Читать книгу Mettes Flucht in den Tod - Jürgen Hoops von Scheeßel - Страница 10
Kapitel 1
Die Jahre 1596 - 1623
ОглавлениеEs war ein bitterkalter Winterabend im Januar 1604. Seit Tagen hatte ein eisiger Wind über die geschlossene, kniehohe Schneedecke geweht, dabei bizarre Formen und Wehen um jedes noch so kleine Hindernis geformt. Die Sonne spiegelte sich dabei in der Verschmelzung der Eiskristalle, als lächle sie und habe dazu noch Freude am Treiben der Naturgewalten.
In diesen Tagen ging niemand auch nur einen Schritt nach draußen, wenn er es nicht wirklich musste.
Die Menschen in den umliegenden Dörfern hielten die Türen und Fenster fest verschlossen, ja sie verstopften sogar die Ritzen mit alten Lappen, da sonst die wenige lebensnotwendige Wärme nach draußen entwichen wäre. Türen wurden verrammelt und die geschlossenen Fensterläden ließen kein Licht in die Häuser. Da sich in den Dörfern kaum jemand Fensterglas leisten konnte, waren die Rahmen der kleinen Fensteröffnungen mit Tierhäuten bespannt, die auch an hellen Sommertagen wenig Licht in das Innere der großen Fachwerkhäuser ließen.
Harm Hoops, der Bauer und Familienvater, saß an diesem Abend mit seinen nunmehr 49 Jahren dick eingehüllt im Kreise seiner Familie am Flettfeuer, das die lebensspen-dende Wärme sicherte.
Harm sah seinen Sohn und Nachfolger Joachim dankbar und anerkennend an, denn dieser hatte ohne Anstoß von ihm bereits im Herbst die Löcher und Ritzen des Hauses durch den Großknecht Peter mit Lehm und Stroh zuschmieren lassen. Das Werk war zwar gut geraten, trotzdem bibberten sie alle im Hause fürchterlich vor Kälte und ihre Gesichter waren von dieser eisigen Frische gerötet. Die Bärte und Augenbrauen waren trotz Feuer und dicker Winterkleidung mit Eiskristallen überzogen, denn die Temperaturen lagen gleichwohl unter dem Gefrierpunkt.
Die Körperwärme der Menschen und der Tiere, die ja nicht nur in einem Haus, sondern auch in einem Raum lebten sowie das kleine offene Feuer waren die einzigen Wärmequellen in den ungedämmten Häusern jener Zeit.
Neben Harm und seiner Frau Adelheid saßen der ihnen als einziger gebliebene und inzwischen zwanzig Winter alte Sohn Joachim, der betagte Großknecht Peter und die 13-jährige Jungmagd Abelke. Sie saßen auf groben Holzbänken, die um das kleine Feuer gestellt waren, welches in diesen Tagen nicht ausgehen durfte.
Lediglich Harm und seine Frau saßen auf Stühlen, deren Sitzflächen mit einem Geflecht aus Weidenrinde versehen waren.
Das Brennholz, um die Feuerstelle auf diesem Hof auch über einen langen Winder zu versorgen, war vorhanden. Andere hatten keine so üppigen Holzvorräte und ertragreichen Höfe vorzuweisen wie Harm in Höperhöfen.
Sie heizten überwiegend mit Torf, Heide oder auch gar nicht mehr, weil nichts mehr zum Verbrennen vorrätig war. Der diesmal schon sehr früh hereingebrochene und lang andauernde, ungewohnt kalte Winter hatte bei manchem alles Brennbare aufgezehrt. Selbst Möbel, so berichtete man, hätten einige bereits der Not geopfert.
Dass es Harms Familie besser ging, schürte nicht nur Neid, es brachte auch Hass hervor, denn nicht Wenige waren in ihren Häusern bereits verhungert oder gar erfroren.
Harm hatte noch zwei weitere Jungknechte. Diese waren von Harm zur Wintersonnenwende zu ihren Familien entlassen worden und würden in wenigen Tagen zurückkehren.
Der heutige Abend aber war für die Familie auch ein besonders trauriger Tag.
Harms jüngster Sohn Warneke wäre heute 18 Jahre alt geworden, wenn er noch leben würde. Ihnen war nur Joachim geblieben. Die anderen Kinder von Harm und Adelheid waren schon früh an Masern oder Schürken verstorben. Adelheid war eine der wenigen Frauen im Kirchspiel Sottrum, die als Hebamme tätig war. Doch auch sie blieb von Schicksalsschlägen nicht verschont.
Abelke, die Jungmagd, wusste zwar aus Erzählungen durch den Großknecht, dass der jüngere Bruder von Joachim tot war, aber nicht warum.
Sie war nun schon beinahe seit einem Jahr auf dem Hof und es gefiel ihr hier, auch wenn die Arbeit schwer und die Tage lang waren. Sie hatte sich entschlossen, auch Hebamme zu werden und es bei der Bäuerin zu lernen.
So fragte sie Adelheid und sah sie dabei erwartungsvoll, zugleich aber auch zurückhaltend an.
„Was ist mit Joachims Bruder geschehen und wie ist er gestorben?“, wollte sie wissen.
Harm und Adelheid sahen sich an und Harm nickte nach einer Weile zustimmend. Adelheids Lippen wurden sehr schmal und ihre Augen schlossen sich, als ginge sie in sich. Harm spuckte seinen Priem hinter sich auf den Boden, sah nachdenklich in die Runde und begann in einem ruhigen, aber schwermütigen Ton zu erzählen.
