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2. Kapitel 11. August 1961 „Die neuen Schutzmaßnahmen werden gewisse Unbequemlichkeiten mit sich bringen”

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(Interne Verlautbarung der Volkskammer der DDR)

Am Freitag, dem 11. August 1961, kurz nach sieben Uhr morgens, blickt Kurt Wismach durch die Gardine aus dem Schlafzimmerfenster auf die Grünstraße hinunter. Die beiden Aufpasser vom Staatssicherheitsdienst stehen noch immer vor seiner Tür. Ihren grauen Wartburg haben sie schräg gegenüber am Köpenicker Schloßpark geparkt.

Kurt Wismach wohnt in einem kleinen, alten, aber billigen Einfamilienhaus. Er zahlt 38 Mark Miete im Monat für zweieinhalb Zimmer mit Küche und Bad. Vom Schlafzimmer im Obergeschoß hat er, zwischen zwei Hauswänden hindurch, einen Blick auf die Spree, in der sich an diesem Morgen die Sonne spiegelt. Am Vormittag traut sich der Kabelwerks-Arbeiter nicht aus dem Haus. „Ich dachte, die nehmen mich bei der erstbesten Gelegenheit fest.” Seine Mutter geht Einkaufen. „Als meine Mutter zurückkam erzählte sie, daß schon in ganz Köpenick über meine Auseinandersetzung mit Walter Ulbricht geredet wurde. Die meisten Leute haben zu ihr gesagt, daß sie das ganz prima fänden, daß ich den Mut gehabt habe, meine Meinung vor aller Öffentlichkeit zu sagen. Nur einer hat geschimpft: ich sei ein politisches Schwein. Das war ein Kostümverleiher aus unserer Straße – der hieß zufällig auch Ulbricht.”

An diesem Tag hat Kurt Wismach Mittagsschicht. Mit einem Stullenpaket unter dem Arm, verläßt er das Haus – die Männer an der Tür lassen ihn vorbei. Sie folgen ihm zur Haltestelle der Straßenbahnlinie 95. Nachdem er in die Straßenbahn eingestiegen ist, fahren sie mit ihrem Wartburg hinterher. Kurz vor 14 Uhr geht Kurt Wismach durch das Tor des Kabelwerks Oberspree. Als er seine Arbeitskleidung und die klobigen Holzpantinen anzieht, stellt er fest, daß sein Spind durchsucht worden ist. „Da lag nichts mehr wie vorher an seinem Platz.”

Vor Schichtbeginn kommt der Parteileiter des Betriebes zu ihm. Er sagt: „Kollege Wismach, kannst du mal kurz mitkommen!” Er geht zum Ingenieurbüro voraus. Hier warten schon zwischen Schreibtischen und Zeichenbrettern vier Besucher, drei Männer und eine Frau. „Der eine hat gesagt, sie seien vom Zentralkomitee der Partei und wollten sich mal mit mir über den Vorfall von gestern unterhalten.”

Die Unterhaltung wird schnell zum Verhör. Die Stimmen werden lauter. Schließlich schreien sich die Frager und der Befragte an. Die Frau macht dabei fortwährend Notizen. Der Wortführer will wissen: „Hast du Verwandte im Westen, Kollege Wismach?” – „Ja, mein Bruder lebt jetzt in Duisburg.” – „Er ist also Republikflüchtiger?” – „Er hat die DDR vor einem Jahr verlassen.”

Sie fragen Kurt Wismach, ob er Mitglied (der damals noch nicht verbotenen) Ostberliner SPD ist. Kurt Wismach verneint. Sie fragen, ob er „zu seinen Zwischenrufen angestiftet” worden ist? Kurt Wismach steckt sich eine Zigarette Marke „Casino” an. Er sagt: „Das war eine spontane Reaktion. Ich denke, wir leben in einer Demokratie. Da wird man doch wohl noch seine Meinung sagen dürfen?” – Sie wollen wissen, was er denn unter „freien Wahlen” verstehe? Er sagt: „Die Zulassung von Parteien und geheime Volksabstimmung über die politische Zusammensetzung der Regierung.”

Ob er denn mit der gegenwärtigen Regierung nicht zufrieden sei? „Nein”, antwortet Kurt Wismach, „und da bin ich nicht der einzige!” – Ob er das nationale Aufbauwerk der DDR aktiv unterstütze? – „Nein, das halte ich für nationalen Betrug.” – „Was willst du damit ausdrücken, Kollege?” fragt mit schneidender Stimme einer der Männer, der kleinste der drei. – Kurt Wismach hat sich in Wut geredet. Er sagt: „Damit meine ich zum Beispiel, daß wir uns für unser ehrlich erarbeitetes Geld nicht kaufen können, was wir wollen, weil es bei uns ja dauernd Versorgungsengpässe gibt. Mit der Wirtschaft geht es bei uns nicht so weiter. Umsonst fliehen nicht so viele Kollegen in den Westen.” – „Das sind keine Flüchtlinge, das sind Verräter, die dem Kapitalismus auf den Leim kriechen”, sagt der Kleine, und rechnet vor, daß es den Menschen in der DDR besser gehe als denen in der Bundesrepublik. „Bei uns wird pro Kopf mehr Butter gegessen als in Westdeutschland.”

