Читать книгу Danke Duke! - Jürgen Ruhr - Страница 5
Der Modellbahnclub
Оглавление„Hmm“, klang es hinter der Zeitung hervor und in mir begannen alle Alarmglocken zu schrillen.
„Hmm Hmm.“
Wie jeden Sonntag saßen mein Göttergatte Martin und ich am Küchentisch und frühstückten. Gemeinsam. Soweit man es ‚gemeinsam‘ nennen konnte, wenn man einer kostenlosen Anzeigenzeitung gegenübersitzt und gelegentlichen Grunzlauten lauschen muss. Oder einem ‚Hmm‘ wie jetzt.
Martin und ich hatten es geschafft. Noch nicht ganz, denn bis zur Rente würde es noch etwas dauern, doch die Kinder waren aus dem Haus und es ist ein erhebendes Gefühl, wenn der dreißigjährige Sohn eines Tages (es war kurz nach Mittag) in die Küche gestiefelt kommt, bekleidet mit einem fleckigen Pyjama und sagt: „Morgen. Was gibt’s zu essen?“ Soweit war das nichts Besonderes, doch die folgenden Worte, die er dann hinzufügte, ließen mich innerlich jubeln. „Ich ziehe am Wochenende zu Uschi.“
Uschi ist die Freundin unseres Sohnes, die beiden kannten sich jetzt zwei Monate und für ihn war es die große Liebe und das Sprungbrett in die Freiheit. Uschi arbeitete als Friseuse und ich hoffte, dass sie unseren Sohn mit ihrem Gehalt würde ernähren können. Denn leider befand sich Kai - unser lieber Sohn - noch in seiner ‚Selbstfindungsphase‘, die verhinderte, dass er einer geregelten Arbeit nachging.
Ganz anders als sein jüngerer Bruder, den wir geschickter Weise ans andere Ende der Welt verfrachtet hatten, wo er mit echtem Fleiß einem Hochschulstudium nachging.
Ich unterdrückte ein Grinsen und stellte vor meinen Sohn einen großen Teller mit Nudeln und Gulasch auf den Tisch.
„Esst ihr nichts?“, fragte Kai und es klang eher desinteressiert.
„Schau doch mal auf die Uhr, wie haben schon längst gegessen. Guten Appetit.“
Er stopfte sich eine randvolle Gabel in den Mund, dann blickte mich mein geliebter Sohn an und nuschelte: „Kannst du mir mal den Paprikastreuer geben?“ Der stand auf dem Tisch, befand sich allerdings außerhalb seiner Reichweite, so dass Kai sich ein wenig hätte erheben müssen. Ich schob ihm den Streuer hin.
„Kai, bist du ganz sicher, dass ihr zusammenziehen wollt?“, stichelte ein Teufelchen in mir, doch irgendwie musste ich schließlich die fürsorgliche Mutter spielen.
Mein Sohn nickte ernst und ein paar Nudeln rutschten von seiner Gabel auf die Schlafanzugjacke. Die Flecken würde ich ohne Spezialbehandlung nie herausbekommen, doch andererseits passten sie sehr gut zu dem Muster. „Das war Uschis Idee. Sie meint, dass ein Mann doch nicht ewig bei seinen Eltern leben kann.“
Kluges Mädchen.
Aber wieder meldete sich das Teufelchen in mir. Wollte es etwa verhindern, dass Kai auszog? „Und wovon wollt ihr leben? Auf eigenen Beinen zu stehen kann sehr teuer sein.“
Mein Sohn machte eine wegwerfende Handbewegung. „Uschi hat doch die Wohnung, die muss sie ja ohnehin bezahlen. Außerdem schneidet sie einigen Leuten noch nebenbei die Haare, da kommt auch ganz schön was bei rum.“
Ehrlich gesagt wartete ich darauf, dass mein Sohn nun erklären würde, auch er wolle einer Tätigkeit nachgehen, doch stattdessen meinte er lediglich lakonisch: „Und ich brauche ja nicht viel.“
Nun, dem hätte ich am liebsten widersprochen, doch diesmal schaffte ich es, das Teufelchen in mir zum Schweigen zu bringen. Es stand mir nicht zu, Kai daran zu erinnern, dass er zwei warme Mahlzeiten am Tag brauchte und mitten in der Nacht, wenn er von einer seiner ‚Partys‘ nach Hause kam, noch den halben Kühlschrank plünderte.
„Ja, wenn das so ist ...“ Er würde mir nicht wirklich fehlen, denn ebenso wie sein Bruder, konnte er uns ja regelmäßig besuchen.
„Kann ich noch einen Teller bekommen? Das schmeckt wirklich gut. Was ist denn das?“
„Gulasch.“ Und natürlich gab ich ihm noch einen hohen Teller voll mit Nudeln und Fleisch.
„Mama?“
Kai nannte mich mit seinen dreißig Jahren immer noch ‚Mama‘, was manchmal schon ein wenig peinlich werden konnte. Hier zu Hause war mir das egal.
„Mama? Uschi meint, dass wir allerdings ein neues Bett bräuchten. Ein Doppelbett.“
Jetzt schaltete das Teufelchen auf Humor und ich hörte mich sagen: „Ein Doppelbett? Ihr wollt doch wohl nicht zusammen schlafen? Ihr seid doch noch nicht einmal verheiratet.“
Die Gabel mit den Spaghetti und der Soße verharrte plötzlich direkt vor dem Mund meines Sohnes und langsam rutschten die Nudeln, Soße und ein Bröckchen Fleisch auf seine Jacke. „Mama!“, meinte er entsetzt, „wir sind doch erwachsene Menschen und keine Kinder mehr. Natürlich müssen wir in einem Bett schlafen.“
Nun, darüber konnte man geteilter Meinung sein. Insbesondere, wenn ich an die Nächte mit meinem Martin dachte, in denen er schnarchend und furzend neben mir lag und ich mich nach einem eigenen Raum mit einem eigenen Bett sehnte. War ich dann endlich eingeschlafen, so weckte mich mein lieber Gatte regelmäßig beim ersten Sonnenstrahl, indem er an meinen Brüsten herumspielte und mir anschließend beweisen wollte, dass er mit seinen fünfundfünfzig Jahren immer noch ein ‚ganzer Mann‘ war.
Vielleicht würde ich ja in Kais Zimmer ziehen können, wenn ich die Wechseljahre vorschob. Selbst Martin müsste dafür Verständnis zeigen.
„Mama?“
„Ja mein Schatz?“
„Hast du gehört, was ich gesagt habe?“
„Aber natürlich, mein Schatz. Wir werden zwar traurig sein, wenn du hier ausziehst, doch du - und Uschi - ihr könnt uns ja jederzeit besuchen.
„Das meine ich nicht, Mama. Das Doppelbett, weißt du ...“
„Ach so, das Doppelbett. Was ist mit dem Doppelbett?“
„Nun, Uschi hat nicht genügend Geld für die Anschaffung und ... also ... ich müsste ja auch etwas in die Gemeinschaft einbringen.“
‚Reicht es nicht, dass du dich einbringst?‘, hätte ich fast gefragt, nickte aber lediglich. Mir war schon klar, worauf mein Sohn hinauswollte, doch so einfach würde ich es ihm jetzt nicht machen. Trotzdem war da wieder dieses Teufelchen: „Du könntest zunächst eine Luftmatratze benutzen, bis ihr euch das Bett leisten könnt ...“
„Aber Mama!“, schrie Kai auf. „Nein, dann kann ich ja gleich hier wohnen bleiben.“
Nun, das wollte ich auf keinen Fall und auch das Teufelchen erkannte, dass es jetzt vorsichtiger agieren musste, damit sich unser Sohn die Sache nicht doch noch anders überlegte.
„Weißt du was, Kai? Papa und ich schenken euch ein Doppelbett.“ Irgendwo musste doch etwas Gebrauchtes günstig zu bekommen sein. „Als Start in den gemeinsamen Hausstand sozusagen.“
Kai schob den leeren Teller von sich und wischte mit der bloßen Hand Soße und Spaghetti von der Pyjamajacke auf den Boden. „Hast du noch etwas von dem Zeug? Schmeckt wirklich ganz gut.“
„Nein, das war der letzte Rest. Bist du denn immer noch nicht satt?“ Ich bezweifelte, ob Uschi meinen Sohn mit ihrem Gehalt wirklich würde ernähren können.
„Haben wir denn noch von dem Fisch?“
„Fisch?“ Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass ich in den letzten Tagen Fisch zum Mittag gekocht hätte.
