Читать книгу Am Anfang war die Sintflut - Jürgen Herget - Страница 6
1 „Aus Schaden wird man klug“ – oder doch nicht?
ОглавлениеHochwasser gehören zu den häufigsten und folgenreichsten Naturkatastrophen auf der Erde. Sie entstehen in allen Naturräumen zu allen Zeiten. Doch immer wieder bergen sie Überraschungen durch ihre unerwartete Stärke und die verursachten Schäden. Schnell sind Charakteristika wie Jahrhundert- und Jahrtausendhochwasser in aller Munde, doch was weiß man über die Hochwasser der Vergangenheit wirklich? Wie sind Hochwasser wie das der Elbe 2002 (Abb. 1–1) oder in Pakistan 2010 tatsächlich einzuordnen?
Abb. 1–1: Hochwasser der Elbe am 20. August 2002 (NASA Earth Observatory). Die kaum erkennbare Saale veranschaulicht die Ausdehnung des Hochwassers von Elbe und Mulde.
Gab es derartige Hochwasser schon zuvor oder bilden sie ein Novum, sind sie gar Folgen des laufenden Klimawandels? Zur Beantwortung dieser Fragen hilft nur ein Blick in die Vergangenheit. Doch die Aufzeichnungen der Flusspegel decken nur einen begrenzten Zeitraum ab und reichen nur in Ausnahmefällen weiter als hundert Jahre zurück (Deutsch 2010). Für weite Regionen auf der Erde liegen gar keine Messwerte vor, doch auch hier haben Hochwasser ihre Spuren hinterlassen. Dies kann in Form von Aufzeichnungen und Beschreibungen aus historischer Zeit der Fall sein, die in den verschiedenen Kulturkreisen unterschiedlich weit zurückreichen. So überrascht es nicht, dass aus den USA praktisch keine Angaben zu Hochwassern in historischer Zeit vorliegen, denn die indigene Bevölkerung kannte vor Erscheinen der Weißen auf dem Kontinent keine schriftlichen Überlieferungen. Anders sieht es bei den frühen Hochkulturen oder den Regionen aus, von denen eine lange Zeit der Geschichtsschreibung vorliegt. Das Beispiel der historischen Hochwasserstände des Tibers in Rom zeigt jedoch auch, dass über längere Zeiträume hin die Angaben unpräziser werden können. So reicht die Erwähnung von Hochwasserereignissen hier zwar bis ins vierte vorchristliche Jahrhundert zurück, Angaben zu Wasserständen liegen jedoch erst ab dem 12. Jahrhundert n. Chr. vor (Abb. 1–2).
Abb. 1–2: Hochwasser des Tibers in Rom (Daten aus Camuffo & Enzi 1996).
Neben den Überlieferungen aus historischer Zeit können aber auch natürliche Indikatoren in Form von abgelagerten Sedimenten oder Erosionsspuren erhalten geblieben sein und so den Wasserstand von Hochwassern überliefern. Dies ist namentlich für den prähistorischen Zeitraum aber auch aktuell für Regionen ohne dichte Besiedlung von Bedeutung. Schnell ergeben sich daraus weitere Fragen, etwa nach maximalen Hochwassern (Abb. 1–3) oder den ältesten Beobachtungen überhaupt.
Beim Vergleich der Abflüsse verschiedener Hochwasserereignisse aus historischer und prähistorischer Zeit (O’Connor et al. 2002, O’Connor&Costa 2004) wird schnell deutlich, dass die Extremhochwasser in Mitteleuropa, namentlich des Rheins mit Spitzenwerten von 11.000 m3/s, am unteren Ende der Skala rangieren. Offensichtlich wird auch, dass unterschiedliche Hochwasserursachen zu Abflüssen in wesentlich höheren Größenordnungen führen können. Doch wie kommen Abflüsse, die durchaus Dimensionen von 1.000.000 m3/s bzw. 1.000.000.000 1/s überschreiten können, überhaupt zu Stande? Und wie kommen eigentlich die Abschätzungen zu Hochwassern zustande, die kein Mensch direkt beobachtet hat und bereits mehrere Jahrtausende zurückliegen?