Kurt Wismach sagt: „Das glaube ich nicht. Die Flüchtlinge werden schon ihre Gründe haben. Es verläßt ja schließlich keiner seine Heimat, wenn er nicht schwerwiegende Gründe dafür hat.” – „Was hast du denn für Gründe gehabt, Kollege Wismach, den Staatsratsvorsitzenden auf so lümmelhafte Weise zu unterbrechen und ihn sogar zu duzen?” Die Frau mit dem Notizblock sagt: „Der Genosse Walter Ulbricht ist schließlich schon 68 Jahre alt. Er hätte eine Herzattacke bekommen können.” – Kurt Wismach antwortet: „Zwischenrufe muß ein Politiker doch wohl noch vertragen können!” Da schreit ihn der Kleine an: „Man sollte dir eins auf deine freche Schnauze hauen!” Kurt Wismach steht von seinem Stuhl auf, baut seine muskulöse, 1,85 Meter große Figur, vor dem Tisch seiner Verhörer auf und fragt: „Meinst du das persönlich, Genosse?” – „Der Kleine”, so erinnert sich Kurt Wismach, „ist richtig in seinen Stuhl zusammengesunken, und dann hat er gesagt: ‚Nein, das habe ich nur symbolisch gemeint.’”

Die immer hitziger werdende Auseinandersetzung dauert länger als zwei Stunden. Dann tuscheln die vier vom Zentralkomitee miteinander, so daß Kurt Wismach nicht verstehen kann, was sie reden. Der Wortführer kommt zur Sache: „Kollege Wismach, du kannst dir denken, daß wir dein Verhalten nicht durchgehen lassen können! Du hast den hohen Lebensstandard, den wir dir als Facharbeiter hier bieten, vorerst verspielt! Du wirst für mindestens ein halbes Jahr von der Lohngruppe 7 in Lohngruppe 5 zurückgestuft.”

Kurt Wismach erzählt heute: „Das hätte bedeutet, daß ich statt 1000 Mark nur noch etwa 600 Mark verdient hätte. Außerdem sollte ich für meine Bemerkung gegen das Nationale Aufbauwerk 500 ‚freiwillige Aufbaustunden’ leisten. Und drittens sollte ich in einer Woche bei einer Betriebsversammlung erklären, daß meine Forderung nach freien Wahlen ‚völliger Unsinn’ sei, da sogenannte freie Wahlen von den Monopolkapitalisten und Militaristen doch nur in ihrem Sinne manipuliert werden.”

Kurt Wismach sagt zum Schluß des Verhörs, er werde sich das überlegen. Sie sagen ihm, er habe eine Woche Zeit.

„Ich habe die Fäuste in der Tasche geballt. Ich hätte vor Wut auf den Tisch hauen können!” erinnert sich Kurt Wismach. „Als ich schon auf dem Flur war, rief mir einer hinterher, ich solle mir nur nicht einbilden, daß ich mit der nächsten S-Bahn in den Westen abhauen könnte. ‚Die Genossen vom Staatssicherheitsdienst werden eine Weile auf dich aufpassen, Kollege Wismach!’”

Kurt Wismach geht an diesem Tag zu seiner Brigade zurück und arbeitet seine Schicht zu Ende. Als er am Abend das Werkstor passiert und wieder zur Haltestelle der Straßenbahn geht, sind die Aufpasser vom Staatssicherheitsdienst wieder hinter ihm her. Wieder beziehen sie vor seiner Haustür Posten.

An diesem Abend spricht Kurt Wismach zum erstenmal mit seiner Verlobten Helga über Flucht. Sie beschließen, in den Westen zu gehen. Kurt Wismach weiß, daß er fast alles zurücklassen muß, was er sich in seinem Leben erarbeitet hat. Nur ein paar kleine Wertsachen wird er mitnehmen können. – Während unten vor seinem Haus der Staatssicherheitsdienst Wache steht, sortiert der Kabelwerker die besten Stücke aus seiner Briefmarkensammlung aus, tütet sie in zwei Umschläge ein und steckt sie in die Handtasche seiner Verlobten. „Dann haben wir auf eine günstige Gelegenheit zur Flucht gewartet ...”

Das Verhör des Arbeiters Kurt Wismach ist eine harmlose Sache, verglichen mit dem, was vier Angeklagte an diesem 11. August vor dem Obersten Gericht der Deutschen Demokratischen Republik durchzustehen haben. Vor mehr als hundert geladenen Zuschauern aus Partei und Betrieben beginnt an diesem Freitag gegen die Ostberliner Dr. Werner Herde und Manfred Wegener, gegen die Westberlinerin Margarete Pauels und gegen die aus Jüterbog/DDR stammende Helene Vogt ein politischer Schauprozeß. DDR-Generalstaatsanwalt Funk bezichtigt die vier Angeklagten, „fortgesetzt gegen die politischen und ökonomischen Grundlagen der DDR” gearbeitet zu haben. Sie sollen „Menschenhandel und Kopfjägerei” betrieben haben. Auf gut deutsch: Die vier Angeklagten sollen Einwohner der DDR dazu überredet haben, in die Bundesrepublik zu gehen, und ihnen im Auftrag von westdeutschen Firmen Stellenangebote gemacht zu haben.

