Читать книгу Das Kestel Psychogramm - Jürgen Ruhr - Страница 10
6. Vor 28 Jahren
ОглавлениеTobias Kestel lag im Bett und hielt die Augen fest geschlossen. Aufgeregtes Stimmengewirr drang aus den unteren Räumen zu ihm hoch. Er hasste diesen Tag, bevor der überhaupt begonnen hatte.
Heute ging seine Schwester zur Erstkommunion. Ein Fest, auf das die gesamte Familie nun schon seit Monaten gespannt wartete. Na ja, fast die gesamte Familie. Denn er, Tobias, wartete keineswegs auf diesen Tag. Und er freute sich auch nicht.
Der ganze Monat April war regnerisch und kalt gewesen. Nur ausgerechnet heute drangen die ersten Strahlen einer frühen Sonne durch sein Fenster und kitzelten ihn an der Nase. Tobias zog sich die Bettdecke über das Gesicht. Vielleicht könnte er einfach so liegenbleiben, sich nicht rühren und vom Rest der Familie vergessen werden.
Im März war er zehn Jahre alt geworden und niemand nahm wirklich Notiz davon. Seine Mutter gratulierte ihm an dem Tag, es war ein Donnerstag und somit ein ganz gewöhnlicher Schultag gewesen, beim Frühstück kurz und überreichte ihm dann recht lieblos sein Geschenk. Seine Schwester erinnerte sich erst daran, ihm zu gratulieren, als sie das Geschenk sah. Als Tobias mittags aus der Schule kam, war von seinem Geburtstag keine Rede mehr und es wurde ein ganz gewöhnlicher Wochentag. Ohne Kuchen, ohne Feier und ohne Gäste. Nachdem er seine Schulaufgaben gemacht hatte, nahm sich Tobias seinen Fußball und ging auf einen nahegelegenen Bolzplatz, um mit einigen Mitschülern zu kicken. Aber er wurde in keine Mannschaft gewählt und schließlich spielte er am Rand des Platzes alleine vor sich hin. Erst als er den kleinen Vogel entdeckte, der nicht mehr so recht fliegen konnte, wurde es doch noch ein entspannter und schöner Nachmittag. Er hatte zuvor noch nie einem lebenden Vogel die Federn ausgerissen ...
Heute aber fand der große Tag seiner Schwester statt, der auch gebührend gefeiert werden sollte. Vor zwei Jahren ging Tobias zu seiner ersten Heiligen Kommunion und es war ein mäßig schöner Tag mit vielen Verwandten gewesen. Doch so einen Aufwand, wie bei seiner Schwester heute, hatten die Eltern nicht betrieben. Das Mittagessen gab es damals zu Hause und die Verwandten erschienen lediglich zum Kaffeetrinken und Kuchenessen. Und um ihn, Tobias, kümmerte sich ja dann auch niemand mehr ...
Heute aber würden sie nach der Kirche alle zusammen in ein piekfeines Restaurant gehen und anschließend mit all den Gästen daheim noch bei Kaffee und Kuchen weiterfeiern. Seine Eltern scheuten keine Kosten und Mühen.
Tobias drehte sich auf den Bauch und zog die Decke noch ein wenig weiter über seinen Kopf, als er seinen Namen hörte. Warum ließen sie ihn nicht einfach in Ruhe?
Die Bettdecke wurde fortgerissen und eine Hand klatschte auf seinen Po. „Verdammt, wirst du endlich aufstehen?“, hörte er seine Mutter brüllen. „Deinetwegen werden wir auf keinen Fall zu spät kommen. Du ziehst dich jetzt sofort an, sonst schicke ich dir den Papa!“
Darauf wollte der Junge es auf keinen Fall ankommen lassen, denn das bedeutete wieder Schläge mit dem Lederriemen. Und dann könnte er den ganzen Tag nicht sitzen vor Schmerzen. Missmutig kletterte er aus dem Bett. An diesem Tag sollte er seinen Anzug anziehen, den einzigen, den er besaß, und er hasste ihn wie die Pest. Mutter hatte den Anzug aus Cord im Spätsommer vergangenen Jahres günstig in einem Second-Hand Laden erstanden. Tobias sollte ihn damals zu der Beerdigung seiner Großmutter tragen. Leider bekamen sie keinen Anzug in blau, sondern lediglich in grün, doch seine Mutter nickte zufrieden, als die Größe stimmte. Inzwischen war Tobias wieder etwas gewachsen und die Hosenbeine, sowie die Ärmel waren zu kurz. Und zuknöpfen ließ sich die Jacke auch nicht mehr. Tobias kam sich in der Kleidung lächerlich und dumm vor.