„Heute wäre unser Warneke 18 Jahre alt geworden. Du weißt sicherlich, dass meine Frau als Bademutter überall gebraucht wird. Diese wichtige Aufgabe ist bei vielen aber leider mit einem Makel behaftet. Diese Vorurteile waren mir schon als junger Mann bekannt und die Reformation mit der Einführung hier bei uns in der Gegend, da war ich 15 Jahre alt, hat daran nichts verändert. Dennoch habe ich meine Adelheid geheiratet“.
Dabei zwinkerte er ihr liebevoll mit den Augen zu und seine Mundwinkel formten sich zu einem Lächeln.
Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück, stopfte in aller Ruhe seine Pfeife und zündete sie mit einem Kienspan an, den er im offenen Flettfeuer entflammte. Er zog zwei, dreimal genüsslich an der Pfeife. Der blaue Rauch seiner „Piep“, wie er sie nannte, fiel im Flett des Hauses nicht mehr auf und auch nicht zur Last, denn das offene Feuer verbreitete schon genug Rauch, weswegen man die Häuser ja auch Rauchhäuser nannte.
Dann schaute Harm zu den über ihnen an der Decke im Rauch hängenden Vorräten an Würsten und Schinken, zog noch einmal freudig an der Pfeife und blies den Dunst langsam nach oben aus, als wollte er einen der Schinken mit seinem Pfeifenrauch umarmen. Die anderen um ihn herum wurden langsam ungeduldig, was Harm sichtlich und in seiner Ruhe genoss. Dann drehte er seinen Kopf und sah Abelke an, die während der ganzen Zeit still das Geschehen aufmerksam verfolgte und dem Rauch gebannt, aber auch nachdenklich nachgeschaut hatte.
Adelheid begann nun zu erzählen, da Harm offensichtlich mit seiner Zeremonie fertig war.
„Kind, du weißt ja auch, dass Hebammen viele Leiden lindern können und dazu den einen oder anderen Umschlag bereiten müssen und Sude kochen.“
„Ja, das weiß ich. Dabei habe ich auch schon mithelfen dürfen“, räumte sie mit Stolz in ihrer Stimme für alle hörbar ein und lächelte, trotz der eisigen Temperaturen auch noch dabei.
„Na, dann weißt du ja auch, dass es mit Zauberkunst und Hexerei nichts, aber auch gar nichts zu tun hat“, warf Harm in seiner väterlichen Art ein.
„Meine selige Mutter war auch Bademutter und hat Mittel hergestellt, um meinen Geschwistern und mir, wenn wir krank waren oder uns wehgetan hatten, zu heilen. Sie hat um die Kräuter und deren Heilkraft sehr gut Bescheid gewusst. Sie lebt leider nicht mehr“, seufzte Abelke und die Augen wurden ihr ein wenig feucht.
„Sie haben sie im letzten Jahr als Hexe in Ottersberg verbrannt und keiner konnte ihr helfen. Sie war keine Hexe und mein Vater hat ihr auch nicht helfen können“, fuhr sie fort und ihre feuchten Augen konnten die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Adelheid beugte sich zu ihr, strich ihr über das Haar und sprach: „Deine selige Mutter war eine ganz liebe und hilfsbereite Frau, die durch Verleumdung, Hass, Neid und Missgunst zu Unrecht auf den Scheiterhaufen gebracht wurde.
Ich kannte sie gut und du bist wie eine Tochter für mich. Leider sind meine eigenen beiden kleinen Mädchen schon im Himmel“, fügte sie wehmütig an.
Die Stimmung im Raum war getrübt und alle saßen nachdenklich in der kleinen Runde.
Dann sah Adelheid ihren Harm an und sagte: „Lass mich in Ruhe weitererzählen, dann geht es mir besser. Du hast sehr gut gesprochen“, lobte sie ihren Mann, der ihr dafür ein Lächeln, ja, fast ein Strahlen schenkte.
„Ich erzähle gerne weiter, ich kann mir dabei vieles von der Seele reden“, stellte sie mehr fest, als dass sie ihn fragte.
Harm pflichtete ihr bei, indem er seine Augen zustimmend verschloss und mit dem Haupt ein wenig nickte.
„Mein Junge hat sich am 15. Juni vor nunmehr fünfeinhalb Jahren das Leben genommen und dabei war er erst 12 Jahre alt. Er hat sich da hinten in der Scheune aufgehängt, weil er die Hänselei und das üble Geschrei „Hexenjunge“ und „Hexenbrut“ nicht mehr ertragen hat und wir ihm nicht die Kraft geben konnten, diese schweren Zeiten durchzustehen. Er war immer ein ganz Stiller und hat miterlebt, wie man mich, so wie deine Mutter auch, der Zauberei beschuldigte. Das war vor bald acht Jahren, zwei Jahre, bevor unser Warneke sich das Leben nahm.“
Adelheid machte eine längere Redepause, die der Knecht Peter nutzte, ein wenig Holz in die kärgliche Glut nachzuschieben. Im Sternfeuer verbrannte das Holz langsamer, hielt die Glut lange, aber die Scheite mussten immer zur Mitte hin nachgeschoben werden.
Jeder saß ganz nah dran, ansonsten wäre von der Wärme nichts zu spüren gewesen. Doch musste höllisch aufgepasst werden, um sich dabei nicht selbst zu entzünden, denn Brandwunden heilten im Winter besonders schlecht.
Peter, der schon unter Harms Vater Warneke gedient hatte, erhob sich zwischendurch, um noch ein wenig Holz zu holen und dabei auch einmal nach dem Vieh zu schauen.