Die Juristen der DDR wollen in diesem sogenannten „Menschenhändler-Prozeß” offenbar noch Beweise für die dringende Notwendigkeit der „Sicherung der Staatsgrenze” zuliefern. Gleich zu Prozeßbeginn macht Generalstaatsanwalt Funk klar, worum es geht: „Das System des Menschenhandels ist ein wesentliches Element des Kalten Krieges und ein Bestandteil der unmittelbaren Vorbereitung eines Welt-Atomkrieges, der nach der aggressiven Planung der Bonner Hitler-Generale in Deutschland seinen Anfang nehmen soll!” Alle Menschen, die die DDR verlassen haben, seien entweder „unreife, labile Elemente” oder „Verräter” oder „Opfer von kriminellen Machenschaften kapitalistischer Seelenaufkäufer”. Als Nachweis dazu reicht dem Staatsanwalt bereits die Lektüre von Westzeitungen oder das Hören und Sehen von westlichen Rundfunk- und Fernsehsendungen. Und als Beweis für „Menschenhandel” gilt schon, wenn jemand DDR-Bürger auf gut bezahlte offene Stellen in der westdeutschen Wirtschaft aufmerksam macht.

Anfang der 60er Jahre herrscht im Wirtschaftswunderland Bundesrepublik Hochkonjunktur. Überall werden Fachkräfte gesucht, in der Industrie, im Baugewerbe, im Handwerk ebenso wie in Universitäten, Schulen und Krankenhäusern. Die „Brüder und Schwestern aus der Zone” – wie westdeutsche Politiker die Deutschen in der DDR nennen – sind überall herzlich willkommen, besonders Ingenieure, Techniker und Facharbeiter. Und es kommen immer mehr, von Jahr zu Jahr, von Monat zu Monat, von Tag zu Tag.

An diesem 11. August 1961 werden im Aufnahmelager Berlin-Marienfelde 1532 neue Flüchtlinge aufgenommen. Die meisten von ihnen sind junge Männer und Frauen im Alter zwischen 20 und 40; aber auch Rentner und Kinder drängen sich in langen Schlangen vor den Registrierungsstellen. Einer von ihnen ist der 150 000. Flüchtling in den knapp siebeneinhalb Monaten dieses Jahres. „Der freiwillige Massenauszug”, schreibt die Westberliner Boulevardzeitung „BZ”, „kennt kein Beispiel in der Geschichte. 150 000 gaben ihre Heimat auf und flüchteten vor der kommunistischen Diktatur in die Freiheit.”

Derselbe Vorgang wird von der in Ostberlin erscheinenden Zeitung „Neues Deutschland” so gesehen: „Westberlin ist zum Zentrum des internationalen Menschenhandels geworden!” Eine Kampagne gegen den sogenannten Menschenhandel wird seit Tagen in den Städten, Dörfern und Betrieben der DDR von der Sozialistischen Einheitspartei und von der Freien Deutschen Jugend (FDJ) organisiert. Danach fordern Ärzte des Bezirks Frankfurt/Oder ihre Landsleute auf, „im Interesse des Friedens und ihrer eigenen Sicherheit weder Reisen nach Westdeutschland noch Besuche in Westberlin zu melden”. – Die Besatzung des Baggers 617 „des Muldenheimer Braunkohlenwerkes Einheit” meldet: „Wir sehen der verbrecherischen Bonner Politik ebenfalls nicht tatenlos zu, auf unsere Forderung hin wurde im Tagebau ein Komitee zur Verhinderung des Menschenhandels gebildet!” – Die Brigade „Junge Garde” aus dem Dorf Lübbenau verspricht sogar, Hand anzulegen: „Sollte es noch mal ein Kopfjäger wagen, in unsere Reihen einzudringen, so werden wir ihn beim Kanthaken nehmen und mit dem Hintern in die Kalkgrube setzen.” Den vier Angeklagten vor dem obersten DDR-Gericht droht beim „Menschenhändler-Prozeß” Schlimmeres – auf „Anstiftung zur Republikflucht” stehen hohe Freiheitsstrafen, in besonders schweren Fällen sogar „Lebenslänglich”.

Doch wie sich bald herausstellt, stehen die Angeklagten nicht im Mittelpunkt des Prozeßgeschehens, sondern ein Mann, den der Generalstaatsanwalt als „Zeugen besonderer Art” ankündigt. Vor dem obersten DDR-Gericht tritt auf, der DDR-Bürger Günter Maske. Er gehört, so der Anklagevertreter, „zu jenen Menschen, die im Dienst des Friedens und mit Zustimmung des Ministeriums für Staatssicherheit auf eigenen Wunsch beim amerikanischen Geheimdienst mitgearbeitet haben und die durch ihre patriotische Haltung helfen, die verbrecherischen Methoden der amerikanischen Agentenorganisation vor aller Welt zu entlarven”. Der Agent Maske sagt aus, er sei bei einem Besuch in Westberlin vom amerikanischen Geheimdienst CIA angeworben worden. Er habe unter dem Decknamen „Pulvermüller” fünf Jahre lang zum Schein für den CIA gearbeitet. Er sei „innerhalb einer Spezialabteilung tätig gewesen, die sich mit organisiertem Menschenhandel befaßt”. (Protokollvermerk: „Ein Raunen ging durch den Gerichtssaal.”)