„Ja, den in der Dose. Mit Tomatensoße.“
Das also meinte er. Ich seufzte leise und kramte eine Dose aus dem Vorratsschrank. „Möchtest du auch Brot dabei?“
„Brot? Nee danke. Dann lieber noch ein paar Nudeln.“
Ich stellte die Dose mit dem toten Fisch in der ekligen Soße vor ihn auf den Tisch.
Kai sah mich entgeistert an. „Kannst du die nicht aufmachen? Ich bekleckere mich doch immer so, wenn der Deckel aufgeht. Du kannst das viel besser.“
Während mein Sohn den Fisch in sich hineinschaufelte und einige Stückchen auf seiner Jacke landeten, griff ich das Thema mit dem Bett noch einmal auf. „Vater und ich werden euch ein Bett besorgen. Das bekommt ihr dann nächste Woche.“ Ich würde am Wochenende in einer von diesen kostenlosen Anzeigenblättern nach einem günstigen gebrauchten Bett suchen. Was man nicht alles für seinen lieben Sohn tat ...
„Mama! Das ist doch nicht notwendig. Uschi und ich haben uns doch schon ein Bett ausgesucht. Es genügt vollkommen, wenn ihr mir das Geld gebt. Du musst dir nicht immer so viel Mühe machen. Ich bin doch erwachsen! Außerdem muss das Bett doch zur Einrichtung der Wohnung passen.“
„Ach so. Und was kostet so ein Bett?“
„Eintassssenenndfnnfnfhund“, nuschelte er.
„Wie viel? Kannst du mal etwas deutlicher sprechen?“
„Eintausendfünfhundert.“
„Eintausendfünfhundert?“ Vermutlich hatte ich mich verhört. „Redest du von Euro?“ Unser Doppelbett hatte damals gerade einmal zweihundertfünfzig Mark gekostet. Und das erschien uns schon sehr teuer. Aber schließlich war es schon eine Weile her, dass wir unser Schlafzimmer eingerichtet hatten. Alles wurde ja ständig teurer.
Kai nickte. „Natürlich Euro, was denkst denn du? Die Anlieferung ist aber kostenlos.“
„Was soll denn das für ein Bett sein? Luxus oder was?“
Jetzt schüttelte mein Sohn den Kopf. „Kein Luxus, Mama. Ein ganz normales Boxspringbett, denkst du denn wir wollen im Luxus schwelgen? Mama, da solltest du deinen Sohn aber besser einschätzen.“
Nun, ich kannte Boxen und Springen, doch in dieser Kombination hatte ich von den Disziplinen noch nie gehört. Ich stöhnte leise, dann kam mir eine Idee: „Das sollten wir mit deinem Vater besprechen. Schließlich hat er das letzte Wort in finanziellen Dingen.“
Mein lieber Mann Martin schüttelte vehement den Kopf, als ich ihm später von dem Gespräch mit Kai und von dem Bett erzählte. „Eintausendfünfhundert? Ist der Junge wahnsinnig? Ich geh doch nicht den ganzen lieben langen Tag arbeiten, damit sich mein Sohn mit so einer ... einer ... also einer den ganzen lieben langen Tag im Luxusbett herumlümmelt. Das soll er sich mal direkt aus dem Kopf schlagen.“
„Martin“, gab ich zu bedenken, „wenn er nicht das Bett bekommt, dann kann es sein, dass er sich weiterhin hier zu Hause den ganzen lieben langen Tag in seinem Bett herumlümmelt. Außerdem arbeitest du nicht den ganzen lieben langen Tag ...“ Mein Gatte hatte mit seinem Arbeitgeber eine Übereinkunft getroffen, die ihm erlaubte, pünktlich zum Mittagessen nach Hause zu kommen, was mich dummerweise dazu verpflichtete, auch tagtäglich eine Mahlzeit zu kochen. Den Männern gefiel das allerdings.
„Wegen der Kurzarbeit im Betrieb verdiene ich doch sowieso schon weniger“, murrte mein Mann.
„Die Kurzarbeit, die du unbedingt haben wolltest.“ Auch meinem Mann gegenüber ließ sich das Teufelchen vorwitzig blicken: „Vielleicht solltest du ja mit deinem Chef reden, dass er dich wieder etwas mehr arbeiten lässt. Ich glaube, der hätte nichts dagegen.“
„Das wäre ja noch schöner“, donnerte Martin. „Ich rackere mich mein ganzes Leben lang ab und endlich kann ich etwas kürzertreten, um meine Kräfte im Alter zu schonen, und dann soll ich wieder voll arbeiten gehen?“
„Den lieben langen Tag“, nickte ich.
„Wo ist dein Sohn eigentlich?“, grollte der Mann, um dessen Sohn es sich ebenfalls handelte.
„Der ist zu seiner Freundin geeilt.“
Martin sah auf seine Armbanduhr, die er mit Stolz verkehrtherum am rechten Handgelenk trug. Es war eine dieser Computer-Smartwatches, die momentan merkwürdigerweise den Markt eroberten. Er hatte das Ding günstig im Versandhandel erstanden und eigentlich sollte es - ähnlich einer eierlegenden Wollmilchsau - alles können. Telefonieren, Puls, Blutdruck und Herzfrequenz anzeigen, Navigationsgerät sein und sogar die Zeit mitteilen. Einige der Funktionen fielen allerdings fort. Das Telefonieren war zu umständlich, denn auf dem winzigen Display eine Nummer einzutippen, gelang nur mit einem speziellen Stift, den Martin natürlich schon am zweiten Tag seines Uhrenbesitzes verloren hatte. Außerdem war die Verständigung dermaßen schlecht gewesen, dass er doch lieber wieder sein Handy benutzte. Eine weitere Funktion tat es noch, sofern man einen Blutdruck von knapp dreihundert zu zweihundert als normal ansah. In der Anfangszeit der Uhr war Martin deswegen jeden zweiten Tag zum Arzt gerannt, wo man ihn aber beruhigen konnte: Deren Messgeräte gaben normale Werte aus.
Blieb noch die Uhrzeit, die das kleine Gerät sogar per Sprachausgabe mitteilte. Da das Display aber die meiste Zeit - um Energie zu sparen, was sehr löblich ist - dunkel blieb, musste er zunächst einen winzigen Knopf, von denen sich drei an der Seite des Gehäuses befanden, drücken.
Und das tat mein Mann jetzt.
„Three post meridian and twufhsfjs ...“, erklang es überlaut und kaum verständlich aus dem Gerät. „Your blood pressure is fourhundred and twenty to thirty“, folgte die nächste Information. Vermutlich hatte Martin wieder mehrere dieser Miniaturknöpfe gedrückt.
„Hier ist der ADAC Notruf. Was können wir für sie tun?“ Auch das Telefon mit der Direktwahl schien wunderbar zu funktionieren. Und diesmal war der Mann am anderen Ende der Leitung wirklich gut zu verstehen gewesen.
„Entschuldigung, falsch verwählt“, stammelte mein Gatte und drückte wie wild auf dem Display herum. „Hallo?“, klang es erneut aus dem Gerät. „Hier ist der ADAC. Bitte nennen sie ihren Namen und ihre Kundennummer. Wo befinden sie sich?“
„Zu Hause“, gab Martin von sich und drückte weiter auf die Uhr.
„Your blood pressure is eighty to ninehundred.“
Martin warf einen Blick auf die Küchenuhr an der Wand. „Jetzt, um diese Zeit?“, fragte er. „Die Friseuse ist doch noch gar nicht zu Hause. Was will er denn dort schon?“
Zunächst war mir nicht ganz klar, wovon mein Gatte jetzt sprach, doch ich schaltete schnell. „Na vielleicht will er sich schon daran gewöhnen, bei ihr zu wohnen. Wenn Kai ja am Wochenende schon umzieht ...“
„Darüber werden wir noch reden. Der Junge kann doch nicht so einfach hier ausziehen. Was denkt er sich denn eigentlich?“
„Martin, du willst doch auch, dass unser Sohn selbständig wird. Er kann doch nicht ewig am Rockzipfel seiner Mutter hängen.“
Das gab ihm zu denken. „Und an dem seines Vaters“, pflichtete mein guter Mann mir bei. „Aber eintausendfünfhundert Euro? Das ist eine Menge Geld.“
„Aber nur eine geringe Summe für die Freiheit, die wir dann genießen können“, gab ich zu bedenken. „Wir könnten ... könnten ... viel spontaner werden, wenn du weißt, was ich meine.“ Ich beugte mich zu ihm herab, so dass er in meinen Ausschnitt sehen konnte.