Der Bauer besaß zwei Pferde, einen Ochsen, sechs Kühe und zwanzig Schafe, wobei die Letzteren wegen des nicht auszuhaltenden Gestanks üblicherweise in einem Nebengebäude, dem Schafstall, untergebracht waren. Deswegen musste Peter ab und an doch das Haus verlassen. Er fror dabei jedes Mal trotz Winterbekleidung sehr und wollte sich durch die Bewegung ein wenig aufwärmen.
Die Immen machten im Winter keine Arbeit. Sie durften in ihren Stöcken nur nicht erfrieren. Selbst die sonst immer laut gackernden Hühner saßen heute ruhig und verdächtig still in ihrem Verschlag, ganz eng aneinander gedrängt, um sich gegenseitig zu wärmen. Da war wohl zum üblichen, unrastigen Verhalten kein Antrieb mehr vorhanden.
Während Peter, dick eingepackt, durch die winterliche Eiseskälte vom Haus zum Stall durch den verharschten Schnee stampfte, sah er im Mondschein über die Felder und zu den Nachbarhäusern, die von der winterlichen Starre und vom Wetter ebenso gefangen schienen.
Adelheid fuhr aus ihren Gedanken hoch und mit ihrer Erzählung fort.
„Ich stamme aus Bötersen und bin eine geborene Stavenhitter. Wir wohnten neben Döhrnemanns Hofstelle. Als junges Mädchen hatte der Nachbarjunge ein Auge auf mich geworfen, aber ich wollte ihn nicht und bin meinen Eltern heute noch dankbar, dass sie mich Harm haben heiraten lassen.“
Sie nestelte ein wenig an ihrer Kleidung herum und zog das Kopftuch fester, damit ihr die Ohren nicht erfroren.
„Er nahm es mir so übel, dass ich seinem Werben nicht nachgegeben hatte, dass er mich beschimpfte und als Hure bezeichnete. Dafür hat ihm der Vogt eine saftige Geldbuße von zwei Talern auferlegt, aber das hat seinen Eifer noch mehr angestachelt. Selbst nachdem er verheiratet war und eigene Kinder hatte, nahmen seine Feindseligkeiten kein Ende. Harm und ich sind nun schon 20 Jahre Mann und Frau, aber das wollte er nicht akzeptieren. Mir tat seine Frau leid, die diese Eifersüchteleien und Beschimpfungen, aber auch das Gerede mitbekommen hat. Gott habe sie selig“, sagte Adelheid und schluckte dabei bedrückt.
„Es war vor ungefähr neun Jahren. Da war ich zu Besuch bei meinen Eltern. Ich war damals die einzige Bademutter im Kirchspiel, denn die alte Jette, bei der ich gelernt hatte, war zu klapprig geworden, um weiter als Hebamme arbeiten zu können. Dann schlug das Schicksal zu. Harm Döhrnemanns Frau Beke war soweit. Der Tag ihrer Niederkunft war gekommen und es gab Probleme, denn das Kind hatte sich nicht gedreht und die Nachbarinnen waren verzweifelt, weil sie nicht helfen konnten. Beke drohte mit dem Ungeborenen zusammen einen erbärmlichen Tod zu erleiden. Ich habe das schon mehrmals erlebt und es ist jedes Mal wieder grausam. Nur Gott weiß, warum.“
Peter war inzwischen zurückgekehrt und hatte sich wieder dazu gesetzt.
„Gegen den Willen von Harm Döhrnemann ließ Beke mich rufen, ihr zu helfen. Es war ein schwerer Gang in das Haus des Mannes zu gehen, der alles erdenklich Schlechte und jede Beleidigung, die man sich nur vorstellen kann, über mich erzählt hatte. Aber ich musste der Frau und dem ungeborenen Kind helfen. So ging ich mit und meine alte Mutter begleitete mich, denn mir war bang ums Herz“, beendete sie den Satz mit einem tiefen Seufzer und kniff die Lippen schmal zusammen.
„Dort angekommen, versicherte mir die Magd, dass der Bauer nicht im Hause sei“, fuhr sie fort.
„Als ich an Bekes Bett trat, blieb mir fast das Herz stehen, denn die Frauen hatte mich viel zu spät geholt. Beke litt bereits an einer schweren Vergiftung, denn das Kind war schon tot. Ihr Mann hatte sich zu lange geweigert, viel zu lange, als dass ich beiden das Leben hätte noch retten können. Ich holte das tote Kind mit einigen Mühen aus der sterbenskranken Mutter. Dann blieb ich drei Tage und drei Nächte bei ihr am Bett, kochte einen Sud nach dem anderen und der Herrgott hatte mit der Frau ein Erbarmen und ließ sie leben. Kinder konnte sie danach aber nicht mehr bekommen.“
Abelke hörte gespannt zu, denn sie musste Adelheid auch einmal bei einem solch tragischen Geschehen zur Hand gehen, wobei die Mutter und das ungeborene Kind einen qualvollen Tod starben. Sie hatte sich damals mehrmals übergeben müssen, aber auch viel dabei gelernt. Adelheid erinnerte Abelke während des Erzählens an ihre selige Mutter, die ihr sehr fehlte.
Als Harms Frau mit der Geschichte fortfuhr, wurde Abelke wieder aus ihren Gedanken gerissen.