Er betrat die Küche, als seine Mutter gerade sein Frühstück forträumte. „Tobias, Tobias“, tadelte sie, „jetzt ist es zu spät, noch etwas zu essen. Du musst einfach aufhören so zu trödeln. Vater holt schon den Wagen, er wird in wenigen Minuten hier sein.“
„Wo sind denn alle?“, fragte Tobias und schaute, ob nicht wenigsten noch etwas Obst in der Schale lag. Doch da war nichts mehr. Ob er ein Stück Brot haben könnte?
„Wer alle?“
„Na, Papa und Mia. Und die Gäste.“
Seine Mutter haute mit der flachen Hand auf den Tisch. „Hörst du eigentlich nie zu, wenn man dir etwas sagt? Vater ist den Wagen holen. Mia begleitet ihn. Und dass wir die Verwandten vor der Kirche treffen, haben wir schon vor Tagen erzählt. Bist du eigentlich blöd, Junge?“ Sie wartete keine Antwort ab, sondern eilte in die Diele, um sich einen Mantel überzuziehen. Trotz der Sonne war es noch recht kühl draußen.
Eine Minute später hupte es auf der Straße. „Los jetzt, sonst kommen wir noch zu spät!“ Seine Mutter schob ihn durch die Haustür und verschloss sie sorgfältig.
„Da ist ja unser Langschläfer“, begrüßte ihn sein Vater. „Anschnallen Tobias, los mach schon!“
Stefanie thronte in ihrem weißen Kommunionskleid wie eine kleine Prinzessin auf dem Rücksitz. Stolz hielt sie eine Kerze, auf der ein kleines Bild, sowie ihr Name zu sehen war, in der Hand. Tobias blickte neidisch auf das kunstvoll verzierte Stück und musste daran denken, dass er damals nur eine unscheinbare, weiße Kerze bekommen hatte. Nicht einmal sein Name stand darauf, geschweige denn solch ein schönes Bild, wie es auf der Kerze seiner Schwester zu sehen war.
Ihre Verwandten standen schon im Pulk vor der Kirche. Diesmal waren selbst die Eltern seines Vaters gekommen, die weit entfernt in einer anderen Stadt wohnten. Bei seiner Kommunion konnten sie angeblich aus gesundheitlichen Gründen nicht dabei sein. Dafür fehlte die Oma, die im letzten Jahr gestorben war und der Opa, der Vater seiner Mutter, stand verloren mit dem traurigen Gesicht, das er seit dem Tod seiner Frau trug, neben den anderen. Er blickte zu Boden und beteiligte sich an keinen Gesprächen. Die Tante, Mutters Schwester, stand lachend da, als der Onkel die kleine Mia hochhob, durch die Luft schwenkte und rief: „Da ist ja unser Sonnenschein. Du bist aber groß geworden. Und so hübsch, so hübsch ...“
Mutter lachte: „Lass das Kind runter, du machst sie ja ganz verrückt. Gleich kann sie sich nicht mehr auf die Messe konzentrieren. Ihr solltet euch endlich einmal selbst Kinder anschaffen.“
Der Onkel stellte Stefanie vorsichtig auf den Boden und meinte: „Lieber nicht. Für uns ist der Zug abgefahren. Außerdem weiß man ja nie, was dabei herauskommt.“ Er warf einen Seitenblick auf Tobias, den der Junge wohl nicht bemerken sollte. Tobias tat so, als würde er die Kirche interessiert mustern. „Jedenfalls haben deine Eltern noch eine ganz, ganz, ganz tolle Überraschung für dich, die wir mitbringen durften“, zwinkerte er Stefanie zu und erntete einen Knuff in die Seite.