Maske alias Pulvermüller packt aus: Sein amerikanischer Chefagent, ein Mister Ledermann, habe ihm Briefe an Wissenschaftler, Techniker, Ärzte und Facharbeiter zur Weiterleitung übergeben. Das seien sogenannte Lockbriefe gewesen, mit denen die Empfänger zur Übersiedlung in die Bundesrepublik verführt werden sollten. Die Adressen hätten die US-Agenten im Flüchtlingslager Marienfelde von „Verrätern der DDR” erhalten oder erpreßt. Besonders Mitarbeiter bestimmter DDR-Betriebe seien für die Westagenten interessant gewesen. Maske nennt die Betriebe Kali-Chemie Leipzig, Chemische Werke Buna, Carl Zeiss Jena, Technische Hochschule Dresden, Kernphysikalisches Institut Miersdorf, Elektro-Apparate-Werke Treptow.

Ein zweiter „Zeuge besonderer Art”, der seinen Namen mit Gerhard Heuseler angibt, bestätigt die Aussagen des Kollegen. Nach seiner Rückkehr aus dem „Agentennest Westberlin” habe er den „zuständigen Gremien” westliche „Lockbriefe” übergeben. Generalstaatsanwalt Funk hebt anklagend ein großes Paket solcher Briefe den Zuhörern entgegen. (Das Protokoll vermerkt „Freudige Zustimmung als der amtierende Generalstaatsanwalt ein großes Paket Agentenbriefe zeigte”.) Das Zentralorgan der SED, das „Neue Deutschland”, berichtet unter einer vierspaltigen Überschrift vom Auftritt der Briefboten des Staatssicherheitsdienstes: „DDR-Patrioten enthüllen Methoden der Menschenhändler.”

Außer den „Menschenhändlern” und „Verrätern” haben die Machthaber der DDR noch einer zweiten Gruppe von „Schädlingen der Wirtschaft und des Volkes” den Kampf angesagt – den sogenannten Grenzgängern.

Die 53 000 Ostberliner, die jeden Tag über die offene Sektorengrenze zur Arbeit nach Westberlin fahren, werden in den Zeitungen als „Handlanger der Monopolkapitalisten”, als „Parasiten”, als „Kapitalisten-Huren” beschimpft und zur „ordentlichen Arbeit in Volkseigenen Betrieben” aufgefordert. Und der linientreue Bernauer Pastor Karl Fischer liest den Grenzgängern gehörig die Leviten: „Sie nutzen unsere günstigen Wohnverhältnisse aus, die billigen Mieten, die billigen Verkehrsmittel, die günstigen Preise für Gas und Strom und für die wichtigsten Lebensmittel. Und zur gleichen Zeit drängen sie in das Wirtschaftsgefüge des Westens und richten auch dort Unheil an. Sie drücken dort die Löhne und vergiften das Betriebsklima.” Schließlich fordert der sozialistische Seelsorger: „Dein Platz ist hier bei uns! Keinen Schritt mehr nach drüben!”

Anfang August wollen die DDR-Behörden nicht mehr länger zusehen, wie ihre Arbeitskräfte fremdgehen. Sie verfügen:

1 Alle Grenzgänger müssen sich in Ostberlin registrieren lassen.

2 Grenzgänger müssen rückwirkend ab 1. August Mieten, Strom, Gas und Wasser und sämtliche Gebühren wie Telefon, Müllabfuhr und auch Steuern in Westgeld bezahlen.

3 Sie müssen sich verpflichten, bis Ende September Arbeitsplätze in Ostberlin oder in der DDR anzunehmen.

Doch die Kampagne erweist sich bald als Fehlschlag – nach Verkündung dieser Zwangsmaßnahmen reihen sich von Tag zu Tag immer mehr Grenzgänger in die Flüchtlingsschlangen vor dem Westberliner Aufnahmelager Marienfelde ein.

An diesem Freitag, dem 11. August, an dem Kurt Wismach für seinen Ruf nach freien Wahlen zur Rechenschaft gezogen wird; an dem das Oberste Gericht der DDR einen Schauprozeß gegen vier angebliche Menschenhändler veranstaltet; an dem die Grenzgänger immer heftiger drangsaliert werden – an diesem Freitag tritt die Volkskammer als „Oberste Volksvertretung der DDR” zu ihrer 19. Sitzung zusammen. Noch am Vormittag beschließen die Mitglieder in Anwesenheit des sowjetischen Botschafters Perwuchin einstimmig, aber ohne Angabe von Einzelheiten: „Die Volkskammer unterstützt ohne Einschränkung die vom Ministerrat, vom Magistrat von Großberlin und von den Räten der Bezirke Potsdam und Frankfurt/Oder eingeleiteten Maßnahmen zur Sicherung der Deutschen Demokratischen Republik und zur Unterbindung der von Westdeutschland und Westberlin aus organisierten Kopfjägerei und des Menschenhandels.” Und: „Die Volkskammer beauftragt den Ministerrat, alle Maßnahmen vorzubereiten und durchzuführen, die sich auf Grund von Festlegungen der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages und dieses Beschlusses als notwendig erweisen.” Es wird darauf hingewiesen, daß „die neuen Schutzmaßnahmen gegen Menschenhändler, Abwerber und Saboteure für die Bürger gewisse Unbequemlichkeiten” mit sich bringen werden.