„Für den Tod des Kindes und der Tatsache, dass seine Frau niemals mehr Kindern das Leben würde schenken können, machte mich dieser Mann, der die alleinige Schuld daran trug, verantwortlich. Dass er damit von seinen Fehlern ablenken wollte, entschuldigt nichts. Er zeigte mich beim Amtmann an, eine Zauberin und Hexe zu sein, die Schuld am Tod des Kindes und allerlei anderer Miss-geschehen und Unglücke sei, die er selbst zu verantworten hatte, aber nun einen Sündenbock in mir gefunden zu haben glaubte. Mit meinem Tod als Hexe auf dem Scheiterhaufen wollte er sich an mir, aber auch an Harm rächen, der ihm in seinen Augen, die Frau, seine Frau weggenommen hatte.“
Sie schaute Abelke prüfend an, ob sie den Rest der Geschichte auch noch verkraften würde, denn der Prozess gegen ihre Mutter hatte ein halbes Jahr gedauert und sie hatten sie bei lebendigem Leib im Nachbaramt Ottersberg verbrannt. Die Schreie der Sterbenden hatte Adelheid nicht aus den Ohren bekommen und Abelke musste als Kind mit ansehen, wie man die Mutter in den Flammen förmlich geröstet hatte. Danach nahm sie das Mädchen in ihre Obhut, schließlich waren sie über viele Ecken miteinander verwandt. Sicherlich, sie war auch mit Döhrnemanns verwandt, aber das hatte alles nichts geholfen, es eher noch verschlimmert. Adelheid war in ihre Gedanken versunken und bemerkte gar nicht, dass die anderen auf die Fortsetzung der Erzählung warteten, bis Harm seine Hand sanft auf die ihre legte und sie mit einem Stirnrunzeln erwartungs- und liebevoll anschaute.
„Entschuldigung“, sagte Adelheid leise und fuhr fort.
„Harm Döhrnemann hatte nicht nur mich beschuldigt, sondern auch noch meine Familie in Bötersen und in Höperhöfen als „Zaubersche“ und „Hexen“ beschimpft. Hinzu kam sicherlich noch, dass er seinen Hof nicht so ertragreich wie mein Harm bewirtschaftete und dem Brandwein sehr zugetan war. Ich wurde verhaftet und mehrmals verhört, wie auch meine ganze Verwandtschaft. Da Döhrnemann aber keinen Beweis für seine Anschuldigungen vorlegen konnte, die Nachbarin, die mich zur Geburtshilfe in sein Haus geholt hatte, unter Eid aussagte, was wahr war, wurde er vor vier Jahren, nach vier ganzen Jahren Prozessdauer, des Landes verwiesen.
Diese Anschuldigungen und Anfeindungen hat unser Warneke nicht verkraftet, dazu kam, dass er in einem Alter war, ein Mann zu werden. Die schiere Verzweiflung trieb ihn zu diesem Selbstmord. Er hatte wenigstens einen schnellen Tod, da er sich das Genick dabei brach. Mein ist die Rache, sprach der Herr, predigt unser Schwattkittel immer von der Kanzel und da hatte er recht behalten.“
„Wieso?“, fragte Abelke erstaunt dreinblickend.
Harm übernahm nun die Fortsetzung der Geschichte, denn er bemerkte, dass das Erzählen seiner Adelheid immer schwerer fiel und sie den Tränen näher war als alle zusam-men dem Sommer.
„Nach vier Jahren Prozess, vielen Vernehmungen und Prozesstagen, wurde dieser gemeine Denunziant verdientermaßen des Landes verwiesen. Sie haben ihn damals an die Grenze zum Amt Rethem geführt. Er musste die „Urfehde“ schwören und versprechen, nie wieder ins Amt Rotenburg zurückzukehren“, sagte Harm und zog ein wenig an seiner Pfeife, als genösse er diesen Moment besonders. Nachdem er den Rauch ebenso genüsslich ausgehaucht hatte, fuhr er fort.
„Einige Tage später hörte ich in der Rotenburger Mühle, dass er bei Kirchwalsede tot am Ast eines Baumes baumelnd aufgefunden wurde und sich selbst gerichtet haben soll. Wie Adelheid schon sagte, der Herr lässt Gerechtigkeit walten.“
Abelke wollte etwas fragen, weil es spannend war und es ihr zu viele Erzählpausen gab, aber der strafende Blick von Harm hielt sie davon ab.
„Bei einem Krug Bier erzählte unser damaliger Amtsvogt, wie es sich seiner Meinung nach abgespielt haben könnte, denn so, wie er ihn vorgefunden hatte, muss der Teufel seine Hände im Spiel gehabt haben. Er hing mit seinem Hals in einer Seilschlinge, oder was von ihm noch übrig war, an einem dicken Ast. Da muss er wohl hinaufgeklettert sein und sich dann fallen gelassen haben.
Der Vogt beschrieb in allen Einzelheiten, wie so ein Genick brechen kann, wenn man es nur richtig macht. Ich hätte mir gewünscht, er wäre jämmerlich röchelnd an Luftnot erstickt, wie der Dieb im letzten Jahr, bei dem der Henker keine gute Arbeit ablieferte.“
Da hielt Harm mit dem Erzählen inne, denn er hatte nicht bedacht, dass Abelkes Mutter kurz danach auf dem Scheiterhaufen starb und das Mädchen ein wenig blass um die Nase geworden war.
Adelheid hatte die Situation sofort erfasst, lächelte das Mädchen an und sagte mit liebevoller Stimme: „Ich glaube, ich erzähle doch weiter“, und tat es auch.