„Wehe du verrätst etwas“, warnte ihn Mutter lächelnd. „Verdirb uns nicht die Überraschung.“
Der Onkel hob die Hand wie zum Schwur und sagte ernst: „Auf keinen Fall. Das würde ich niemals machen.“
„Was ist es? Bitte sag es, bitte, bitte“, bettelte Stefanie und zog den Onkel am Ärmel. Doch der schüttelte nur den Kopf: „Nachher, Liebes. Nach der Kirche erhältst du zu Hause alle deine Geschenke.“
„Im Restaurant“, korrigierte Tobias Mutter. „Wir treffen uns doch nach der Kirche zum Essen. Es ist alles vorbereitet. Die haben mir sogar zugesagt, dass sie extra einen Tisch für die Geschenke bereitstellen werden.“
Der Onkel schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und grinste: „Das hatte ich ja ganz vergessen. Ich habe aber jetzt schon einen mächtigen Hunger. Hoffentlich zieht der Pope die Sache zügig durch!“
„Hendrick“, rügte Tobias Mutter mit gespieltem Ernst, „hüte deine Zunge! Die Kommunion ist schon eine wichtige Angelegenheit, auch wenn du eher zu den Ungläubigen zählst.“
„Ja genau“, entgegnete der Onkel lachend, „und du bist die Jungfrau Maria selbst. Obwohl, naja Jungfrau ka...“
„Hendrick!“
In diesem Moment setzten sich die Leute vor der Kirche in Bewegung und jeder versuchte als Erster in das Gotteshaus zu kommen, worauf es am Eingang ein ziemliches Gedränge gab. Stefanie wurde derweil von einer Kirchenmitarbeiterin in Empfang genommen, die Kommunionskinder sollten alle gemeinsam zur Messe gehen.
Von der Messe selbst bekam Tobias nicht viel mit. Sein Magen knurrte und schmerzte vor Hunger, schließlich hatte er seit gestern Abend nichts mehr gegessen. Er tröstete sich damit, dass sie ja bald in das Restaurant gehen würden und er dann etwas zu essen bekam. Seine Eltern hatten nur Augen für ihre Tochter und aus ihrem Blick sprachen Stolz und Freude. Sie alle waren keine großen Kirchgänger, eigentlich gingen sie nie in irgendeine Messe und selbst mit seinen zehn Jahren spürte der Junge, dass all die Menschen in ihrer Beziehung zum Glauben viel Heuchelei zeigten.
Im Restaurant wurde seine Schwester wie eine Prinzessin empfangen. Der Oberkellner selbst geleitete sie zu ihrem Stuhl, und der Teller auf dem Tisch war rundherum mit bunten Blumen geschmückt. Hinter ihrem Platz, in einer Ecke, stand ein leerer Tisch, auf dem später die Geschenke abgelegt werden sollten. Nachdem alle Gäste ihre Plätze eingenommen hatten, überreichte der Oberkellner dem Kommunionskind ein in buntes Papier eingepackte Geschenk. Stefanie strahlte vor Glück.
Zwei Kellnerinnen brachten die Getränke und natürlich bedienten sie das Mädchen zuerst. Stefanie stand im Mittelpunkt und genoss es sichtlich. Schließlich erhob sich ihr Vater und klopfte mit einem Messer an sein Glas. Stille trat ein und er räusperte sich.
„Liebe Steffi, liebe Gäste!“, begann er seine Rede. „Heute ist ein großer Tag für unsere Familie und ich freue mich, ihn mit euch zusammen begehen zu dürfen. Für unseren kleinen Sonnenschein beginnt nun ein neuer, aufregender Lebensabschnitt, unsere Steffi wird langsam erwachsen und zu einer kleinen Dame.“
Tobias langweilte sich. Er hatte Hunger und diese lange Rede zögerte das Essen nur weiter hinaus. Der Junge dachte an seine Kommunionsfeier. Sein Vater hatte damals auch etwas gesagt, keine Rede gehalten, sondern ihn lediglich ermahnt, dass jetzt für ihn ‚der Ernst des Lebens‘ beginnen würde. Ein Spruch, den er schon von seiner Einschulung her kannte und den er bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit zu hören bekam.