„Ja, hmm, also eigentlich hast du ja Recht, Birgit. Wenn ich das mal so betrachte ...“ Er versuchte nach mir zu greifen, doch ich wich ihm geschickt aus. „Martin!“, rügte ich ihn und mein Tonfall klang so sinnlich, wie schon lange nicht mehr. „Wenn Kai jetzt nach Hause kommt ... Da müssen wir noch ein wenig warten.“
Jetzt musste es mir nur noch gelingen, Martin davon zu überzeugen, dass ich in Kais Zimmer ziehen musste, sobald der Junge aus dem Haus war.
„Woran denkst du, Birgit?“, riss mich mein Gatte aus den Gedanken. Ich lächelte, schließlich war es mir ein paar Tage nach Kais Auszug wirklich gelungen, in dessen Zimmer umzusiedeln.
„Ach nichts. An die schöne Zeit, die wir miteinander haben. Das gemeinsame Frühstück, die vie...“
„Ja ja“, knurrte Martin. „An was du schon wieder denkst. Hier, das ist wichtig.“ Er klopfte mit dem Handrücken gegen die Zeitung und traf dabei seine Kaffeetasse, die scheppernd umfiel. Hellbrauner Kaffee - wegen der vielen Milch - ergoss sich über den Tisch. Rasch sprang ich auf und holte den Lappen aus der Spüle.
„Kannst du denn nicht einmal in Ruhe sitzenbleiben und mit mir reden?“, fragte der Göttergatte und seufzte vernehmlich. Ich sah ein, dass er es nicht leicht hatte und kroch auf dem Boden herum, um den herabtropfenden Kaffee aufzuwischen.
„Jetzt setz dich endlich an den Tisch, Birgit. Ich habe dir etwas mitzuteilen. Weißt du, was hier in der Zeitung steht?“
Ich setzte mich wie befohlen. Nein, was in der Zeitung stand, wusste ich nicht und es interessierte mich auch eigentlich recht wenig.
„Das hier ist die Seite mit den Veranstaltungstipps“, erklärte Martin und klopfte wieder gegen die Zeitung. Gut, dass die Tasse jetzt außerhalb seiner Reichweite stand. Andererseits war sie aber leer, so konnte nicht mehr viel passieren. „Veranstaltungstipps“, wiederholte er, so als hätte er die Lösung einer noch nie dagewesenen Formel gefunden.
„Ja, Veranstaltungstipps“, echote ich, um überhaupt etwas zu sagen.
„Unterbrich mich nicht. Wo war ich stehengeblieben?“
„Veranstaltungstipps.“
„Ach so. Ja. Hier steht etwas, das auch dich interessieren dürfte. Wir werden heute bei dem herrlichen Wetter den Tag in der Stadt genießen.“
Ich warf einen kurzen Blick aus dem Fenster auf die grauen Wolken am Himmel. Ein Wunder, wenn es nicht regnen würde.
„Willst du denn gar nicht wissen, was hier steht, Birgit?“
‚Nein, eigentlich nicht‘, dachte ich, nickte aber lediglich.
„Heute ist Tag der offenen Tür und dort gehen wir hin.“ Martin hob stolz die Zeitung in die Höhe und schaffte es, mit einem Zipfel in die Marmelade zu geraten. Hastig wischte er die klebrige Masse mit der Handfläche ab.
Nun gibt es ja viele offene Türen und kaum eine Institution lässt eine Gelegenheit aus, sich zu präsentieren und vielleicht auch auf diese Art und Weise neue Mitglieder zu rekrutieren. Ich überlegte, was mir Spaß machen würde. Ob die Stadtbibliothek heute ihren ‚Tag der offenen Tür‘ hatte? Oder ein Museum? Wir waren lange nicht mehr in einem Museum gewesen. Wenn ich mich recht erinnerte, waren Martin und ich noch nie zusammen in einem Museum gewesen. Falls er das meinte, wäre es eine echte Premiere heute. Oder eher ein Handarbeitsgeschäft in der Innenstadt? Auch das würde mir gut gefallen.
Aber vielleicht sollte ich bescheidener denken und so fragte ich vorsichtig: „Wo ist denn ‚Tag der offenen Tür‘? Am Flugplatz? Pferderennbahn? Wo willst du hingehen Martin?“
Mein Mann sah mich grinsend an. „Da kommst du nie drauf, Birgit. Einmal darfst du noch raten, die zwei waren schon falsch.“
Wie ich diese Ratespielchen hasste. „Die öffentlichen Toiletten in der Innenstadt?“ Oh, dieses Scheiß-Teufelchen, das mich immer wieder verleitete, solche Dinge zu sagen ...
„Wie kommst du denn darauf, Birgit? Die sind doch immer offen, wozu sollte eine öffentliche Toilette denn einen Tag der offenen Tür veranstalten?“
„Das war ein Scherz. Außerdem würde keine Toilette solch einen Tag veranstalten, sondern der Betreiber.“
Mein Mann sah mich an, als wäre ich eine Außerirdische. Oder jemand, der in die Klapse gehört. „Ein Scherz? Damit macht man keine Scherze. Eine öffentliche Toilette ist eine wichtige Einrichtung, die den Menschen, gerade alten Menschen, ein Stück Freiheit gibt. Aber gut, du darfst noch einmal raten. Nur rate wohl, Birgit.“
Ich riss mich zusammen und fragte kleinlaut: „Der Zoo vielleicht?“
„So ein Quatsch. Die lassen keinen umsonst rein. Warum auch?“ Martin stöhnte leise, doch laut genug, dass ich es hören konnte. „Dann werde ich es dir sagen. Hier steht es schwarz auf weiß: Der Modellbahnclub veranstaltet heute seinen Tag der offenen Tür. Ist das nicht großartig, Birgit?“
Modellbahnclub? Wen interessierte denn so etwas? Nicht einmal Martin zeigte Interesse an Modelleisenbahnen, Modellautos oder was auch immer. Na gut, an Fotomodellen schon und je weniger Kleidung die trugen, desto freudiger begaffte er sie. Doch die hatten ja nichts mit einem Modellbahnclub zu tun. „Seit wann interessierst du dich für Modelleisenbahnen?“ Einmal lief im Fernsehen ein Bericht über eine ziemlich große Modelleisenbahn in Hamburg. Das war wirklich interessant, doch Martin schaltete schon nach fünf Minuten um. „So ein Kinderkram“, gab er gelangweilt von sich und betrachtete wohlwollend die halbnackten Frauen und Männer, die sich um einen Pool herumräkelten und bewiesen, dass es immer noch eine Steigerung von noch dümmer gab: nämlich noch noch dümmer.
„Das wird schon sehr interessant werden“, verkündete der plötzlich modellbahnbegeisterte Gatte und klopfte wieder auf die Zeitung. „Hier steht, dass es Grillwurst und Kotelett, sowie Freibier gibt.“
Wenigstens wusste ich jetzt, woher der Wind wehte.
Mein Ehegatte verschwand wieder hinter der Zeitung, grunzte hin und wieder zufrieden und bediente sich an Brötchen und Kaffee. Ich versuchte, mich seelisch auf einen öden Sonntag vorzubereiten. Modelleisenbahn. Na ja, es hätte auch schlimmer kommen können. Aber was war schlimmer, als mit einem Haufen Erwachsener, die nie ihrer Kindheit entkommen waren, im Keller zu stehen und irgendwelchen Modellbahnzügen dabei zuzusehen, wie sie im Kreis fuhren? Ich überlegte angestrengt, was für mich noch schlimmer sein könnte, doch mir fiel beim besten Willen nichts ein.