„Mir tat zwar Beke, also Döhrnemanns Witwe, leid, aber ich hätte ihm auch ein langes und sehr qualvolles Ende gewünscht, schließlich hat er meinen Jungen in den Tod getrieben. Dass Beke sich darauf in den Hausbrunnen zu Tode stürzte, traf mich schon. Eigentlich taten mir nur die Kinder leid“, fügte sie leise an.
„Seit dem hat Cordt, der Hinkefuß, Harms jüngerer Bruder, dessen Rolle, mich schlecht zu machen, übernommen. Er verbreitet überall Gerüchte und führt üble Reden über mich. Er hatte auch behauptet, der Teufel, mit dem ich angeblich im Bunde stünde, hätte sich an seinem Bruder in meinem Namen gerächt.
Damit will ich es nun für heute gut sein lassen und du weißt jetzt, was geschehen ist. Sein Selbstmord hat erneut bewiesen, dass ich unschuldig bin.“
Abelke nickte und war froh, dass die Geschichte nicht von Harm weiter erzählt wurde, denn er erzählte Geschichten immer so lebhaft und voller Spannung, dass es ihr dann immer ganz flau im Magen war. Abelke stellte es sich sehr bildhaft vor und es grauste ihr dabei. Zugleich aber verspürte sie das Verlangen, die Geschichte bis zum Ende zu hören.
Sie konnte nachts nicht gut schlafen, weil sie immer noch die Schreie ihrer Mutter hörte, obwohl der Vater ihr damals die Ohren zugehalten hatte. Sie hatte sie dennoch deutlich vernommen. Erst seit sie bei Adelheid in Obhut und nun in Stellung war, ging es ihr immer besser und die Albträume wurde allmählich weniger.
1607
Es war das Jahr, in dem Anna Dreyer in Bötersen geboren wurde, die später Diedrich Hastede aus Hetzwege ehelichte. Im selben Jahr ließ Maria Hastedt aus Bötersen ihre Tochter Tibke taufen, die man später als „Tibke von Bartelsdorf“ benennen würde.
Marias Onkel, Cordt Döhrnemann, den alle nur den Hinkefuß nannten, konnte es einfach nicht sein lassen und sprach unentwegt und bei jeder Gelegenheit von seinem seligen Bruder Harm. Er saß während der Taufe von Tibke nur zwei Bänke hinter Harm und Adelheid Hoops.
Während der anschließenden bescheidenen Tauffeier erzählte er mit Häme von Adelheid und bezeichnete sie als „seine Hexe“, die wohl nur so getan hätte, als habe sie ihn nicht bemerkt. Er sagte für alle hörbar: „Dabei ist doch die alte Hexe Adelheid schuld am Tod meines Bruders Harm und meiner Schwägerin Beke.“
Als Maria davon hörte, war es ihr sehr peinlich und es verdarb ihr ein wenig die Mutterfreuden. Dass ihre Eltern ums Leben kamen, wollte sie der „Zauberschen“ aus Höperhöfen nicht verzeihen, aber heute war Tibkes Taufe und keine Hexenjagd.
Sie litt sehr darunter, denn viele ließen sie spüren, dass der selige Vater wohl eine große Dummheit gemacht hatte, sich mit einem im Vergleich zu anderen wohlhabenden Bauern angelegt zu haben.
Dass durch das Unglück großes Ungemach über die ganze Familie gekommen war, erlebte sie jeden Tag aufs Neue.
In Höperhöfen auf dem Hof von Harm und Adelheid ging das Leben weiter und der Alltag ging seinen Weg. Harm Döhrnemann war lange tot und die Sticheleien seines Bruders Cordt ärgerten zwar, wurden aber überwiegend ignoriert.
Adelheid war als Hebamme und Kräuterfrau weiter im ganzen Kirchspiel unterwegs, mied aber den Kontakt zu Döhrnemanns, den Nachbarn ihrer Eltern.
1610
Hibbel Holsten war die 20-jährige Tochter von Claus, dem Mann, der vor zehn Jahren seine Nachbarin Beke Döhrnemann zum Freitod in den Brunnen stürzen sah. Er war aber auch der Nachbar der Familie Stavenhitter, deren Tochter Adelheid nach Höperhöfen in den Hoopshof eingeheiratet hatte.
Hibbels Eltern hatten entschieden, sie als Magd auf den Hof nach Höperhöfen zu Adelheid Hoops, die als Bademutter bei den Frauen einen nachhaltig guten Ruf wie auch in der Kräuter- und Heilkunde genoss zu geben. Hibbel liebte Kinder über alles und sollte nach dem Willen der Eltern auch Hebamme werden, was dem Wunsch der Tochter entsprach. Diese Entscheidung brachte Hibbels Eltern mit der Nachbarin Maria Hastede heftigen Streit ein, weil deren Vater ja einst gegen Adelheid geklagt und verloren hatte und der sich vor zehn Jahren, nach der Landesverweisung aus dem Amt, bekanntermaßen das Leben genommen hatte. Diese alte, tragische Geschichte erzählte man sich noch immer in den Dörfern und die Gerüchte verstummten einfach nicht. Sie stand wie eine unüberwindbare Mauer des Hasses zwischen den Menschen in dem Dorf.
Adelheid war zwar erst 45 Jahre alt, wurde aber schon als die „alte Hoops“ bezeichnet, denn sie wirkte zehn Jahre älter als sie biologisch gesehen war. Die Jahre der Anfeindungen hatten tiefe Spuren hinterlassen.