Tobias hörte seinem Vater kaum mehr zu. Nur als dieser von den ‚hervorragenden schulischen Leistungen‘ seiner Tochter sprach, horchte er kurz auf. Stefanie war höchstens Durchschnitt in der Schule, aber für seinen Vater schien sie so eine Art Wunderkind zu sein. Endlich endete die Rede und alle klatschten begeistert in die Hände. Sein Vater verbeugte sich lächelnd und nahm wieder Platz. Tobias ignorierte das Brennen in seinem Magen, würde er doch jetzt endlich etwas zu essen bekommen.
Doch da hatte er sich zu früh gefreut. Zunächst erhielt seine Schwester ihre Geschenke und Onkel Hendrick wollte der erste sein und drängte sich vor. Tobias bemerkte voll Schadenfreude den ärgerlichen Gesichtsausdruck seines Vaters. Eigentlich sollten die Eltern die ersten sein, von denen Stefanie ihre Geschenke erhielt. Der Onkel hielt seiner Schwester ein kleines Päckchen hin. „Aufmachen, aufmachen“, skandierte er und stand grinsend neben dem kleinen Mädchen.
„Wo ist denn unser Geschenk?“, fragte sein Vater. „Das sollte sie aber zuerst bekommen!“
Der Onkel nickte: „Im Auto. Ich hole es sofort. Jetzt soll unsere kleine Prinzessin aber erst einmal ihr Geschenk auspacken!“
Hastig riss Stefanie das Papier auseinander und eine kleine, blaue Schachtel kam zum Vorschein. Der Onkel, dem das offensichtlich nicht schnell genug ging, nahm das Päckchen an sich und klappte es auf. Dann hielt er das Geschenk hoch, so dass alle den Inhalt erkennen konnten. Ein kleiner silberner Ring mit einem wunderschönen Stein darauf lag auf rotem Samt in dem kleinen Kästchen. Der Onkel verkündete stolz: „Das ist ein echter Diamantring von einem halben Karat! Wir haben keine Kosten und Mühen gescheut, damit dir, liebe Steffi, der heutige Tag in guter Erinnerung bleibt. Und jetzt gib mir deine Hand, damit ich dir den wertvollen Ring anstecken kann.“
Tobias empfand einen Stich in seinem Inneren. Er hatte zwar keinerlei Idee, was ein ‚halber Karat‘ war, aber die bewundernden Blicke der anderen sagten ihm, dass dieser Ring sehr wertvoll sein musste. Er empfand Neid und dachte daran, dass das Wertvollste, was ihm der Onkel bisher geschenkt hatte, sein Taschenmesser war. Tobias trug es immer bei sich und jetzt wanderte seine Hand in die Tasche und umfasste das kühle Metall. Dieses Messer hatte ihm schon viel Freude geschenkt! Das hässliche Gefühl des Neides ließ etwas nach und er wurde ruhiger.
Der Onkel verließ den Raum und kehrte kurze Zeit später mit einem grauen Plastikkasten zurück, an dem vorne eine Gittertüre angebracht war. Tobias konnte nicht erkennen, was sich in dem Kasten befand, so sehr er auch seinen Hals reckte. Er sah nur, dass etwas auf den Boden tropfte und eine feuchte Spur hinterließ. Der Onkel gab seinem Vater den Kasten und jetzt erhob sich auch seine Mutter von ihrem Platz und beide traten gemeinsam zu Stefanie.
„Liebe Steffi“, hob sein Vater zu sprechen an und Tobias stöhnte innerlich auf. Würde er jetzt wieder eine Rede halten? Das hatte gerade noch gefehlt! „Dein neuer Lebensabschnitt bedeutet auch das Übernehmen von Verantwortung. Verantwortung, die du dir schon lange gewünscht hast und deine Mutter und ich freuen uns, dir diesen Wunsch nun endlich erfüllen zu dürfen.“
Er öffnete die Tür des Kastens, griff hinein und zog ein kleines, braunes Bündel hervor, das er seiner Tochter in den Arm legte. Stefanie traten vor Freude die Tränen in die Augen. „Ein Hund, ein echter Hund“, lächelte sie glücklich und streichelte über das weiche Fell.