An diesen Fragen setzt das vorliegende Buch zur Rekonstruktion von Hochwassern aus historischer und prähistorischer Zeit an. Bei dieser Rekonstruktion stehen zentrale Kenngrößen wie Fließgeschwindigkeit und Abfluss, aber auch die Ursache und auslösenden Prozesse der Hochwasserereignisse im Vordergrund. Dabei werden hier Hochwasser in Fließgewässern behandelt und Sturmfluten in den Meeren nicht thematisiert. Um zu zeigen, dass derartige Überlegungen und Abschätzung kein Kaffeesatzlesen oder inspiratives Wunschdenken sind, wird den Darstellungen zu Hochwassern ein ausführlicher methodenkundlicher Teil vorangestellt. Hier wird im Einzelnen erläutert, wie sich Wasserstände rekonstruieren und Fließgeschwindigkeiten nach verschiedenen Ansätzen abschätzen lassen. Da es hierbei um Quantifizierungen geht, kommt dieser Teil nicht ganz ohne Formeln aus. Dennoch sind die Darstellungen eher ein Überblick, wobei bewusst ausgewählte Literaturhinweise bei Fragen zum hydraulisch-physikalischen Hintergrund oder vertiefenden Detailfragen einen Einstieg zum weiterführenden Selbststudium erleichtern sollen. Den Einstieg in den dokumentarischen Teil eröffnen Ausführungen zu Hochwassern in historischer Zeit. Diese sind regional nach Flusseinzugsgebieten gegliedert und werden durch außereuropäische Beispiele ergänzt. Hier können nur exemplarisch Beispielregionen behandelt werden, doch Infoboxen geben Hinweise auf Schlüsselliteratur zu hier nicht behandelten Einzugsgebieten und Regionen. Zusätzlich werden ausgewählte Einzelereignisse vorgestellt, die in Mitteleuropa überregionale Bedeutung hatten und vielerorts markante Spuren hinterlassen haben, sowie die Frage nach Perioden erhöhter Häufigkeiten von Hochwassern thematisiert. Dieser Abschnitt weist in Teilen Parallelen mit Darstellungen zur Historischen Klimatologie auf, wie sie beispielsweise von Glaser (2008) in seiner „Klimageschichte Mitteleuropas“ oder von Mauelshagen (2010) in der „Klimageschichte der Neuzeit“ behandelt werden. Daher werden die klimatologischen Aspekte hier nicht weiter vertieft, um Wiederholungen zu vermeiden. Nachdem so ein breites Spektrum an Befunden zu Hochwassern vorgelegt wurde, wird abschließend der Abschnitt zur historischen Zeit mit der Rekonstruktion von Fließgeschwindigkeit und Abfluss eines konkreten Hochwassers aus dem ausklingenden Mittelalter in Köln demonstriert. Der Zeitrahmen der vorliegenden Arbeiten zur historischen Klimatologie wird durch Darstellungen durch Hochwasser ergänzt, die sich in prähistorischer Zeit, jedoch nach der letzten Eiszeit im Holozän ereignet haben.