Sie wusste und hörte es immer wieder, sagte es auch allen Frauen, denen sie vertraute und das Handwerk beibrachte: „Pass aber gut auf dich auf, denn Bademütter leben gefährlich. Weil sie sich aufs Warzen besprechen, die Geburtshilfe, Kräuter und allerlei Arzneien verstehen, hat sie jeder Henker stets im Auge und gedenkt durch sie seinen Geldbeutel merklich zu füllen.“
1611
Hibbel war nun schon seit einem Jahr auf dem Hof und hatte eine ganze Menge erlebt und gelernt. Als Magd war sie mit den Hochzeitsvorbereitungen für Adelheids Sohn Joachim beschäftigt, der seine Gesche übermorgen heiraten sollte.
Ihr fiel die Aufgabe zu, für die Hochzeitssuppe die Hühner zu holen, denen der Knecht Armin eben erst den Hals umgedreht und abgeschlagen hatte. Bevor er sie nun schlachten konnte, mussten sie gerupft werden. Das war Hibbels Aufgabe.
Sie saß auf der Bank neben der kleinen Seitentür und hatte das erste Huhn in ihren Händen, als eine Amsel ihre Aufmerksamkeit erregte.
Dabei wanderte ihr Blick über den Hof, der ihr sehr vertraut geworden war und wo sie sich zu Hause fühlte.
Imponierend standen viele alte und sehr große Eichen auf dem ganzen Hofplatz. Sie boten Schutz vor Wind und Schnee, nahmen aber auch viel Licht. Die Hofschweine fraßen im Herbst die vielen Eicheln auf, mit denen sie auch gemästet wurden.
Abelke dachte noch an die Zeit von vor einem Jahr zurück, als sie hier ankam und sehr herzlich aufgenommen wurde.
Es gab keinen Tag, an dem der Viehbestand nicht seine Hege und Pflege einforderte, wobei das die Aufgabe der Knechte war. Die Männer kümmerten sich um die Pferde, die Immenvölker, die Kälber und Kühe. Für die Mägde blieben die Schweine, die Ferkel und die Hühner übrig. Für die 60 Schafe gab es sogar einen Schäfer auf dem Hof.
„Kind, schlaf nicht, oder willst du dem Vieh auch noch die Haut rupfen“, schubste sie Armin laut lachend an.
Sie schreckte aus ihren Gedanken auf und sagte mit unsicherer Stimme: „Ich habe wohl mit offenen Augen geträumt.“
Angelockt von diesem Treiben sah der Großknecht Hein vom Schauer herüber, und neugierig wie immer lugte die Großmagd Gesine aus dem Haus, als könnte sie etwas verpassen.
„Hibbel, bist du bald fertig? Sieh zu, dass du mit den Hühnern herkommst“, rief sie lauthals in den Hof und zog den Kopf wieder ins Haus zurück.
***
Harm Hoops ging mit seinem Sohn und Nachfolger Joachim über den Hof. Sie sprachen sehr innig miteinander, denn der Vater übergab mit der Hochzeit auch die Hofführung an seinen Sohn.
„Joachim, du kennst dich zwar auf dem Hof aus, dennoch möchte ich als dein Vater mit dir noch einmal einiges durchsprechen und abstimmen, damit ich als Altenteiler nicht mit dir über Kreuz komme und wir miteinander in Streit geraten, wie es mir mit meinem seligen Vater Warneke ergangen war“, begann er das Gespräch.
„Mein Sohn, ich freue mich, dass du mit Gesche eine fleißige Frau gefunden hast und ich beruhigt auf mein Altenteil gehen kann. Sei gewiss, dass ich mich nicht in deine Wirtschaft einmischen werde. Der Altenteilervertrag regelt die Verhältnisse zwischen uns bis ins Detail. Ich habe dir alles beigebracht, was du wissen musst und ich bin mir sicher, dass du ein guter Bauer bist“, sagte er und legte seine Hand liebevoll und anerkennend zugleich auf die Schulter seines ältesten Sohnes.
Sie standen vor dem Backhaus und sahen im Rundblick den Speicher und die zwei Scheunen, die halbkreisförmig um das Haupthaus standen und sich in einem guten baulichen Zustand befanden, obwohl alle Gebäude schon weit über 100 Jahre alt waren.
Dann schauten sie sich noch so einiges an, was dem Vater wichtig war und schritten den Hof, aber auch die Äcker und Wiesen ab, ohne unnötig viele Worte zu wechseln. Sie verstanden sich auch so. Das wiederum verstand Gesche, Joachims Braut, gar nicht. Sie redete viel und gerne über alles. „Männer“, war ihr einziger Kommentar zu dieser Art des schweigenden Verstehens.
„Du hast dir eine prächtige und ganz liebe Frau ausgesucht. Sie passt hier her und wird eine großartige Schwiegertochter abgeben, auch wenn sie gerne ein wenig viel schwätzt. Darin sind deine Mutter und ich uns einig“, sagte der Vater mit einem Lächeln, während sie auf den Feldern unterwegs waren.
Als sie nach Hause zurückkehrten, schweifte der Blick der Männer von der Hofeinfahrt in die Hofmitte über das massive, im Jahre 1478 erbaute Vierständerhaus. „In dem auf dem Hof stehenden Häuslingshaus werde ich als Altenteiler mit Adelheid bis zu unserem Tode leben“, schweifte Harm in Gedanken.
Dort lebte auch seine ledige Schwester Gesine seit vielen Jahren und so stand es auch im Vertrag, der die Zeit nach der Hofübergabe regelte.
Als habe Joachim die Gedanken seines Vaters erahnt, fragte er ihn: „Gesine hat nie geheiratet. Warum eigentlich nicht?“
„Es war nie der Richtige dabei, für den sie sich entscheiden wollte und so blieb sie bei mir als Hausmagd auf dem Hof“, antwortete sein Vater.