„Wir können zu Fuß dorthin gehen“, verkündete Martin, der jetzt die Zeitung ordentlich zusammenfaltete und sie auf den Tisch legte. „Es ist gar nicht weit.“
Erneut warf ich einen Blick aus dem Fenster. „Meinst du nicht, wir sollten uns das noch einmal überlegen?“, schlug ich vorsichtig vor. Die Wolken hatten sich vermehrt und sahen dunkel und bedrohlich aus. „Es wird bestimmt Regen geben.“
„Ach, Birgit“, stöhnte mein Mann. „Dann nehmen wir halt einen Schirm mit. Die Veranstaltung wird ohnehin im Gebäude sein. Weißt du was?“
Natürlich wusste ich nicht was, warum auch. Aber da war das kleine Teufelchen, das mich jetzt lächeln ließ. „Ja natürlich weiß ich was: Wir bleiben hier zu Hause und machen es uns gemütlich. Und zum Mittagessen bestellen wir uns etwas ins Haus, dann brauche ich noch nicht einmal zu kochen.“
„Birgit, Birgit“, rügte mich mein Liebster mit erhobenem Zeigefinger. „Wie kannst du nur so langweilig sein. Und kochen musst du ohnehin nicht, wenn es dort Grillwürste und so gibt. Nein, was ich meinte, ist: Ich werde meinen Fotoapparat mitnehmen.“
‚Oh mein Gott‘, wollte ich aufstöhnen und mir wurde flau im Magen. Wenn Martin sagte, dass er ‚seinen Fotoapparat‘ mitnehmen wollte, dann bedeutete das nichts anderes, als dass er seine Möchtegern-Profi-Fotografier-Ausrüstung zu diesem dämlichen Modellzeugs mitschleppen würde. Vor einiger Zeit lief im Fernsehen ein Bericht über Fotografen, ihre Ausrüstung und preisgekrönte Bilder, die mein guter Ehemann leider zufällig eingeschaltet hatte. Und diesmal blieb er der Sendung auch treu, weil Szenen gezeigt wurden, in denen Fotos für Unterwäsche gemacht wurden. Damenunterwäsche wohlgemerkt. Einen Tag später erwarb Martin alles, was er seiner Meinung nach - und der des Verkäufers - für die Ausübung einer fotografischen Tätigkeit benötigte. Da war eine übergroße, digitale Spiegelreflexkamera, mehrere Objektive, drei Blitzlichtgeräte, Fernauslöser und und und. Er hatte den ganzen Mist einmal mit in den Zoo genommen, danach landete die Ausrüstung im Schrank.
Und nun wollte er alles zu diesem Modellbahnclub mitnehmen! Ich erinnerte mich noch genau an dem Tag im Zoo, als ich die schwere Tasche mit dem Zubehör den lieben langen Tag schleppen ‚durfte‘. Und die Fotos, die er mir später stolz an seinem Rechner zeigte, waren entweder unscharf oder zeigten nur Ausschnitte von Tieren, wie zum Beispiel einmal nur die Beine eines Hirsches. „Meinst du denn, dass sich das lohnt?“, fragte ich. „Vielleicht sind dort ja auch viel zu viele Menschen und du kommst nicht dazu, gute Bilder zu machen. Dann lohnt sich doch die ganze Schlepperei nicht.“
„Du musst ja nichts schleppen“, knurrte Martin. „Und für ein paar hervorragende Bilder muss man auch Opfer bringen.“
Da wollte ich ihm nicht widersprechen, auch wenn ich das Attribut ‚hervorragend‘ nicht unbedingt benutzt hätte. Allerdings wollte nicht ich es sein, der dieses Opfer brachte, indem ich die große Fototasche tragen musste. Vielleicht fiel mir ja noch etwas ein, um das zu verhindern.
„Ich gehe mal und mache meine Ausrüstung fertig“, verkündete mein Gatte und wollte auf einen der Knöpfe seiner Smartuhr drücken, besann sich dann aber besser und blickte zur Wanduhr. „Um Punkt elf Uhr ist Abmarsch“, verkündete er dann. „Uhrenvergleich.“ Nun drückte er doch auf einen der Knöpfe.
„Your blood pressure is eightynine to twentyone.“
Immerhin schien der Mann ziemlich ausgeglichen zu sein.
„Four ante meridian and eight minutes.“
Nun, Martin würde seine Armband-Smartwatch noch einmal stellen müssen.
„Also elf Uhr“, erinnerte er mich erneut. Wenigstens blieb diesmal der ADAC bei seinem Drücken auf die kleinen Knöpfe von einem Anruf verschont.
Fünf Minuten vor elf Uhr stand ich abmarschbereit in unserer kleinen Diele. Ich hatte mich mit einer Einkaufstasche bewaffnet und hoffte, diese kleine Finte würde mir die Schlepperei der Fotoausrüstung ersparen. Die Tasche war vollkommen leer, doch das brauchte Martin ja nicht zu erfahren. Ich wartete geduldig und zehn Minuten später erschien mein Mann in der Diele. Um seinen Hals hing die riesige Kamera und er zog einen Rollkoffer hinter sich her.
„Willst du verreisen?“, fragte ich entgeistert. Wenigstens vorwarnen hätte der Kerl mich doch können ...
Martin grinste. „Ach wo. Ich hatte nur keine Lust, meine Fotoausrüstung zu tragen und dann kam mir diese geniale Idee. Bist du endlich fertig, können wir gehen?“
Ich verkniff mir, ihn darauf hinzuweisen, dass ich schon zehn Minuten hier stand und nickte nur. Vorsichtshalber griff ich mir einen Schirm.
„Was willst du denn damit? Es wird schon nicht regnen! Warte, ich habe noch etwas vergessen.“ Er ließ den Rollkoffer stehen und verschwand im Schlafzimmer. Sekunden später kam er mit einer Art Tropenhelm auf dem Kopf zurück. Das Ding hatte sich mein lieber Gatte in einem Anflug von Abenteuerlust auf einem Trödelmarkt gekauft und ich traute mich bis heute nicht, ihm zu sagen, wie dämlich er damit aussah. Aber es war auch das erste Mal, dass er den Helm in der Öffentlichkeit tragen wollte.
‚Jetzt fehlt nur noch das Jagdgewehr‘, lächelte das Teufelchen in mir und ich konnte mir nicht verkneifen zu bemerken: „Auf zur Lokomotivenjagd.“
„Birgit, du hast einen merkwürdigen Humor. Aber irgendwie muss ich dir beipflichten: Nur, dass ich mit meiner Kamera auf die Jagd gehe.“ Martin meinte völlig ernst, was er da sagte und während ich ihm folgte, verdrehte ich die Augen. Das konnte ja heiter werden.
Wir waren noch keine zehn Minuten unterwegs, als es zu regnen begann. Erst nur ganz wenig, doch dann folgten die ersten dickeren Tropfen. Zum Glück trug ich meinen Schirm bei mir und mit ein wenig Schadenfreude beobachtete ich, wie meinem geliebten Mann das Wasser von dem Tropenhelm in den Nacken lief.
„Halt doch mal den Schirm über mich, die Kamera wird doch ganz nass“, verlangte er, dann nahm er ihn mir aus der Hand. „Ich zeige dir mal, wie das geht ...“ Er drückte mir den Griff des Rollkoffers in die Hand. „Siehst du, so musst du den Schirm halten.“
Jetzt lief mir das Wasser an der rechten Schulter herunter.
Eine halbe Stunde später - ich war inzwischen nicht nur an der rechten Schulter durchnässt - standen wir vor einem unscheinbaren Mehrfamilienhaus. Ein Pfeil auf einem Pappschild wies in Richtung des Gartens und unter dem Pfeil stand ‚Modellbahnausstellung‘.
„Hier sind wir richtig“, grinste Martin, der mittlerweile den Schirm vollkommen für sich beanspruchte und folgte dem Hinweispfeil. Ich trottete mit dem Rollkoffer hinter ihm her.
Wir erreichten ein kleines Gartentor, neben dem ein Campingtisch, mit einer jungen Frau dahinter, stand. Ein Sonnenschirm diente als Regenschutz und die Frau sah uns erwartungsvoll entgegen.
„Herzlich willkommen beim Tag der offenen Tür“, säuselte sie. „Zwei Erwachsene?“
Ich blickte mich um, konnte aber niemanden außer uns entdecken.
Martin nickte. „Ja, zwei Erwachsene. Meine Frau und ich.“
„Das macht Zweiundvierzig Euro.“
Ich sah das junge Ding entgeistert an. „Einundzwanzig Euro pro Person?“, fragte ich dann. „Wofür?“ Dann sah ich Martin an: „Stand das auch in der Zeitung?“ Der schüttelte nur den Kopf.
„Im Preis ist alles inbegriffen. Das Essen, ein Getränk, was sie wollen. Sie bekommen auch Wertmarken von mir.“ Die Frau sah meinen Mann auffordern an und hielt die Hand auf. „Und natürlich die Besichtigung der Modellbahn.“ Dann fügte sie spitz hinzu: „Für Mitglieder ist der Eintritt natürlich frei.“
Martin grinste selig. „Dann werden wir natürlich Mitglieder. Wo muss ich unterschreiben?“
„Das klären sie am besten mit unserem Vereinsvorsitzenden Herrn Müller.“ Die junge Dame hielt immer noch die Hand auf.
