Nähe geht es auch ohne Gläser. Bruno setzt sich so, dass er die ab und zu durch die Wolken brechende Sonne im Rücken hat. Der Wind hat sich etwas beruhigt und dem Osterfeuer dürfte wohl nichts mehr im Wege stehen. Zum Glück bringt der Ortswechsel auch einen Themenwechsel mit sich. Fußball zum Beispiel, Fußball geht immer. Dann so alte gemeinsame Erinnerungen, Musik, Kino, erste Zigarette, letzte Zigarette, und dann doch wieder Mädchen.
"Was machst du eigentlich so als Bürgermeister hier in diesem Kaff?"
"Naja, ich bin sozusagen der Vorsitzende der Gemeindevertretung und da ja die Verwaltung von Lütjenbrook an die Kreisstadt übertragen wurde, muss ich unsere Interessen dort vertreten. Das ist manchmal gar nicht so einfach."
"Und wie machst du das? Welche Interessen vertrittst du? Gibt es vorher immer einen Entscheidungsprozess? Die Interessen sind doch sicher gepaart mit persönlichen Interessenkonflikten, kannst mir doch nicht erzählen, dass ihr immer alle am gleichen Strang zieht."
"Naja, da sind natürlich die unterschiedlichen Positionen und Parteien, die einen wollen eine neue Kita, die anderen eine neues Feuerwehrhaus…"
"…und du? Was würdest du bevorzugen?"
"Ich? Ich würde ein neues Hotel direkt am Strand bauen. Dann kommen mehr Gäste, dann nehmen wir mehr Geld ein und können beides haben, 'ne neue Kita und ein neues Feuerwehrhaus."
Die beiden Männer haben sich in ihre warmen Jacken gepackt und schlendern nebeneinander die Promenade hoch Richtung Hunde-Strand. Der Wind ist tatsächlich fast völlig eingeschlafen. Soviel Rücksicht hätte man ihm gar nicht zugetraut. Die Oberfläche der Ostsee kräuselt sich zwar noch etwas aber das ist nur der Trägheit des Wassers geschuldet. Für die Uhrzeit sind doch noch ziemlich viele Menschen unterwegs. Ein großer Teil kommt ihnen entgegen, die werden also nicht am Osterfeuer teilnehmen, ist ja auch nicht jedermanns Sache. Die Dämmerung hat gerade eingesetzt und Bruno und Michael können den Riesenhaufen Holz und Reisig noch gut erkennen, der sich gegen den schwarzblauen, wolkenlosen Himmel abhebt. Viele der Menschen stehen in Gruppen zusammen, unterhalten sich, lachen und widmen sich ihren Getränken. Und interessant, viele schauen schon jetzt gebannt in den Holzhaufen, obwohl von Feuer noch keine Spur. Nur die Kinder scheinen sich für alles Mögliche zu interessieren, nur nicht für den dunklen Holzstapel, der gibt noch nichts her. Also tollen sie schreiend herum, bewerfen sich mit Sand oder spielen Fangen. Die Eltern wissen bestimmt nicht immer, wo sich ihr Nachwuchs gerade herumtreibt und wem sie gerade ein wenig auf den Keks gehen. Bruno kommt mit zwei weißen Styroporbechern zurück, Glühwein.
"Ich glaube, den können wir gut gebrauchen. Auf dein Wohl, Micha."
"Prost, naja, ich habe die Erfahrung gemacht, dass nur die ersten beiden noch helfen. Wenn du erst mal durchgefroren bist, bringt Glühwein auch nichts mehr, im Gegenteil."
Hier und da nimmt Bruno wahr, dass sein Cousin von Umherstehenden gegrüßt wird, mal ein einfaches Nicken, mal das Erheben einer Hand. Micha grüßt jedes Mal artig zurück und ist innerlich froh, dass er Bruno an seiner Seite hat, sonst müsste er vielleicht doch öfter auf die Nicker und Handheber zugehen, wenigstens ein paar unverfängliche Worte wechseln. Irgendwie kommt jetzt Bewegung in die Sache. Von den mindestens fünf Feuerwehrleuten, die wohl zur Sicherheit abgestellt sind, gehen zwei auf den Holzstapel zu. Bruno kann nicht genau erkennen, was sie dort tun, dazu ist es schon zu dunkel, aber jetzt, die plötzlich einsetzende Helligkeit erklärt alles. Von zwei Seiten lodern gelbliche, rötliche und bläuliche Flammen empor und augenblicklich setzt das markante Knistern ein, das ein offenes Feuer so mystisch, so faszinierend macht. Es dauert nur Minuten und der ganze Haufen brennt lichterloh. Die umstehenden Menschen werden in ein flackerndes Licht getaucht und haben den Abstand zum Feuer vergrößert, ist doch ganz schön heiß. Durch den Fraß des Feuers entstehen immer wieder Hohlräume, die den Haufen langsam aber unaufhaltsam in sich zusammenbrechen lassen. Die Feuerwehrleute schieben mit langen Rechen die fliehenden Holzstücke in den Herd des Feuers zurück, alles soll verbrennen, sozusagen genau das Gegenteil von dem, was die Feuerwehr sonst so zu tun hat, wenn es brennt. Bruno hat trotz des erhöhten Abstandes ein ganz heißes Gesicht bekommen, hat das Gefühl, die Augen würden austrocknen.