„Das ist ein Beagle“, erklärte jetzt die Mutter und der Vater fügte hinzu: „Das will jedenfalls mal einer werden. Und du, kleine Prinzessin, darfst dem Hundewelpen einen Namen geben! Der kleine Kerl gehört jetzt dir alleine.“
Stefanie setzte den Hund auf den Tisch neben ihren Teller und eine Gabel fiel klirrend zu Boden. Sie sprang auf und umarmte ihren Vater stürmisch. „Du bist der beste Papa der Welt!“ Dann nahm sie die Mutter in den Arm. „Und du bist die beste Mama der Welt! Ihr alle beide seid die besten der Welt.“
Jetzt traten die Eltern seines Vaters hinzu und der Opa hielt ein dünnes, blaues Buch hoch. „Dies, liebe Steffi, ist ein Sparbuch. Von der Post. Es möge den Grundstein für deine Zukunft legen. Oma und ich haben lange gespart und sage und schreibe zehntausend D-Mark darauf eingezahlt. Spare in der Zeit und du hast in der Not! Deine liebe Oma und ich wünschen dir von ganzem Herzen alles, alles Gute für die Zukunft.“
Tobias trat Tränen in die Augen, die er rasch fortwischte. Ihm hatten die Großeltern zu seiner Kommunion nicht einmal eine Karte geschickt.
Stefanie nahm das Buch entgegen, hörte dem Opa aber kaum zu, da sie ununterbrochen mit dem kleinen Hund schmuste. Tobias stellte mit Genugtuung fest, dass sich auf dem weißen Kleid seiner Schwester ein gelber Fleck ausbreitete. Aber außer ihm schien das niemandem aufzufallen.
Endlich wurde das Essen serviert. Ein Kellner wischte die Spur auf, die der Hund beim Hereintragen hinterlassen hatte und Stefanie bekam einen neuen Teller und neues Besteck, da der Hund alles verschmutzt hatte. Während des Essens behielt seine Schwester das Tier auf dem Schoß. Die Geschenke landeten auf dem dafür vorgesehenen Tisch und einige weitere Pakete, die noch nicht geöffnet waren, kamen hinzu.
Das Essen begann mit einer Vorspeise, die aus Baguette, Obst und irgendwelchen roten Scheiben bestand, die Tobias nicht kannte. Dazu gab es kleine Schälchen mit einer weißen Paste. Tobias beobachtete die anderen verstohlen, um zu sehen, wie sie mit dem für ihn unbekannten Essen umgingen. Dann strich er die Paste ebenfalls auf die roten Scheiben, so wie er es bei dem Onkel sah. Die Tante und seine Mutter nahmen etwas auf ihr Brot und aßen die roten Scheiben mit sichtlichem Genuss ohne Pastenaufstrich.
Tobias Magen knurrte und der Junge stopfte sich die Scheiben und das Brot rasch in den Mund. Ein fürchterlich scharfer Geschmack breitete sich in Mund und Rachen aus. Die Scheiben schmeckten merkwürdig nach Fisch und Tobias hätte sie am Liebsten wieder auf den Teller zurückgespuckt. Es war einfach nur ekelhaft. Doch ausspucken kam nicht in Frage, denn dann hätte er sich garantiert den Zorn seiner Eltern zugezogen. Stefanie kaute derweil an irgendwelchem Obst, sie hatte keine so widerlichen roten Scheiben auf ihrem Teller.
„Hervorragender Lachs“, hörte er seinen Onkel sagen. „Eine sehr gute Wahl, Manfred!“
„Danke nicht mir“, erwiderte sein Vater mit vollem Mund. „Das Essen hat Birgit ausgesucht. Du wirst Augen machen, was es als Hauptspeise gibt!“
Tobias versuchte die Scheiben, die sein Onkel ‚Lachs‘ nannte, ohne zu kauen herunterzuschlucken. Sein Mund brannte höllisch und er sehnte sich danach, etwas zu trinken. Doch der Lachs rutschte einfach nicht und plötzlich rebellierte sein hungriger Magen. Tobias erbrach sich würgend auf den Boden.