Wie die Übersicht zu Scheitelabflüssen von Hochwassern in der Vergangenheit (Abb. 1–3) veranschaulicht, haben Seeausbrüche eine besondere Bedeutung für Hochwasser großer Magnituden. Da diese Ursache von Hochwassern kaum präsent ist und in der vorliegenden einschlägigen Fachliteratur nur wenig Aufmerksamkeit findet, wird es hier entsprechend thematisiert. Dabei werden nicht nur Beispiele entsprechender Ereignisse vorgestellt, sondern auch der Hintergrund wie Bildung, Dynamik der Seen sowie der verschiedenen Teilprozesse beim Dammversagen von Eisstauseen, Bergsturzbecken oder künstlichen Staumauern erläutert. Zugunsten der Anschaulichkeit wird in diesem Abschnitt der Zeitraum für die Vergangenheit etwas großzügig behandelt und auch Stauseeausbrüche aus jüngerer Zeit thematisiert. Die Seen bilden die Grundlage für ein besseres Verständnis der Großereignisse aus dem Pleistozän, also der letzten Eiszeit. Hier werden Hochwasser behandelt, deren Abflüsse sich mit Meeresströmungen vergleichen lassen, da es sich hier um Größenordnungen von Millionen Kubikmetern handelt. Derartige Superfloods waren in der Lage, ganze Landstriche durch Erosion und Ablagerung umzugestalten, weshalb sie als kataklysmisch (engl. cataclysmic) bezeichnet werden (Baker 1988). Ferner liegen plausible Hinweise vor, dass einige von ihnen Auswirkungen auf das globale Klima hatten. In diesem Zusammenhang werden Beispiele aus Europa, Sibirien und Nordamerika behandelt, denen die höchsten Spitzenabflüsse in der Übersicht in Abb. 1–3 zugeschrieben werden. In der jüngeren Erdgeschichte, die hier bis ins bereits ausklingende Tertiär vor 6 Mio. Jahren betrachtet wird, bildeten sich Landbrücken, die zur Isolation von Meeresbecken wie dem Schwarzen Meer und Mittelmeer führten. Ihre Wiederfüllungen werden mit der mythischen Sintflut in Zusammenhang gebracht bzw. stellen das stärkste auf der Erde noch nachweisbare Hochwasser dar.
Abb. 1–3: Extreme Hochwasser unterschiedlicher Ursache seit dem Höhepunkt der letzten Eiszeit vor 20.000 Jahren (ergänzt nach O’Connor et al. 2002). Man beachte die logarithmische Skalierung der Angaben zum Scheitelabfluss.
Insgesamt will das Buch als Lesebuch Interesse an dem Thema Hochwasser wecken, das gerade aus der geowissenschaftlichen Perspektive vielschichtiger ist, als man gemeinhin meint. Gezielt wurden zahlreiche Abbildungen und Illustrationen in die Darstellungen eingebaut, um eine möglichst gute Anschaulichkeit zu erreichen. Wie zuvor erwähnt, sind ebenfalls zahlreiche ausgewählte Hinweise auf weiterführende Literatur berücksichtigt worden, so dass der Leser aus dem Überblickscharakter des vorliegenden Buches hinaus selbständig vertiefende Informationen leicht finden kann.
Bevor nachfolgend einige grundlegende Begriffe, die zum Verständnis der Ausführungen hilfreich sind, erläutert werden, soll einigen Kollegen und Mitarbeitern für ihre Unterstützung bei der Entstehung des Buches gedankt werden. Thomas Roggenkamp hat zahlreiche Ideen und Entwürfe von Karten und Abbildungen umgesetzt und erfolgreich auch schwierige Fälle der Literaturbeschaffung gemeistert. In diesem Zusammenhang soll auch Anne Klosterhalfen und Thomas Neeten gedankt werden. Zahlreiche Kollegen haben die Arbeiten durch Bereitstellung von Abbildungen, Materialien und Erläuterungen nachhaltig unterstützt. Namentlich seien hier in alphabetischer Reihenfolge Mathias Deutsch, Giles Erkens, Thomas Euler, Daniel Garcia-Castellanos, Maike Gauger, IKHR, Stefan Harnischmacher, Rainer Jüngst, Staatsarchiv Basel-Stadt, Jef Vandenberghe, Oliver Wetter und Mila Zinkova genannt. Für das Interesse an dem Thema und die konstruktive Zusammenarbeit sei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, namentlich den Lektoren Rainer Aschemeier und Jens Seeling gedankt. Aus verschiedenen Forschungsprojekten, die dankenswerterweise von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Volkswagenstiftung finanziell unterstützt worden sind, konnten hier Erfahrungen einfließen.