Vielleicht doch keine so gute Idee, sich nach dem Tod verbrennen zu lassen… Wer weiß, ob man nicht doch irgendwo einen Schmerz verspürt und dann? Dann ist es zu spät! Schönes Thema.
Unwillkürlich tritt er noch einen Schritt zurück und wendet den Blick etwas vom Feuer ab, schaut nach links und rechts in die Runde. Vielleicht entdeckt er ja einen Bekannten oder eine Bekannte, wäre noch besser. Viel kann er nicht erkennen und von denen, die in der ersten Reihe stehen, kennt er keinen. Monika scheint jedenfalls nicht da zu sein, die hätte er erkannt, selbst im Dunkeln. Schließlich hat er heute Mittag ihre Silhouette gescannt und gespeichert.
"So, Bruno, einen nehmen wir noch. Vorne bin ich schön warm aber die Rückseite…"
Micha steht mit zwei weiteren Bechern Glühwein vor Bruno. Der greift gerne zu und registriert schon mit der Nase, dass der aufsteigende Dampf strenge Rumaromen verbreitet.
"Oha, das hatte ich vorhin ganz vergessen. Ihr trinkt den ja hier immer mit Schuss. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen."
"Naja, hast es ja jetzt gelernt. So ganz ohne ist mir der Punsch meist zu labberig und zu süß."
Bruno ist erstaunt, wie schnell der doch meterhohe Haufen zusammengeschmolzen ist. Selbst die dickeren Stämme sind jetzt fast alle durchgeglüht und die Flammen haben sich zurückgezogen, haben ihr Hauptwerk vollbracht, lodern nur hier und da nochmals auf, als würden sie zeigen wollen, dass sie alles unter Kontrolle haben, kein Stück Brennbares würde ihnen entkommen. Ab und zu begehren einige Funken hektisch auf, versuchen Richtung Himmel zu entkommen, als sei es ihnen selber zu heiß geworden, verlieren sich aber ganz schnell in seinem Dunkel. Der Kreis der Menschen hat sich wieder etwas enger geschlossen und Michael ist Brunos Idee gefolgt, hat sich jetzt mit dem Rücken zum Feuer gestellt.
"Wart mal, bleib mal so stehen, ich mache ein Foto."
Bruno hat sein Smartphone hervorgekramt und macht einige Aufnahmen von seinem Cousin. Micha im Schein des Osterfeuers, von vorne, von hinten, von der Seite, Germanys next Top-Bürgermeister. Da er bei den Aufnahmen konzentriert auf das Display schaut, kann er nicht erkennen, was in diesem Augenblick aus der Dunkelheit heraus im hohen Bogen durch die Luft geflogen kommt. Sieht nicht das dicke Paket, viereckig, könnte ein kleiner Koffer sein. So ein Koffer hat ja nun nicht gerade die Ballistik erfunden, deshalb taumelt er mehr, als dass er fliegt. Da muss einer ganz schön Kraft gehabt haben, um das Ufo in einem derartigen Bogen ins Feuer zu schleudern. Ziemlich schwer muss das Ding auch sein, jedenfalls stieben bei der Landung die rotglühenden Reste des Osterfeuerhaufens wie wild geworden auseinander. Das ist aber nur das Vorspiel, weil Sekunden danach erst das richtige Inferno. Die Detonation ist gewaltig, nicht nur Explosion, eher wie die Eruption eines Vulkans. Das eben noch darniederliegende, vor sich hin glühende Osterfeuer ist zu neuem Leben erwacht, aber nicht wie etwas Zartes, Neugeborenes, nein, brutal, brüllend, riesig. Der Feuerball hat urplötzlich wieder die alte Größe des Holzstapels erreicht, nein größer, viel größer, viel zu groß für die so dicht dabei stehenden Menschen, die noch nicht einmal Zeit bekommen, überrascht zu sein. So muss Hölle sein. Die Holzstücke, die weit genug durchgebrannt und dadurch leicht geworden sind, werden wie Geschosse auf die Menschen geschleudert. Keine Chance auszuweichen, in Deckung zu gehen, zu fliehen. Viel zu schnell ist der Feuersturm und er hat den Tod im Gepäck, deshalb wohl auch der Koffer.