„Und wo finden wir den?“ Irgendwie hatte ich doch gewusst, dass die ganze Sache einen Haken haben würde.
„Drinnen. Bei der Modellbahn.“
Martin wollte an dem Tisch und der Frau vorbeigehen, doch die hielt ihn zurück: „Hallo, sie müssen erst bezahlen, sie können doch nicht so einfach dort hineingehen.“
„Aber wir wollen doch Mitglieder werden. Ich denke, Mitglieder kommen umsonst herein.“
Plötzlich erklang hinter mir eine barsche Männerstimme und ich drehte mich erschrocken um. „Wieso geht das nicht voran da vorne? Wir wollen nicht ewig hier im Regen stehen!“
Das wollte ich auch nicht. Ich sah mir den Sprecher an, ein bärtiger Mann, der drei kleine Jungs im Schlepptau hatte, die sich unablässig zankten.
„Wollen sie nun rein oder nicht?“, ließ sich die Frau wieder vernehmen. „Wenn nicht, dann geben sie den Weg für die anderen Gäste frei!“
Ich sah, wie Martin ihr das Geld hinblätterte und im Gegenzug einige Wertmarken, wie ich sie vom Schützenfest her kannte, entgegennahm. Rasch betraten wir das Grundstück.
Der Weg führte in einen ungepflegten Garten, in dem unter einem Sonnenschirm ein einfacher, kleiner Holzkohlengrill stand, auf dem mehrere Bratwürste schmorten. Unter einem weiteren Sonnenschirm befand sich ein Tischchen mit einem Bierfass, um das sich mehrere Männer gruppiert hatten. Martin steuerte direkt auf sie zu.
„Guten Tag“, grüßte mein geliebter Gatte freundlich und deutete auf das Fass. „Ich hätte gern ein Bier.“
„Willkommen, willkommen“, antwortete ihm ein schmächtiges Männchen und zog einen Plastikbecher hervor. „Macht vier Wertmarken.“
Mit dem Bier in der Hand näherten wir uns einer Treppe, die offensichtlich in den Keller führte. Auch hier fand sich ein Hinweisschild, das uns den Weg zur ‚Modellbahnausstellung‘ zeigte.
„Hallo, sie da!“, rief das Männchen hinter uns her. „Bitte keine Getränke oder Speisen mit in die Ausstellung nehmen. Gegessen und getrunken wird hier draußen!“
Martin leerte den Becher mit dem inzwischen durch den Regen verdünnten Bier in einem Zug. Dann wollte er das Plastikgefäß neben der Treppe abstellen, doch wieder rief uns das Männchen an: „Den dürfen sie nicht einfach dorthin stellen. Die Becher müssen wieder zu mir zurückgebracht werden!“
Endlich betraten wir den Keller des Hauses, nachdem ich den schweren Rollkoffer die Treppenstufen hinuntergetragen hatte. Ich war nass und kalt und fragte mich, ob es hier vielleicht auch einen Kaffee oder einen Tee zum Aufwärmen geben würde. Draußen hatte ich lediglich das Bierfass gesehen.
„Birgit, hier sind wir richtig. Wie spät haben wir?“
„Viertel vor Zwölf. Was ist mit deiner Uhr, hast du sie nicht mehr gestellt?“
Martin druckste ein wenig herum. „Tja ... nun. Ich hab’s versucht, doch die Zeit war zu knapp. Das muss ich mal in Ruhe machen.“
„Du hast es nicht einmal versucht?“
„Doch natürlich, aber nachdem im dreimal den ADAC am Telefon hatte, hab ich’s aufgegeben. Du hast doch auch eine Armbanduhr, was soll also die Fragerei?“
Wir standen in dem engen Kellerflur und plötzlich erklang wieder die Stimme des Bärtigen hinter mir: „Nun gehen sie doch endlich weiter. Sie blockieren hier ja alles. Oder machen sie Platz, meine Kinder und ich wollen endlich die Modellbahn sehen!“
Martin und ich eilten rasch weiter, während uns der Bärtige mit seinen lärmenden Kindern folgte. Dann erreichten wir eine Tür, über der ein handgemaltes Schild mit der Aufschrift ‚Modellbahncenter‘ prangte.
„Birgit, hier sind wir richtig.“
Ohne Martins fachkundigen Hinweis wäre ich da niemals draufgekommen.
Das ‚Modellbahncenter‘ hatte die Größe einer mittleren Waschküche, was dieser Raum auch einst gewesen sein musste. An einer Wand stand die Modelleisenbahn, die auf einer ehemaligen Tischtennisplatte aufgebaut worden war. Ein dicker Mann befand sich gerade dabei, mehrere entgleiste Waggons auf die Schienen zurückzustellen. Beim Lärm der Kinder drehte er sich erschrocken um.
„Willkommen, willkommen beim Tag der offenen Tür“, ließ er sich dann vernehmen und mit einem Blick auf die Kinder fügte er hinzu: „Ich muss sie bitten, hier nichts anzufassen. Eltern haften für ihre Kinder.“ Dann sah er uns an. „Das gilt auch für sie!“ Abrupt drehte er sich wieder um und fuhr in seiner Tätigkeit fort.
„Die ist aber mickrig“, krähte eines der Kinder und aus dem Augenwinkel sah ich, wie ein anderes an einem Modellbahntrafo herumdrehte.
Plötzlich schoss die Lok, die der dicke Mann auf die Gleise gestellt hatte, vorwärts, kam aber nur bis zur nächsten Kurve und entgleiste dort. „Nichts anfassen, nichts anfassen“, schrie der Dicke voller Panik. „Nehmen sie die Kinder zurück!“ Er stapfte zu dem Transformator und riss die Anschlusskabel heraus. „Das ist kein Kinderspielzeug“, wetterte er. „Die Bedienung hat nur durch zertifiziertes Fachpersonal zu erfolgen.“
„Dann bedienen sie doch mal“, hörte ich mich und das Teufelchen sagen. „Das ist aber wirklich eine kleine Modellbahnanlage. Die in Hamburg war viel größer ...“
„Dann müssen sie nach Hamburg fahren“, knurrte der Dicke und kehrte zu seiner entgleisten Lok zurück. Kaum wandte er um, drehte wieder eines der Kinder an dem Regler, doch dank der abgerissenen Kabel zeigte die Aktion keinen Erfolg.
Endlich stand die Lok auf den Schienen und der Dicke schob sie vor und zurück, dann koppelte er die Waggons an. Ich wartete darauf, dass er ‚tuuut tuuut‘ machen würde, doch stattdessen trat er an seinen Modellbahntrafo.
„Meine Damen und Herren“, verkündete er schließlich. „Kommen wir nun zur Vorführung unserer Anlage.“
Die Kinder zankten sich wieder, was ihren bärtigen Vater aber nicht zu stören schien.
„Ich bitte um Ruhe! Hallo, sie da, sorgen sie bitte dafür, dass die Kinder ruhig sind und meinem Vortag lauschen. Wenn sie den Ablauf stören, muss ich sie bitten, das Modellbahncenter zu verlassen.“
Die Kinder krakeelten weiter.
„Ruhe!“, brüllte der Dicke plötzlich und erschrocken hielten die Kinder inne.
Der Modellbahner zog einen Zettel hervor und las ab: „Willkommen zum Tag der offenen Tür in unserem Modellbahncentrum. Was sie hier vor sich sehen, ist das Werk jahrelanger Arbeit unserer Modellbahnspezialisten. Insgesamt haben wir rund fünftausend Stunden investiert, um dieses Wunderland hier entstehen zu lassen. Dabei orientierten wir uns an der Realität - zumindest so weit wie möglich. Einige Häuser sind sogar beleuchtet, wie sie später während der Nachtvorführung selber feststellen werden.“
„Nachtvorführung?“, fragte Martin jetzt entgeistert. „Ich hatte nicht vor, bis heute Nacht hier zu bleiben.“
„Bitte stören sie nicht die Vorführung“, grollte der Dicke, der durch Martins Frage aus dem Konzept gebracht worden war. „Nachtvorführung bedeutet, dass wir später einmal das Licht ausmachen. Dann ist für unsere Modellbahn Nacht.“
„Birgit, wie spät haben wir?“
Ich sah auf die Uhr, doch das kleine Teufelchen wollte ebenfalls seinen Spaß haben. „Oh“, machte ich erschreckt, „meine Uhr ist stehengeblieben.“
Martin sah mich böse an, dann drückte er auf einen Knopf an seiner Smartwatch. „ADAC Notruf, was kann ich für sie tun?“, klang es überlaut in dem Raum. Alle Augen wandten sich Martin zu.