Die Unbequemlichkeiten beginnen noch am selben Nachmittag. Eine Hundertschaft von Volkspolizisten besetzt gegen 16 Uhr den S-Bahnhof Potsdam. Alle Reisenden, die aus der DDR nach Ostberlin wollen, werden scharf kontrolliert. Sie müssen ihre Ausweise vorzeigen und ihr Gepäck durchsuchen lassen. Von zehn S-Bahnfahrern, so berichten Betroffene, werden nur noch zwei zur Weiterfahrt in die Hauptstadt durchgelassen. Die anderen müssen ohne Angabe von Gründen in ihre Wohnorte zurück – vermutlich, weil sie als fluchtverdächtig gelten.

Auch andere Bahnhöfe und Zugangsstraßen nach Ostberlin werden immer schärfer kontrolliert. Die Truppen der Nationalen Volksarmee, der Grenzpolizei und des Staatssicherheitsdienstes werden in Alarmbereitschaft versetzt. Die Leiter und Vertrauensleute der Betriebskampfgruppen werden informiert, daß demnächst mit einem Einsatz zu rechnen ist – ob Manöver oder Ernstfall, wird nicht gesagt.

All diese Maßnahmen werden vom Ostberliner Polizeipräsidium in der Nähe vom Alexanderplatz geleitet. Das Gebäude ist unauffällig, aber wirksam bewacht. Nur wenige Uniformierte patrouillieren in der Nähe. Männer in Zivil mit versteckten Funkgeräten sichern die Umgebung.

Im zweiten Stockwerk hat der „Einsatzstab für die Aktion X” sein Hauptquartier bezogen. In den nach Bohnerwachs riechenden Zimmern und Konferenzräumen sind Dutzende von Telefonapparaten installiert worden. Fernschreiber tickern. Funkgeräte quäken. An den Wänden hängen Übersichtskarten der DDR und von Großberlin und Ausschnittkarten von den Gebieten entlang der Grenze rings um Berlin und von der 44,25 Kilometer langen Sektorengrenze zwischen Berlin-Ost und Berlin-West. Geschäftig eilen Offiziere in Uniform und Zivilisten über die Flure. Eine Konferenz nach der anderen wird abgehalten.

Immer wieder gehen prominente Persönlichkeiten im Polizeipräsidium ein und aus: Willi Stoph, der stellvertretende Vorsitzende des Ministerrates; Heinz Hoffmann, der Minister für Nationale Verteidigung; Karl Maron, der Minister des Inneren; Erwin Kramer, der Minister für Verkehr; Erich Mielke, der Minister für Staatssicherheit; Friedrich Ebert, der Oberbürgermeister von Ostberlin.

Alle hören auf das Kommando eines eher unscheinbaren Mannes mit schmächtiger Figur, blassem Teint, tiefen Geheimratsecken im braunen Haar und blaßblauen Augen hinter einer hellen Hornbrille: Erich Honecker, 49 Jahre alt, Mitglied des Politbüros der SED und Sekretär des Zentralkomitees für Nationale Sicherheit hat im Auftrag des Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht mit der Leitung der „Maßnahmen zur Grenzsicherung” begonnen.

Honecker ist zu dieser Zeit ein im Westen weithin unbeachteter höherer Parteifunktionär. Von ihm sind kaum mehr als biographische Kurzdaten bekannt: am 25. August 1912 in Neunkirchen/Saar als Bergmannssohn geboren; gelernter Dachdecker; von Jugend an KPD-Mitglied; kommunistischer Widerstandskämpfer gegen die Nationalsozialisten; von Hitlers „Volksgerichtshof” zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt; nach dem Kriege – von 1946 bis 1955 – Vorsitzender der „Freien Deutschen Jugend” (FDJ) in der DDR; seit Juli 1958 Politbüro-Mitglied; Protegé von Walter Ulbricht.

Ebenso unauffällig wie der Aufstieg ist auch das Privatleben des Funktionärs Erich Honecker. Wie andere hohe Parteifunktionäre und Regierungsmitglieder wohnt er in der Prominentensiedlung des Arbeiter- und Bauernstaates, 25 Kilometer nordöstlich von Berlin am Wandlitzsee. Auf einem sieben Quadratkilometer großen Gelände stehen hier, umgeben von einer zwei Meter hohen Betonmauer, Dutzende von villenartigen Wohnhäusern; zwei Stockwerke hoch, mit westlichem Komfort ausgestattet. Großzügige Rasenflächen, kleine Seen und Parks erfreuen das Auge. Es gibt ein Schwimmbad, eine Tennisanlage, ein Hospital, Kindergarten, Friseursalon, Sporthalle und sogar einen Schießstand. Nachts werden Mauern und Wege von Scheinwerfern angestrahlt. Bewaffnete Wachtposten schützen „Bonzograd”, wie DDR-Bürger die Prominentensiedlung nennen.

Hier lebt Erich Honecker als Nachbar von Walter Ulbricht und Erich Mielke mit seiner zweiten Frau Margot und seiner Tochter Sonja. Gelegentlich spielt er mit Gästen und Nachbarn Skat oder „17 und 4”. Eine Uniform zieht der Sicherheitsbeauftragte der DDR-Regierung, dem jetzt auch die Nationale Volksarmee unterstellt ist, nur in seiner Freizeit an – das grüngraue Loden der Weidmänner. Honecker ist ein begeisterter Jäger.