„Verdammt Junge“, brüllte sein Vater. „Was ist bloß mit dir los? Du benimmst dich wie ein Schwein!“
Alle Augen richteten sich auf den Jungen und die Eltern seines Vaters schüttelten vorwurfsvoll den Kopf. Eine Kellnerin eilte mit einem Eimer Wasser und einem Lappen herbei.
„Das wird er selber aufwischen“, wies sein Vater die Frau an. „Er hat die Sauerei ja schließlich auch verursacht.“ Achselzuckend drückte die Kellnerin Tobias den Lappen in die Hand und stellte den Eimer auf den Boden.
„Los, du wischt das jetzt sofort auf!“ Sein Vater erhob sich drohend von seinem Stuhl.
„Das ist ja ekelhaft“, gab die Oma mit vollem Mund von sich, aß aber ungerührt weiter.
„Ja“, nickte der Opa väterlicherseits, „so ein Kind kann einem den schönsten Tag verderben. Was hat der Junge bloß? Macht der das extra? Früher hätten wir sowas in ein Erziehungsheim gesteckt!“
Während Tobias den Boden aufwischte, liefen ihm die Tränen an den Wangen herunter. Zum Glück sah es niemand und verstohlen wischte er sich über die Augen.
„Ich glaube, du brauchst ein wenig frische Luft, Tobias.“ Sein Vater zeigte auf den Eingang des Restaurants. „Du wartest draußen auf uns, hast du mich verstanden?“
Tobias nickte und schlich mit gesenktem Kopf aus dem Lokal.
Das Restaurant lag ein wenig abseits in der Nähe eines kleinen Wäldchens. Tobias wanderte ziellos über den Parkplatz und folgte schließlich einem schmalen Weg in den Wald. Der Hunger brannte in seinem Magen und die Ungerechtigkeit der Behandlung durch seine Eltern pochte in seinem Kopf. Wut, Resignation und Angst vor dem Ledergürtel des Vaters, den er mit Sicherheit zu Hause zu spüren bekommen würde, tobten in seinem Körper und unterdrückten jeden klaren Gedanken. Er müsste einfach weglaufen. Irgendwohin. Oder besser noch wäre es, wenn er tot wäre. Niemand würde ihn vermissen. Tobias spürte das Schweizer Taschenmesser. Ob er sich damit das Herz herausschneiden konnte? Aller Angst und allem Ärger ein Ende bereiten?
Der Junge folgte dem schmalen Pfad und stellte sich vor, einfach hier im Wald zu bleiben. Hier zu leben, sich eine Höhle bauen, wie sie bis vor kurzem noch auf dem verwilderten Grundstück hinter ihrem Haus gestanden hatte. Doch dann war dort ein schmuckes kleines Haus gebaut worden und ein hoher Zaun grenzte das Grundstück gegen die Nachbarn ab.
Plötzlich endete der Wald und er stand vor einer großen Wiese, die ein hölzerner Weidezaun umgab. Der schmale Weg führte jetzt zwischen Wald und Wiese in zwei verschiedene Richtungen, doch Tobias interessierte sich nicht für den Pfad.
Fasziniert betrachtete er mehrere Schafe, die in der Sonne dösten. Es war still hier und der Junge konnte keine Menschenseele entdecken. Ihm fröstelte, die Strahlen wärmten noch nicht wirklich und er zog die Jacke enger um seinen Körper. Leider ließ sie sich nicht schließen und mit dem dünnen Hemd, das er trug, war der Aufenthalt im Freien ziemlich unangenehm.