„Äh ... verwählt“, stammelte der und drückte jetzt auf dem Display herum.
„Wenn sie telefonieren wollen, dann verlassen sie bitte das Modellbahncenter“, krähte der Dicke. „Ich fahre jetzt fort mit der Vorführung.“
„Meine Uhr ist doch nicht stehengeblieben“, flüsterte ich meinen geliebten Ehemann zu. „Zwölf Uhr fünfzehn.“
„Wir haben keine Kosten und Mühen gescheut“, dozierte jetzt wieder der Dicke, „um dieses einzigartige Wunderwerk auf die Beine zu stellen. Insgesamt wurden von uns hier ...“
Er rasselte eine Reihe von Daten herunter, doch ich hörte ihm nicht mehr zu, sondern beobachtete unauffällig die Kinder, von denen eines jetzt unter die Tischtennisplatte kroch. Der Dicke, der unablässig auf seinen Zettel schaute und davon ablas, bemerkte es nicht.
„Und jetzt ist der große Augenblick gekommen: Ich werde einen fahren lassen. Den Zug.“
Der Modellbahnmensch drehte an dem Regler auf dem Trafo und machte ein erstauntes Gesicht, als sich der Zug nicht in Bewegung setzte. Ich hätte ihn ja daran erinnern können, dass er selbst zuvor die Anschlusskabel abgerissen hatte, doch das Teufelchen verbot mir jede Einmischung.
Dann entdeckte der Dicke das Kind unter der Platte. „Komm sofort da raus!“, brüllte er und sein Kopf schwoll rot an. Sein Blick fiel auf den Vater: „Das ist hier kein Spielplatz. Ich muss sie bitten, das Modellbahncenter umgehend zu verlassen! Außerdem haben wir momentan offensichtlich ein kleines technisches Problem, das erst behoben werden muss.“
„Your blood pressure is fivehundred to seven.“ Martin hatte wieder auf seine Uhr gedrückt.
„Zwölf Uhr dreißig“, raunte ich ihm zu, um größeren Schaden zu vermeiden. Der Mann beim ADAC hatte bestimmt besseres zu tun, als erneut einen Anruf dieser unsäglichen Computeruhr entgegenzunehmen.
„Dann wird es Zeit für das Mittagessen“, bestimmte mein Mann.
Eine gute Idee, der ich nur zustimmen konnte. Vielleicht konnte ich ja endlich einen Kaffee bekommen.
„Komm Birgit, wir können uns die Bahn ja später noch einmal ansehen, wenn alles wieder funktioniert.“ Martin wandte sich zur Tür und ich folgte ihm mit dem Rollkoffer.
„Hallo, hallo. Wo wollen sie denn hin? Die Vorführung ist noch nicht beendet.“ Der Dicke drehte immer noch wie wild an dem Regler.
„Mittag“, gab Martin kurzangebunden zurück. „Bei uns wird um halb eins gegessen. Mahlzeit!“
Fünf Minuten später standen wir vor dem Bierfass. Zum Glück hatte der Regen jetzt aufgehört, doch weiterhin beherrschten dicke Wolken den Himmel. „Ein Bier bitte“, orderte mein Schatz.
„Und einen Kaffee“, fügte ich hinzu.
„Vier Wertmarken.“ Der Schmächtige stand leicht schwankend vor dem Fass und ließ Bier in den Plastikbecher laufen. „Kaffee haben wir nicht.“
„Dann bitte eine Limonade“, orderte ich demütig.
„Haben wir nicht. Hier gibt es nur Bier. Vier Wertmarken.“
Nein, Bier wollte ich nicht. Abgesehen davon, dass ich ohnehin kein Bier trank, war es noch ein wenig früh für alkoholische Getränke.
Was mein Mann allerdings anders sah, denn er trank den Becher auf einen Zug leer und bestellte direkt einen neuen.
„Vier Wertmarken“, ließ sich das schmächtige Männlein wieder vernehmen.
Martin schaute verdutzt drein. „Ich habe nur noch zwei. Die Frau am Eingang hat mir nur zehn gegeben.“
„Dann müssen sie noch Marken kaufen. Vorne am Eingang“, grinste der Schmächtige und sah auf das Bier. „Schade drum, na ja, dann opfere ich mich mal.“ Er hob den Becher an die Lippen und trank ihn auf einen Zug leer.
„Zwölf Uhr vierzig“, teilte ich meinem Göttergatten die aktuelle Zeit mit. „Wir sollten etwas essen.“
Die Männer, die vorhin noch am Fass gestanden hatten, ließen sich jetzt die Grillwürstchen schmecken und unterhielten sich dabei lautstark.
„Wir müssen erst noch Wertmarken kaufen. Ich habe nur noch zwei davon“, grummelte Martin und zog Richtung Eingang davon. Ich folgte ihm mit dem Rollkoffer und knurrendem Magen.
„Eine Marke ein Euro“, hörte ich die junge Frau sagen und schon hielt sie wieder die Hand auf. „Wie viele Marken wollen sie denn?“
Mein Mann überlegte. „Was kostet denn eine Bratwurst?“, fragte er dann.
„Vier Wertmarken.“
„Und ein Kotelett?“
„Sechs. Also, wie viele wollen sie jetzt kaufen?“
Martin zog sein Portemonnaie hervor. „Zwölf bitte. Zwei habe ich ja noch. Oder halt, geben sie mir doch lieber direkt sechzehn.“
„Das macht dann sechzehn Euro. Willkommen beim Tag der offenen Tür.“ Sie riss von einer Rolle die Wertmarken ab und tauschte sie gegen Martins Geld.
„Sag mal, mein Schatz“, gab ich vorsichtig zu bedenken, als wir uns zum Grill zurückbewegten, „findest du nicht auch, dass das alles ziemlich teuer ist? Vier Euro für eine einfache Bratwurst.“
„Ach Birgit“, seufzte mein Liebster. „Wann gönnen wir uns denn schon einmal etwas? Und für dich ist mir doch nichts zu teuer.“
Bisher hatte ich allerdings weder etwas getrunken, noch gegessen.
„Zweimal Bratwurst bitte“, bestellte Martin bei dem Mann, der den Grill bediente und gerade einige leicht angebrannte Bratwürste wendete.
„Willkommen am Grill beim Tag der offenen Tür unseres Modellbahnclubs“, gab der Mann von sich. „Macht acht Wertmarken.“
Martin nahm zwei Würstchen, eingewickelt in Servietten, entgegen, nachdem er die Marken abgegeben hatte. „Wo ist denn Senf?“
„Senf haben wir nicht. Ist außerdem ungesund. Wir Modellbahner legen Wert auf gesunde Ernährung.“
„Und was ist mit Brot? Oder vielleicht einem Brötchen?“
Der Mann mit der Grillzange schüttelte den Kopf und fischte mit der bloßen Hand eine Wurst vom Boden, die vom Grillgitter gerollt war. Nachdem er sie oberflächlich abgewischt hatte, legte er die Wurst auf den Grill zurück. „Brot haben wir nicht. Und Brötchen schon gar nicht. Guten Appetit.“
Martin drückte mir die einseitig ziemlich schwarze Wurst mit der Serviette in die Hand. „Lass es dir schmecken, Birgit.“ Dann hielt er mir die andere Wurst auch noch hin.
„Äh Martin, mir reicht eine vollkommen. Die musst du schon selber essen.“
„Halt mal. Du sollst sie ja nicht essen. Ich will mir nur schnell ein Bier holen. Zwei Minuten, bin sofort wieder da.“
Ich beobachtete meinen Liebsten, wie er beim Bierfassmann sein Getränk bestellte, sich kurz abwandte und den Becher in einem Zug leertrank. Meinte er wirklich, ich hätte das nicht gesehen? Schon drückte ihm der Schmächtige einen weiteren Becher in die Hand. Wohlgemerkt gegen eine entsprechende Anzahl von Wertmarken.
„So, da bin ich auch schon wieder“, grinste Martin mich an und nahm mir seine Wurst aus der Hand. Die war inzwischen kalt. Er betrachtete sie von allen Seiten und an seinen Augen erkannte ich, dass die Biere schon ihre Wirkung taten. „Die sieht richtig lecker aus“, gab er schließlich von sich, kratzte mit einem Fingernagel an der verbrannten Kruste herum und biss schließlich hinein. „Es geht doch nichts über eine Wurst vom Grill.“
Ich hatte - als mein Mann beim Bierfass war - noch ein Stück von meiner Wurst abgebissen und den Rest dann unbemerkt in einen kleinen Strauch fallen lassen. Doch das sagte ich Martin nicht, der jetzt auf der schwarzen Wurst herumkaute.