In den nächsten Tagen und Wochen ist Erich Honecker selten zu Hause am Wandlitzsee. Im Ostberliner Polizeipräsidium wurde in einem Raum neben seinem Hauptquartier ein Klappbett für ihn aufgeschlagen. Hier verbringt Honecker auch die Nacht vom 11. zum 12. August. Schon am frühen Morgen trifft er sich zu ausführlichen Besprechungen mit Walter Ulbricht. Später wird in einer Verlautbarung der DDR-Regierung mitgeteilt:

„Am Sonnabend, den 12. August 1961, nachmittags um 16 Uhr, unterzeichnete Walter Ulbricht als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der DDR die Befehle für die Sicherungsmaßnahmen an der Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik zu Westberlin. Er übergab sie an Erich Honecker, der als Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates der DDR im Auftrage des Politbüros des Zentralkomitees der SED die politische und organisatorische Vorbereitung und Durchführung der Sicherungsmaßnahmen leitete.”

Mit dieser Befehlsübergabe von Ulbricht an Honecker beginnt erst die Abriegelung Ostberlins gegenüber Westberlin und dann der Bau der Berliner Mauer.

Der Westen ahnt von nichts. Politiker, Militärs und Geheimdienstler – von denen es laut DDR-Propaganda im „Agentennest Westberlin” nur so wimmelt – haben keine konkreten Hinweise über das, was geschehen wird. Zwar wird überall zwischen Berlin und Bonn gemunkelt, daß irgendwann irgendwas passieren wird – aber niemand weiß was und wann. Bonns Gesamtdeutscher Minister Ernst Lemmer, von der DDR stets als „der Spionage-Minister” tituliert, tappt völlig im dunkeln. Er informiert die Bundesregierung, daß „vermutlich im Spätherbst, jedenfalls nach den Bundestagswahlen, mit einer verschärften Abriegelung Ostberlins gegenüber der restlichen DDR zu rechnen ist, da das Zonenregime gezwungen sein wird, etwas gegen den Flüchtlingsstrom zu unternehmen”.

Berlins Regierender Bürgermeister Willy Brandt hält an diesem Samstagnachmittag als SPD-Kanzlerkandidat eine Rede zum offiziellen Wahlkampfauftakt der SPD in Nürnberg. Vor mehr als 3000 Zuschauern nennt er den DDR-Volkskammerbeschluß vom Vortag „Ulbrichts Ermächtigungsgesetz”. Willy Brandt hat düstere Vorahnungen. Er sagt: „Heute abend wird der 17 000. Flüchtling dieses Monats in Berlin ankommen. Zum erstenmal werden wir 2500 Flüchtlinge im Laufe von 24 Stunden aufzunehmen haben. – Die Menschen kommen, weil sie Angst haben, daß die Mauern des Eisernen Vorhangs zementiert werden ...”

An diesem Freitagabend feiert das Westberliner Jazzlokal „Badewanne” sein zehnjähriges Bestehen mit einem Gastspiel des „Akki-Hamann-Quintetts”. Die „Zehn Triller-Girls” führen bei einer „einmaligen Ausstattungsrevue” „Striptease und Schönheitstänze” vor. In den Kinos an der Sektorengrenze, die von Besuchern aus Ost und West gleichermaßen besucht werden, flimmert Sex und Crime aus Hollywood über die Leinwände. In den Bars an der Grenze herrscht Samstagnacht-Stimmung. Im Ostberliner Friedrichstadt-Palast geht kurz nach zehn der letzte Akt des Variete-Lustspiels „Strandkorb Nummer 13” über die Bühne.

Um 22.30 Uhr gibt im Ostberliner Polizeipräsidium Erich Honecker verschlüsselte Einsatzbefehle an einige ausgewählte Truppen der Nationalen Volksarmee und der Grenzpolizei. Einheiten in Sachsen, Thüringen, Mecklenburg und Brandenburg bekommen Anweisung, sofort gefechtsmäßig ausgerüstet zu angeblichen Nachtmanövern auszurücken. Anders als sonst werden jedoch keine Platzpatronen, sondern scharfe Munition ausgegeben. Anders als sonst wird den Streitkräften kein konkretes Marschziel gesagt. In Dresden, Leipzig, Magdeburg, Rostock und Ostberlin werden Militärlastwagen mit Stacheldrahtrollen beladen.

Bis auf wenige eingeweihte Spitzenfunktionäre und bis auf die Männer in Erich Honeckers Ostberliner Hauptquartier kennt zu dieser Zeit niemand das Ziel dieser Aktionen. Die Soldaten fahren buchstäblich ins Dunkel: Mit kriegsmäßig blau verdunkelten Scheinwerfern rollen Lastwagen und Panzerkolonnen durch die Deutsche Demokratische Republik. Heinz Hoffmann, der Minister für Nationale Verteidigung der DDR, erinnert sich später: „Erich Honecker rief mich nachts an, gab mir die ‚X-Zeit’ und sagte: ‚Die Aufgabe kennst du! Marschiert!’ Ich weiß noch, wie wir die Stäbe und Verbände der Volksarmee, durch bestimmte Truppenbewegungen getarnt, heranführten.”