„Sie genießt offensichtlich ihre gute Stellung, hat ihr Auskommen und schaut wohlgenährt aus. Sie ist immer gut gelaunt und stets freundlich, was ich sehr an ihr schätze“, schloss Harm seine Gedanken.
„Gesine, du bist eine Seele von Mensch“, pflegte Harm seine Schwester häufig zu loben, was ihr sichtlich gut tat.
Nun aber rief Harm über den Hof, denn er hatte seine Schwester aus dem Haus schauen sehen, neugierig, wie sie nun mal eben war.
„Gesine! Ist alles gut vorbereitet?“, hörte sie ihren Bruder fragend rufen. Sie winkte ab, ließ sich nicht weiter ablenken und verschwand vollends im Haus.
„Junge, deine Mutter wird als Bademutter viel unterwegs sein und ich werde sie, wenn notwendig fahren, solange ich es vermag. Du kannst den Knecht dann anders einsetzen und ich habe eine sinnvolle Aufgabe.“
„Vadder, das kommt überraschend. Darüber freue ich mich sehr“, entgegnete Joachim strahlend.
„So wie ich Gesche verstanden habe, wird sie von deiner Mutter als Nachfolgerin in der Kräuterkunde und als Bademutter eingewiesen werden. Pass gut auf sie auf, denn die Leute reden gerne und sehr viel, meistens aber nichts Gutes“, fügte Harm nach einer ganzen Weile an.
Der Tag der Hochzeit war nun für das Brautpaar gekom-men und die Zeit der Verlobung damit zu Ende.
Es war eine für die Zeit und die Umstände angemessen ausgestattete Feier, die sich für einen Außenstehenden aber durchaus als bescheiden darstellte.
Adelheid hatte darauf bestanden und gesagt: „Die Leute sollten keinen Grund haben, um Gerüchte und üble Reden über die Ausgestaltung der Feier zu verbreiten. Sie reden sowieso, aber wir müssen vorsichtig sein, denn das Geschwätz von Döhrnemann bedroht die Familie noch immer unterschwellig.“
Es war eine wunderschöne Feier bei herrlich trockenem Wetter an einem sonnigen Oktobertag.
„Wir können sehr zufrieden sein“, sagte Harm stolz zu Adelheid. „Die Ernte war gut, die Vorratskammern sind aufgefüllt, der Hof befindet sich in einem guten Zustand, der Junge ist gesund und er hat eine gute Frau gefunden. Hinzu kommt, dass wir noch bei guter Gesundheit sind, woran auch deine Kräuter und Tees nicht ganz unbeteiligt sind“, meinte er mit Schalk in den Augen und Adelheid stimmte ihm wortlos lächelnd zu, aber nicht ohne dabei auch ein Glänzen in die Augen zu bekommen.
Ein Jahr später verließ Hibbel den Hof. Adelheid hatte ihr alles beigebracht, was sie wissen musste und war sehr stolz auf sie. Sie hatte Hibbel ins Herz geschlossen und sie ließ sie ungerne ziehen, aber drei Bademütter auf einem Hof waren einfach zu viel des Guten.
1613
Als in den Dörfern des Kirchspiels Sottrum und darüber hinaus wieder einmal die Blattern wüteten, wodurch zwei Dutzend Kinder und viele Erwachsene innerhalb kürzester Zeit dahingerafft wurden und unter den Opfern sogar der Pastor Johann Baptista Schmied war, kannten die Angstmacher und Gerüchtestreuer keine Anstandsgrenzen mehr.
Cordt Döhrnemanns Nichte verlor innerhalb weniger Tage drei ihrer Kinder.
Das war die Gelegenheit, auf die er seit Jahren sehnsüchtig gewartet hatte. Er fachte erneut das schwelende Feuer der Verleumdungen und üblen Gerüchte gegen Adelheid Hoops in Höperhöfen an.
Viele glaubten, dass es nur die mit dem Teufel im Bunde stehenden Wesen und Hexen gewesen sein konnten, die dafür verantwortlich waren. Dass er damit Adelheid meinte, wusste jeder, ohne dass der Name ausgesprochen werden musste.
Eine Anklage wurde trotz seiner Anzeige nicht erhoben, verlor sie doch selbst zwei Kinder durch die Seuche.
1614
Gesche wurde nach Hibbels Weggang von ihrer Schwiegermutter als Hebamme sowie in der Kräuter- und Heilkunde ausgebildet. Sie musste mehrfach erfahren, welche harten Prüfungen das Leben dabei für sie bereit-hielt.
Schmerzen konnte Adelheid mit selbst gebrauten Kräutertees lindern. Auf ihren gemeinsamen Wegen zu den besonderen Stellen, an denen die Pflanzen in den Wäldern, auf den Wiesen und in den Mooren wuchsen, kamen sich die beiden Frauen auch menschlich immer näher.
Adelheid hatte einst selbst gelernt, die richtigen Pflanzen am rechten Platz und zu bestimmten Zeiten zu finden. Für die Ernte und die richtige Verarbeitung war ein sehr umfassendes Wissen notwendig, aber auch die Gabe, das richtige Mittel zielgerichtet zur Anwendung zu bringen.
Einen Medikus konnte sich kaum jemand leisten und deswegen suchten viele die Kräuterfrauen auf, wobei die Meisten die Hausrezepte „für alle Fälle“ selbst kannten, die von den Müttern an die Töchter weitergegeben wurden.