Ein Schaf bemerkte ihn und trabte träge heran. Ein kleines Lämmchen folgte dem Schaf und blökte dabei leise. Tobias überkletterte vorsichtig den niedrigen Zaun. Er befürchtete, das Tier zu vertreiben, doch es kam weiter auf ihn zu. Der Junge rupfte einige Grasbüschel aus und hielt sie mit ausgestrecktem Arm hin. Das Schaf blieb ein Stück vor ihm stehen und betrachtete ihn neugierig. Jetzt holte auch das kleine Lamm auf, gesellte sich zu seiner Mutter und blickte ihn ebenfalls an. Tobias trat vorsichtig einen Schritt vor und hielt den Tieren das Gras hin. Schließlich näherte er sich soweit, dass er dem Lamm die Büschel vor die Nase halten konnte. Die Tiere zeigten keine Scheu und blickten weiter neugierig auf den ungebetenen Gast.
Plötzlich ließ Tobias das Gras fallen und griff dem Lamm in das weiche Fell im Nacken. Mutter und Kind blökten erschrocken auf und das Schaf machte einen Satz nach hinten. Ängstlich schaute sie nun auf ihr Kind, das Tobias fest im Griff hielt. Das Lamm wand sich und wollte fortlaufen, doch der Junge war stärker und hielt es eisern mit einer Hand fest.
Inzwischen hatte er einige Übung darin, den Korkenzieher aus seinem Schweizer Taschenmesser mit einer Hand und den Zähnen herauszuklappen. Mutter und Kind blökten ängstlich und Tobias überkam ein Gefühl der Ruhe. Als er die Spitze der Metallspirale in das linke Auge des Lamms drückte, blökte das in Todesangst und vor Schmerzen laut auf. Die Mutter stand unschlüssig da und musste mitansehen, wie der kleine Mensch ihr Kind misshandelte.
Tobias überkam wieder dieses Glücksgefühl, das er schon kannte und so sehr liebte. Plötzlich wurde das Tier in seiner Hand schlaff, aber er wusste, dass es nur ohnmächtig und noch nicht tot war. Seelenruhig und leise vor sich hinlächelnd nahm er sich das andere Auge vor. Dann zog er das Tier an den Hinterbeinen zum Zaun zurück. Mit einer Kraftanstrengung, die er sich eigentlich nicht zugetraut hätte, hievte er den schlaffen Körper über den Zaun und kletterte rasch hinterher.
Jetzt hatte die Mutter sich von ihrem Schreck erholt und rannte auf den Zaun zu. Mit voller Wucht und in ohnmächtiger Sorge um ihr Kind rannte sie gegen das Holz. Doch dafür hatte Tobias keinen Blick mehr. In seinen Ohren klang das ängstliche Blöken wie das schönste Lied, das er seit langem gehört hatte. Langsam zog er seine Beute in den Schutz des Waldes.
Das Lämmchen war immer noch ohnmächtig und hinter einem Busch verborgen, versuchte Tobias ihm mit dem Messer ein Ohr abzuschneiden. Doch die kleine Klinge war nicht scharf genug und er mühte sich umsonst ab. Wütend über seine unnützen Versuche stieß er die Klinge schließlich immer wieder und wieder in den kleinen warmen Körper. Blut spritze, floss ihm über seine Hände und hinterließ auf der grünen Cordhose dunkle Flecken. Tobias war es egal. Das geschah diesem Scheißanzug recht! Tiefe Befriedigung bemächtigte sich seiner und wie in einem wilden Wahn stieß er immer wieder zu. Das weiße Fell war jetzt rot vor Blut und der Anblick berauschte den Jungen noch mehr. Schließlich versuchte er den Bauch des Tieres aufzuschlitzen, doch auch dazu taugte das Messer nicht. Tobias verfluchte seinen Onkel, der ihm solch ein unnützes Werkzeug geschenkt hatte.
Irgendwann wischte sich der Junge die blutigen Hände an Blättern und Gras ab. Die Flecken auf seiner Hose trockneten rasch und erinnerten ihn ein wenig an den Rost, der am Geländer ihrer Kellertreppe zu finden war. Zufrieden und glücklich ließ er das verstümmelte Tier hinter dem Busch zurück und wanderte auf dem Pfad zum Parkplatz zurück. Ein Lied, das ihm seine Mutter früher oft vorgesungen hatte, kam ihm in den Sinn und er summte die Melodie von ‚Eine Muh, eine Mäh‘ fröhlich vor sich hin.