Gleichzeitig leitet Iwan S. Konjew, der Held des Zweiten Weltkrieges der Sowjetunion – in seiner Heimat als „Eroberer von Dresden und Prag” gefeiert –, wieder eine militärische Einkesselungsaktion einer Stadt: Er läßt seine Soldaten an der 164 Kilometer langen Grenze rings um Berlin in Stellung gehen. Die Sowjetsoldaten gehören zu den in Bernau und Döberitz stationierten Schützendivisionen und zur Panzerdivision aus Krampnitz.

In der ersten Minute des Sonntag, am 13. August, um 0.01 Uhr, schrillen in allen DDR-Kasernen die Alarmsirenen. Soldaten der Volksarmee, der Grenzpolizei und Angehörige der Betriebskampfgruppen stürzen in die Waffenkammern. Gewehre und scharfe Munition werden ausgegeben. Die Truppen, die bereits auf Autobahnen und Landstraßen zum „Manöver” unterwegs sind, werden von Kradmeldern und über Funk in die neue Marschrichtung dirigiert. Das Ziel von mehr als 20 000 Soldaten: Berlin, Hauptstadt der DDR.

Der Planungschef Erich Honecker – der von den DDR-Soldaten „grenzenlose Ergebenheit in die Sache des Sozialismus” fordert – erstattet später Bericht: „Gemäß den Einsatzbefehlen rückten die Verbände der Nationalen Volksarmee und die Bereitschaften der Volkspolizei in die ihnen zugewiesenen Abschnitte. Auch die Kampfgruppen in Berlin und in den an Berlin-West grenzenden Bezirken Potsdam und Frankfurt an der Oder bezogen ihre festgelegten Einsatzpunkte. Unsere bewaffneten Kräfte erhielten von den in der DDR stationierten sowjetischen Streitkräften Unterstützung.”

Georg Grosse, 21 Jahre alt, gelernter Tischler aus Gera, war in dieser Nacht wachhabender Wachtmeister einer Luftschutz-Spezialeinheit der Volksarmee, stationiert in Leipzig-Markleeberg. Er erzählt:

„Wir waren eine sogenannte bakteriologische Entaktivierungseinheit – das heißt, wir sollten die Bevölkerung im Ernstfall vor den Folgen von chemischen Waffen und auch vor radioaktiver Verseuchung schützen. Man hatte uns im politischen Unterricht ja beigebracht, daß die westdeutschen Militaristen einen Atomkrieg vorbereiten. An diesem Nachmittag noch hatte unsere ‚Entaktivierungseinheit’ ein Manöver mit Gasmasken-Gebrauch. Eine Pioniereinheit aus derselben Kaserne übte mit schwerem Gerät Brückenbau. Es wurden Kampfhandlungen mit Platzpatronen ausgetragen. Am frühen Abend mußten die Pioniere zuerst ausrücken. ‚Zum Stacheldrahtfahren’ hieß es. Wir dachten erst, das sei ein Kennwort für ein besonders schwieriges Fahr-Manöver. Wir waren alle grenzenlos überrascht, als die Lastwagen tatsächlich mit riesigen Stacheldrahtrollen beladen wurden. Auch Spanische Reiter und Betonpfähle wurden auf die Ladeflächen gehoben. Die Lkws fuhren damit aus dem Kasernengelände raus – keiner wußte genau, wohin.”

Ostberlin, um diese Zeit sonst still und dunkel wie ein großes Dorf, wird kurz nach Mitternacht aus dem Schlaf gerissen. In Tausenden von Wohnungen geht wieder das Licht an. Türen werden geschlagen. Schritte hallen über den Asphalt. Über die schwachbeleuchteten Straßen rollen Wartburgs und Trabants und ziehen Wolken von Zweitakt-Auspuffgasen hinter sich her. Funktionäre der SED, Betriebsleiter, Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes, Angehörige der Betriebskampfgruppen werden zu ihren Dienststellen und zu Treffpunkten gerufen, die für den „Einsatzfall” ausgemacht worden sind.

Das „Zentralinstitut für Geschichte der DDR” schildert später den Aufbruch eines Betriebskampfgrupplers: „Sein Telefon schrillte kurz nach Mitternacht. Walter Lembke, Kommandeur des 7. Bataillons der Berliner Kampfgruppen, fuhr schlaftrunken aus dem Bett und griff zum Hörer. Von einer ihm bekannten Stimme hörte er nur einen kurzen Satz. Keinen Befehl. Keine Losung. Nur eine schlichte Aufforderung: ‚Walter, mach dich fertig!’” Mit einem Stoßseufzer der Erleichterung fügte der Mann am anderen Ende der Leitung hinzu: ‚Es ist soweit!’ Walter Lembke war mit einem Schlag hellwach. Er verstand sofort, daß es um entscheidende weitreichende Aktionen ging ... Hatte der Gegner den beabsichtigten Putsch in der DDR inszenieren können? Aber nein, dann hätte der Nachsatz anders geklungen. Hatte der Westen einer friedlichen Lösung der Berlinfrage zugestimmt? Warum aber wurde dann sein Bataillon alarmiert? – Eines stand bald für ihn fest: Es wurde eine Operation durchgeführt, um den Gefahrenherd Westberlin einzudämmen. Er warf den Hörer auf die Gabel und sprang auf ...”