Häufig nahm man die Salben und den gebrauten Sud auch, um die wertvollen Haus- und Hoftiere zu behandeln. Für manchen Zeitgenossen war diese Kunst des Heilens aber Hexenkunst und Teufelswerk.
Gesche lernte sehr schnell, denn Adelheid war eine sehr erfahrene Kräuterfrau und liebte ihre Schwiegertochter. Sie zeigte ihr jedes Kraut und jedes Blatt, beschrieb es genau und erklärte dessen Wirkung sehr eingehend und geduldig. Dabei vergaß sie nicht, die Gefahren einer falschen Dosierung oder Anwendung anzusprechen.
Sie hatten keine Bücher und auch keine Möglichkeit, sich Aufzeichnungen zu machen, auch wenn sie ein wenig Lesen und Schreiben gelernt hatten.
Das gesamte Wissen wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Dass die Mönche und Nonnen in den katholischen Klöstern, die noch vor wenigen Jahrzehnten hier existierten, dieses seit alters her zu nutzen wussten und vor allem durften, war bekannt.
Adelheid sagte immer wieder: „Sei mit dieser Gabe vorsichtig! Gehe mit dem Wissen behutsam um und wende die Mittel nur offen an, wenn es sich nicht vermeiden lässt, denn Kräuterfrauen und Hebammen leben, wie du weißt, gefährlich. Denk an die Mutter von Abelke.“
1615
Im folgenden Jahr suchte erneut eine Seuche ihre Opfer in den Dörfern und Gehöften des Amtes Rotenburg. Die alte Adelheid Hoops aus Höperhöfen starb nach zehntägiger Bettlägrigkeit am Nervenfieber, auch Typhus genannt.
Harm saß tagelang an ihrem Bett und stand ihr in den letzten Stunden bei, so gut er es vermochte.
Gesche sagte einmal zu ihm: „Sie ist ja viel in den Dörfern herumgekommen und muss sich dabei angesteckt haben.“
„60 Jahre ist kein Alter zum Sterben“, entgegnete Harm. „Wir wollten auf unsere alten Tage doch noch so manches erleben und deine Kinder, unsere Enkelkinder, gemeinsam aufwachsen sehen“, fügte er mit einem verzweifelten Unterton in seiner sonst festen und warmen Stimme noch an.
Die Trauerfeier wurde knapp gehalten, denn das Amt hatte erneut angeordnet, die Seuchenopfer noch am Tag ihres Todes in die Erde zu bringen.
Als Cordt Döhrnemann in Bötersen davon erfuhr, dass seine Erzfeindin dahingerafft war, konnte er sich nicht mehr zurückhalten und stieß einen lauten, markerschütternden Schrei aus, dass die Nachbarn meinten, er hätte sich beim Holzhacken, den Daumen abgeschlagen.
Zu Maria gewandt, die ihren Onkel erschrocken ansah, sagte er mit einem teuflischen Grinsen und leuchtenden Augen: „Ich mache kein Hehl daraus, dass ich mich freue, dass die alte Hexe endlich tot ist, auch wenn sie angeblich nur an Typhus gestorben sein soll.“
Maria verstand den Gefühlsausbruch ihres Oheims, glaubte sie doch auch an die Schuld von Adelheid am Tod ihrer Eltern.
„Sie ist gestern auf dem Friedhof zusammen mit den drei Toten aus unserem Dorf und anderen eingekuhlt worden.“
„Es ist unglaublich, dass man eine Zauberin in geweihte Erde legt und deinen Eltern diese Ehre verweigert hatte. Sie hätten sie auf dem Scheiterhaufen bei lebendigem Leibe verbrennen sollen. Das dazu erforderliche Holz hätte ich schon gestiftet“, wütete er und schlug mit der geballten Faust auf den Tisch, dass das darauf befindliche Geschirr nur so wackelte.
Er schnellte hoch und humpelte schnurstracks aus dem Haus. „Bleib nicht so lange fort und wüte nicht wieder“, rief Maria ihm noch flehend nach. Sie wusste nicht, ob er sie überhaupt noch gehört hatte. Immer, wenn er wütend war, verschwand er für Stunden und niemand wusste wohin.
Einmal hatte er Maria erzählt, dass er die alten Götter um Hilfe gebeten habe, als er mal wieder verschwunden war.
„Altvater wird helfen“, sagte er immer wieder, und dass die Pastoren, die er abwertend als „Schwattkittel“ und „Pfaffengesindel“ bezeichnete, nur ihr eigenes Seelenheil und ihre Völlerei im Sinn hätten.
Nach dem Tod von Adelheid hatte ihre Schwiegertochter Gesche die Aufgabe als Bademutter übernommen.
Bei ihren Besuchen in den Dörfern hörte sie hier und da immer wieder von ihr zugetanen Menschen, dass Cordt Döhrnemann nun auch über sie schlecht sprach und sie als Zauberin und Hexe denunzierte.
Gesche, aber auch andere Kräuterfrauen, versuchten mit dem erlernten Wissen, den durch die Seuche erkrankten Menschen zu helfen. Es war eine vergebliche Mühe, die Gesche im Nachhinein betrachtet eher geschadet hatte.
Harm zog Gesche einmal zur Seite und sagte: „Kind, gib acht, denn in der Trauer geben dir am Ende die Leute noch die Schuld am unabwendbaren Tod ihrer Lieben und sie bezeichnen dich als Kräuterhexe und Todesbotin. Döhrnemann wird keine Ruhe geben, solange er lebt.“