„Ich habe noch zwei Marken“, nuschelte er schließlich mit vollem Mund. „Willst du nicht doch lieber ein Bier trinken? Oder möchtest du noch eine Wurst?“
„Dazu werden die Wertmarken kaum reichen“, klärte ich ihn auf. „Aber ich möchte auch nichts mehr, danke.“
„Ich kann ja noch Marken kaufen. Man gönnt sich ja sonst nichts.“ Wenigstens hatte er jetzt die Wurst aufgegessen. Nachdem Martin sich brav den Mund mit der fettigen Serviette abgewischt hatte, ließ er sie achtlos zu Boden fallen.
„Hallo, sie da!“, klang die Stimme des Mannes vom Grill zu uns herüber. „Das heben sie aber flott wieder auf. Sie können doch nicht einfach so ihren Müll hier hinschmeißen!“
Martin sah sich um. „Wo sind denn die Mülleimer?“
„Haben wir nicht. Sie müssen ihren Müll schon mit nach Hause nehmen. Aber schmeißen sie auf keinen Fall etwas auf den Boden!“
Martin hob die Serviette wieder auf, musste aber zunächst hinter ihr herlaufen, da der Wind sie quer über den Rasen fegte. „Willst du wirklich nichts trinken, Birgit?“, fragte er mich, nachdem er wieder neben mir stand.
„Kein Bier. Frag doch mal, ob du einen Becher haben kannst, dann hole ich mir irgendwo etwas Leitungswasser.“ Nach der angekokelten Wurst hatte ich doch einen ziemlichen Durst bekommen.
Martin stiefelte erneut zum Bierfass und sprach mit dem Mann dort. Der schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, Birgit“, berichtete mein Mann schließlich. „Er darf keine leeren Becher ausgeben. Wegen der Wertmarken.“
Was ein leerer Becher nun mit den Wertmarken zu tun haben sollte, verstand ich nicht, zuckte aber mit den Achseln. „So groß ist mein Durst nun auch wieder nicht.“ Das war glatt gelogen.
„Ich gehe noch ein paar Marken kaufen. Möchtest du auch noch etwas essen?“
„Nein danke, mir reicht die köstliche Grillwurst vollkommen.“ Noch einmal wollte ich so etwas nicht essen müssen.
Diesmal folgte ich meinem Liebsten nicht, sondern wartete auf ihn. „Ich habe noch acht Wertmarken gekauft“, verkündete er stolz und hielt die Marken hoch. Für das Geld, was er hier inzwischen ausgegeben hatte, wären wir im feinsten Restaurant bestens bedient worden. „Ich hole mir jetzt ein Kotelett.“
Bevor ich Martin diese Idee ausreden oder ihn zumindest warnen konnte, stand er schon wieder beim Grill. Ob der Mann nicht bedacht hatte, dass es hier keine Mülleimer gab? Wo wollte er denn später den Knochen entsorgen? Eingewickelt in eine Serviette in seiner Jackentasche?
Selig grinsend hielt er mir schließlich die Serviette mit dem Kotelett hin. Ich wusste inzwischen, was er von mir wollte und nickte ergeben. Während Martin sein nächstes Bier bestellte, meldete sich das Teufelchen in meinem Kopf wieder. ‚Probiere doch mal‘, forderte es und ich biss ein Stück von dem Fleisch ab.
Als niemand hinsah spuckte ich das halbrohe Stück in den Busch zu dem Bratwurstrest. Eigentlich könnte man hier später auch die Knochen und die Servietten entsorgen.
Sofern niemand zusah.
Martin kam auf einem leichten Slalomkurs auf mich zu, trank beim Gehen einen Schluck aus dem Becher und schüttete einen Teil dabei auf seine Jacke. Vielleicht war es ja ganz gut, dass es hier weder Senf noch Ketchup gab, denn solche Flecken hätte ich aus der Jacke nicht mehr herausbekommen.
Wortlos nahm er mir das Kotelett aus der Hand und wollte schon hineinbeißen, als er das fehlende Stück entdeckte. „Birgit!“, gab er entsetzt von sich, „hast du das etwa gegessen?“
Mein Teufelchen beruhigte mich, indem es mir erklärte, dass ich mit einem klaren ‚Nein‘ nicht lügen würde: Ich hatte das Stück ja schließlich in den Busch gespuckt. „Nein, ich habe nichts davon gegessen. Das könnte ich schwören, Martin.“ Tat’s aber lieber nicht.
„Na das ist ja eine Sauerei“, grollte mein Gatte. „So geht das aber nicht!“
Da ich doch recht neugierig war, folgte ich ihm zum Grill, bei dem jetzt der Vater mit seinen drei Kindern stand. Offensichtlich hatten die vier doch noch der Vorführung im Keller lauschen dürfen.
„Ich will eine Wurst.“
„Ich auch.“
„Ich will ein Schaschlik!“
Der Bärtige warf einen Blick auf den Grill. „Es gibt nur Bratwurst. Bratwurst oder nichts. Wer also möchte eine Bratwurst?“
„Ich.“
„Ich.“
„Ich will ein Schaschlik.“
Die Verzweiflung in der Stimme des Vaters war nicht zu überhören. „Es gibt nur Bratwurst - oder Kotelett. Sonst nichts.“
„Hallo, entschuldigen sie“, mischte sich jetzt mein Martin ein. „Ich müsste einmal kurz mit dem Herrn dort sprechen. Lassen sie mich doch mal vor.“
„Was wollen sie?“, donnerte der Bärtige. „Können sie nicht warten, bis sie an der Reihe sind? Es ist doch immer dasselbe mit den alten Leuten. Aber jetzt haben meine Kinder Hunger und wir waren zuerst hier!“ Er wandte sich an den Mann hinter dem Grill: „Dreimal Bratwurst bitte.“
„Ich will aber ein Schaschlik.“
„Schaschlik gibt es nicht!“, brüllte der Vater. „Bratwurst und Kotelett. Verstanden?“
„Dann will ich ein Kotelett!“
„Ich auch.“
„Ich auch.“
„Jetzt gibt es Bratwurst“, bestimmte der Bärtige. „Die habe ich schon bestellt.“
„Mein Kotelett war angebissen“, ließ sich Martin vernehmen und er versuchte sich an den Kindern vorbei zum Grill zu quetschen. Da der Bärtige für eine Sekunde nicht aufpasste und sich um seine quengeligen Kinder kümmern musste, gelang es ihm sogar.
Der Grillmann hielt ihm drei Bratwürste hin. „Was soll ich denn damit?“, fragte Martin entgeistert.“
„Die haben sie doch bestellt.“
„Nein, das war nicht ich. Das war der Herr dort. Ich habe ein angebissenes Kotelett.“ Martin hielt das Stück Fleisch hoch. „Sehen sie hier.“
„Na dann guten Appetit. Macht zwölf Wertmarken.“ Der Mann hinter dem Grill zeigte sich unerbittlich.
Jetzt bemerkte der Bärtige allerdings, dass er die Poleposition am Grill verloren hatte und er kam drohend auf Martin zu. „Haben sie sich doch vorgepfuscht? Sie sollten sich schämen, den armen Kindern das Essen wegstehlen zu wollen. Außerdem haben sie doch genug!“
„Das Kotelett ist angebissen“, jammerte mein Ehemann. „So kann ich das nicht essen.“
Der Mann am Grill hielt drohend die Zange hoch. „Sie müssen doch hineinbeißen, um es zu essen. Jetzt machen sie mal Platz und lassen sie die anderen auch etwas kaufen. Und nehmen sie endlich ihre Bratwürste! Zwölf Wertmarken.“
„Ich will keine Bratwürste!“, schrie Martin.
„Ich auch nicht“, echote eines der Kinder. „Ich will ein Schaschlik.“
Offensichtlich reichte es dem Bärtigen, denn jetzt stieß er Martin rabiat zur Seite. Dessen Bier schwappte über seine Hand und den Jackenärmel und er hatte Probleme, auf den Beinen zu bleiben. Martin torkelte ein paar Schritte zur Seite und der Bärtige nahm zufrieden den Platz vor dem Grill ein. Dann griff er sich die drei Würste, die der Verkäufer immer noch in der Hand hielt.