So oder ähnlich kommen in dieser Nacht mehr als 4000 Angehörige der Betriebskampfgruppen der DDR aus ihren Betten.

Der Unteroffizier der Grenztruppen der Nationalen Volksarmee Conrad Schumann, erst 19 Jahre alt, ein junger Mann mit noch kindlich weichen Gesichtszügen, wird von seinen Kameraden wachgerüttelt. Sie liegen zu sechst in einer Stube in einer Volksarmee-Kaserne bei Zepernick, am Stadtrand von Ostberlin. Schumann hat wie seine Kameraden in voller Uniform geschlafen. Der Sohn eines Schäfers aus Sachsen, der selber Schäfer war, bevor er sich freiwillig zum Dienst bei der Grenzpolizei meldete, erzählt: „Wir hatten Alarmbereitschaft, obwohl wir gerade erst, völlig kaputt, aus einem 14 Tage dauernden Manöver zurückgekommen waren. Wir hatten lange Nachtmärsche gemacht, Bunker gegraben und den Angriff eines Feindes aus dem Westen zurückgeschlagen. Als ich geweckt wurde, wußte ich im ersten Moment gar nicht, wo ich war. Mein Kamerad sagte nur: ‚Los, steht auf, Mensch, wir müssen an die Grenze!’”

Conrad Schumann steigt in seine Stiefel, stülpt sich den Stahlhelm über die braunen Haare, läuft mit seinen Kameraden in die Waffenkammer, nennt dort zwei Kennzahlen und bekommt seine numerierten Waffen ausgehändigt, eine russische MP 42 und eine Tokavow M 33-Pistole. Er schnallt sich das Sturmgepäck auf den Rücken. Inhalt: Unterwäsche, Kochgeschirr und Verpflegung. Im Verpflegungsbeutel sind Brot und Butter, Konservendosen und Schokoladenriegel – davon wird er in den nächsten 48 Stunden leben müssen.

Conrad Schumann klettert zusammen mit den sechs Leuten seiner Gruppe auf einen Schützenpanzer. Inmitten einer langen Karawane von Militärfahrzeugen fahren sie durch das dunkle Berlin. Sie kommen durch die Leninallee, fahren durch Seitenstraßen am Alexanderplatz und am Marx-Engels-Platz vorbei, rollen dann parallel zur Straße Unter den Linden entlang, immer Richtung Westen. „Ich weiß nicht mehr genau, was mir so alles durch den Kopf gegangen ist. Aber es war das erste Mal, daß ich nicht zu einem Manöver, sondern zu einem Ernstfall ausgerückt bin. Irgendwie war das ein komisches Gefühl – vielleicht auch ein bißchen Angst. Ein Kamerad sagte: Vielleicht gibt’s Krieg.’”

Während immer mehr Panzer, Lastwagen und Motorräder durch die Straßen Ostberlins fahren, tickert um 1.11 Uhr der „Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst” (ADN) an alle Zeitungs- und Rundfunkredaktionen hintereinander mehrere Sondermeldungen durch. Kurz darauf unterbricht der Ostberliner Rundfunk seine Sendung „Schöne Melodien in der Nacht”. Der Nachrichtensprecher verliest die ADN-Meldung mit der Überschrift „Erklärung der Regierungen der Warschauer Vertragsstaaten”. Der Kernsatz lautet: „Die Regierungen der Warschauer Vertragsstaaten wenden sich an die Volkskammer, an die Regierung der DDR und an alle Werktätigen der Deutschen Demokratischen Republik mit dem Vorschlag, an der Westberliner Grenze eine solche Ordnung einzuführen, durch die der Wühltätigkeit gegen die Länder des sozialistischen Lagers zuverlässig der Weg verlegt und rings um das ganze Gebiet Westberlins einschließlich seiner Grenze mit dem demokratischen Berlin eine verläßliche Bewachung und eine wirksame Kontrolle gewährleistet wird.”

Nach einer halben Stunde Fahrt mit dem Schützenpanzer durch Ostberlin trifft die Gruppe des Grenzpolizei-Unteroffiziers Conrad Schumann am Brandenburger Tor ein. Sie wird von einem Offizier in Empfang genommen. Der sagt militärisch knapp, worum es geht: „Wir nehmen jetzt unsere Staatsgrenze zum Schutze gegen die Feinde des Sozialismus unter Kontrolle!”

Es ist halb zwei Uhr in der Nacht des 13. August.

Das Brandenburger Tor wird von Scheinwerfern in helles Licht getaucht. Der Himmel darüber ist dunkel verhangen, aber es regnet nicht. Die Nachttemperatur ist sommerlich mild, 15 Grad.

Mehrere hundert DDR-Soldaten sind mit ihren Fahrzeugen auf der Ostseite des Brandenburger Tores eingetroffen. Offiziere laufen aufgeregt zwischen den angetretenen Gruppen hin und her. Befehle werden mehr geflüstert als gerufen. Panzerketten rasseln.

„Mitten in diesem Durcheinander standen wir erst einmal ziemlich dumm herum”, erinnert sich Unteroffizier Conrad Schumann, „keiner hatte uns ja beigebracht, wie man so etwas eigentlich macht – die Staatsgrenze unter Kontrolle nehmen.”

Die Mauer

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