„Zwölf Wertmarken!“
Martin kehrte zu mir wie ein geprügelter Hund zurück und er tat mir wirklich ein wenig leid. Ich war fast versucht, ihm zu erzählen, dass ich in das Fleisch gebissen hatte, doch wir beide - mein Teufelchen und ich - scheuten den Ärger, den wir dann bekommen hätten. Also schwieg ich und schaute zu, wie mein geliebter Mann in das Fleisch biss, das in der Mitte ziemlich roh war. Doch Martin schien das nicht zu bemerken. Schließlich hielt er mir den Knochen hin.
„Was soll ich damit?“, fragte ich und sah angeekelt auf die Fleischfetzen, die daran hingen.
„Entsorgen“, brummte er. „Tu den Müll in deine Tasche. Dann taugt die wenigstens zu etwas. Und jetzt komm.“ Ohne einen weiteren Kommentar wandte er sich um und ging auf die Treppe zum Kellergeschoss zu.
„Hallo, sie mit dem Bier dort“, rief plötzlich der schmächtige Mann vom Bierfass, „keine Getränke oder Speisen im Modellbahncenter. Habe ich ihnen das denn nicht schon einmal gesagt?“
Martin trank sein Bier leer und brachte den Becher zu dem Mann. Dann eilte er die Treppe hinunter. Ich hielt den Kotelettknochen immer noch in der Hand, versteckte ihn aber hinter meiner Umhängetasche, so dass der Schmächtige ihn nicht sehen konnte. Den Rollkoffer ächzend die Treppe heruntertragend, folgte ich ungehindert meinem Mann.
„Willkommen im Modellbahncenter“, vernahm ich schon im Flur die Stimme des Dicken, der Martin mit seinem Standardspruch begrüßte. Ich fragte mich, ob er sich denn nicht an uns erinnerte. „Die nächste Vorführung beginnt in einer Stunde. Bis dahin dürfen sie sich aber umschauen und wenn sie Fragen haben, können sie sich vertrauensvoll an mich wenden.“
Endlich erreichte ich ebenfalls den Raum mit der kleinen Eisenbahn.
„Willkommen im Modellbahncenter.“ Man hätte auch einen Sprachcomputer aufstellen können.
„Danke“, säuselte ich und das Teufelchen lachte. „Das ist ja herrlich hier. Haben sie das alles selber gebastelt?“
„Liebe Frau.“ Der Dicke sah mich strafend an. „Wir basteln nicht. Das ist hochwertige Modellarbeit. Wir haben endlose Stunden damit verbracht, diese wundervolle Modelllandschaft zu kreieren.“
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Martin gegen die Tennisplatte torkelte und ein paar Bäume umknickte, als er sich darauf abstützte. Gut, dass der Dicke sich um mich kümmerte. Dafür lief mein Teufelchen jetzt zur Hochform auf. „Können sie denn auch mal einen fahren lassen?“
Der Dicke blickte mich entsetzt an.
„Einen Zug, meine ich.“
„Aber natürlich, gerne. Passen sie auf.“ Er drehte an dem Traforegler herum und wirklich setzte sich der Zug, der vorhin noch entgleist war, in Bewegung. Rasch näherte ich mich meinem Gatten, dessen eine Hand auf den Schienen lag und zog ihn von der Platte fort. Nicht, dass der Gute noch von dem Zug überrollt wurde.
Der dicke Eisenbahner hinter dem Steuerpult war nun voll und ganz damit beschäftigt, den Zug zu steuern und als die Lok mit den Waggons an uns vorbeifuhr, gelang es mir unbemerkt den Knochen auf einen offenen Güterwagen zu legen. Wenigstens wurde jetzt auch etwas transportiert. Der Dicke hatte es nicht bemerkt.
„Boah ist das langweilig“, meckerte Martin und seine Sprache klang ein wenig undeutlich. „Können sie nicht schneller fahren?“
„Das hier ist keine Rennbahn“, gab der Mann pikiert zurück. „Außerdem kann der Zug entgleisen, wenn er zu schnell fährt. Da darf man die Gesetzmäßigkeiten der Schwerkraft einfach nicht außer Acht lassen.“ Er tat ziemlich wichtig und drehte den Regler hin und her. Der Zug fuhr mal schneller und mal langsamer, doch das Teufelchen und mich freute, dass ich den Knochen so gut platziert hatte, dass er nicht vom Wagen fiel.
„Gehen wir, Birgit“, gab Martin plötzlich von sich. „Hier ist ja gar keine Action drin.“
„Willst du nicht doch noch ein paar Fotos machen?“ Schließlich schleppte ich diese dämliche Fotoausrüstung doch nicht umsonst die ganze Zeit mit mir herum.
„Fotos? Ach so, ja.“ Martin hob die Kamera hoch.
„Hallo? Entschuldigen sie, aber hier ist fotografieren verboten. Sehen sie denn nicht das Schild dort?“ Der Dicke hatte den Zug außerhalb unserer Sichtweite gestoppt und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Offensichtlich musste das Steuern eines Modellbahnzuges sehr anstrengend sein. „Sie können aber bei mir Fotografien der Bahn käuflich erwerben. Vier Wertmarken pro Bild.“
„Nein danke“, knurrte mein Mann. „Ich mache immer meine eigenen Fotos. Ich bin Profi, wissen sie.“
„Das ist schön für sie, doch auch Profis dürfen hier nicht fotografieren. Wir haben unsere eigenen Bilder.“ Der Dicke wies mit dem Zeigefinger auf das handgemalte Schild an der Wand. „Sehen sie, da hängt das Schild.“
„Ein schönes Schild“, stichelte mein Teufelchen. „Darf man das wenigstens fotografieren?“
„Das Schild?“ Der Dicke merkte nicht, dass wir uns einen Scherz erlaubten. „Ja, davon haben wir keine Bilder zu verkaufen.“ Er überlegte eine Weile, dann nickte er. „Meinetwegen, das Schild dürfen sie fotografieren. Aber mehr auch nicht.“
„Und was ist mit dem Trafo?“ Das Teufelchen in mir war nicht mehr zu halten. „Darf man den vielleicht auch fotografieren?“
„Nein, auf keinen Fall.“ Der dicke Modellbahnmann war entsetzt. „Das ist die Steuereinheit der Modellbahn. Die gehört zur Modellbahn.“
„Dann können sie uns ein Foto davon verkaufen?“ Ich war nicht mehr zu halten.
„N...ein. Davon haben wir auch keine Fotos.“
„Aber gerade von so einem wichtigen Teil müssen doch Fotos vorhanden sein. Also darf mein Mann den Trafo nun fotografieren?“
„Na gut. Aber das nächste Mal haben wir selbst Bilder davon.“ Der Dicke gab sich geschlagen.
Ich sah Martin an. „Nun mach schon, du hörst doch, was der nette Mann sagt. Mach ein paar Fotos!“
Mein Gatte nickte ergeben, hob die Kamera und fertigte ein paar Bilder des Verbotsschildes an der Wand an. Dann schwankte er zu dem Transformator, schob den Dicken zur Seite und knipste auch das Gerät. „Ich brauche noch eine Aufnahme mit dem Regler in einer anderen Stellung“, nuschelte er und bevor der Dicke noch reagieren konnte, drehte er den Regler voll auf.
Der Zug schoss hervor, geriet in einer Kurve, die sich in der hintersten Ecke der Bahn befand, ins Trudeln und sprang knirschend und scheppernd aus den Schienen. Ich zog mich langsam zur Tür zurück.
„Oh Gott, oh Gott, was haben sie getan?“ Der dicke Mann schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Der Zug ist entgleist! Was soll nun aus meiner nächsten Vorführung werden?“
Nun, das hatten wir auch gesehen und als der Dicke meinen Martin zur Tür schob, wusste ich, dass wir uns diese ‚Vorführung‘ auf keinen Fall mehr ansehen würden.
Minuten später standen wir wieder im Garten.
„Gehen wir nach Hause, Martin“, schlug ich vor. Für heute war mein Bedarf an Modellbahnromantik gedeckt.
Mein Göttergatte blickte mich aus treuen Augen an. „Vielleicht noch ein letztes Bier, Birgit? Es ist doch so gemütlich hier.“
Als der Regen wieder einsetzte, schüttelte ich den Kopf. „Du kannst dein Bier auch zu Hause trinken. Und vielleicht läuft ja im Fernsehen noch eine Sendung über diese Modellbahn in Hamburg. Die könnten wir uns zusammen anschauen.“
Doch Martin winkte ab, spannte meinen Regenschirm auf und meinte lediglich: „So einen Kinderkram? Vielleicht läuft ja Fußball, das ist eher etwas für richtige Männer!“
Ende